Mendel Schie

Mendel Schie wurde 1780 als eines von sechs Kindern des einflussreichen und vermögenden Dresdner Händlers, Schächters, Fleischhauers und Gouvernement-Judenbestellers Jacob Löbel Schie und dessen Ehefrau Haya geboren. In der Phase von Emanzipation und Verbürgerlichung zählte Schie zu den ersten Dresdner Juden, denen es gelang, ihre Stellung als erfolgreiche Unternehmer und Stadtbürger mit einem sich streng an die Regel haltenden, gleichwohl aber auch reformorientierten jüdischen Selbstverständnis in Einklang zu bringen. Sein Lebensweg steht mustergültig für die Transformation der Dresdner Gemeindeeliten des 18. Jahrhunderts sowie deren Aufstieg ins städtische Großbürgertum und in die lokale Wirtschaftselite in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als langjähriger Ältester der Dresdner Judenschaft beeinflusste Schie erheblich die innerjüdischen Reformprozesse, die sich in der Phase der Debatten um die rechtliche Gleichstellung der sächsischen Jüdinnen und Juden ab den 1820er-Jahren nochmals intensivierten. – Kaum etwas ist bislang über Schies Kindheit und Jugend bekannt. Vermutlich erhielt er neben einer Einführung in die Grundlagen der jüdischen Religion bereits früh Unterricht in allgemeinen Fächern und der deutschen Sprache durch Privatlehrer, was eine wichtige Voraussetzung für seinen Aufstieg ins Dresdner Wirtschafts- und Bildungsbürgertum bildete. Ursprünglich sollte Schie offenbar seinem Vater im Amt des Dresdner Judenbestellers nachfolgen. Allerdings scheiterte 1801 seine Ernennung zum Gehilfen des Vaters an den amtierenden Ältesten der jüdischen Gemeinde, die ihn als zu jung und zu wenig jüdisch gelehrt betrachteten. Zudem warfen sie ihm vor, keine ausreichenden Kenntnisse des Hebräischen zu besitzen, die er aber für das Dolmetschen zwischen Juden und Nichtjuden benötigen würde. – Dass Schie sich gleichwohl bereits in jungen Jahren in der zeitweise auf über 1.000 Personen angewachsenen Dresdner Judenschaft engagierte und sich dabei trotz einer konservativen religiösen Grundhaltung auch an Reformen althergebrachter Kultuseinrichtungen interessiert zeigte, belegt seine Mitgliedschaft in der 1788 gebildeten Gesellschaft der ausübenden Wohltätigkeit. Dieser gehörten unverheiratete jüdische Männer an, die arme und kranke Mitbrüder unterstützten. Die Gesellschaft geriet um 1800 in Konkurrenz zu der bereits seit 1750 bestehenden Israelitischen Krankenverpflegungsgesellschaft. Dass Schie wenige Jahre später für das Pessachfest die Verwaltung des Mehls für die Matzot innehatte und sich für eine gerechte Verteilung desselben unter allen Gemeindemitgliedern eingesetzt haben soll, belegt seinen in dieser Zeit wachsenden Einfluss innerhalb der Dresdner Judenschaft. – 1813 wurde Schie in der Endphase der Napoleonischen Kriege zum Gemeindeältesten bestellt und behielt dieses Amt bis zu seinem freiwilligen Rücktritt 1837. Als Vorsteher fungierte er später auch noch für die Beerdigungsbruderschaft (ab 1845) und den Gevatternverein, der mittellose Bräute bei ihrer Ausstattung für eine Eheschließung unterstützte. – Das Schie von der jüdischen Gemeinde entgegengebrachte Vertrauen zeigt sich auch darin, dass er das Ehrenamt des Mohels (Beschneider) versah, das er mit Ausnahmegenehmigung auch dann noch fortführen durfte, als die Behörden 1844 eine Legitimierung der Beschneider durch den Stadtwundarzt einforderten. Zudem war er Vorstandsmitglied des reformorientierten, interkonfessionellen Mendelssohn-Vereins, der 1829 zur Förderung der Ausbildung jüdischer Jugendlicher in Dresden gegründet worden war. Er subskribierte Reformpredigten und -schriften, die deutsch-jüdische Zeitschrift „Jedidja“ und galt als eifriger Leser der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“. – Der nicht unerhebliche Einfluss Schies auf die Entwicklungen innerhalb der Dresdner Judenschaft gründete sich auch auf die Fortführung der von seinen Vorfahren gegründeten Privatsynagoge, die 1819 einen von vier Beträumen der Dresdner Jüdinnen und Juden bildete. Sie befand sich ab 1820 im ehemaligen Betsaal der Reformierten Gemeinde (Altmarkt Nr. 148). Hier hielt 1826 Schies Verwandter Bernhard Beer erstmals eine deutschsprachige Predigt und fand 1833 die erste Konfirmation jüdischer Jugendlicher statt. Aufgrund der Weihe der großen Gemeindesynagoge am Hasenberg 1840, die Schie u.a. mit einer Spende von 500 Talern und einem zusätzlichen Darlehen von 1.000 Talern förderte, wurde der Betsaal geschlossen. Viele seiner Ritualobjekte gingen in den Gebrauch des neuen Gotteshauses über. – Schies Stellung innerhalb der jüdischen Gemeinde kam auch in der Heirat mit Nanette Bondi zum Ausdruck, einer Tochter des vermögenden Geld- und Wechselhändlers Joseph Jonas Bondi, dessen Familie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zur tonangebenden Gemeindeelite in Dresden gehörte. Von den drei Kindern des Paars übernahm der Sohn Wilhelm später das Bankhaus des Vaters, während die Töchter Isabella und Johanna mit dem Dresdner Hofarzt Paul Wolf bzw. dem aus Dessau stammenden Bankier Moritz Aron Meyer, einem späteren Teilhaber des Bankhauses Mendel Schie, verheiratet waren, die beide zur großbürgerlichen Elite in der Elbestadt zählten. – Seinen Lebensunterhalt verdiente Schie zunächst mit Lotteriegeschäften, wobei er von seinem bereits vorhandenen Vermögen profitierte. 1802 gründete er das Wechselgeschäft Mendel Schie. Sein 1818 etabliertes Bankhaus in zentraler Lage am Dresdner Altmarkt, ab 1820 dann in der Seegasse, wurde bereits Ende der 1820er-Jahre als „vorzüglich“ in zeitgenössischen Reiseführern empfohlen. Obwohl, wie ein Nachruf auf Schie vermerkt, dieser sich einen Ruf an allen europäischen Handelsplätzen erworben hatte, konzentrierten sich die Hauptgeschäfte des Bankhauses wohl v.a. auf den regionalen Raum. Geschäftsanzeigen belegen u.a. den Handel mit in- und ausländischen Staatspapieren und -schuldscheinen. – Obwohl die rechtliche Gleichstellung der sächsischen Jüdinnen und Juden erst 1849 zum Abschluss kam, gehörte Schie bereits früh dem Dresdner Großbürgertum an. Als einer der ersten Dresdner Juden erwarb er 1839 Hausbesitz, sein Geschäftsgebäude in der Seegasse, und damit verbunden das Dresdner Bürgerrecht. Das Haus wurde auch zum Ort bürgerlicher Geselligkeit, in dem Abendveranstaltungen und Kultur geboten wurden, was nach Aussage seines Verwandten Marcus Bondi oft auch angesehene christliche Gäste anzog. Schie selbst engagierte sich zudem im städtischen Vereinswesen, indem er u.a. Verwaltungsämter bei der städtischen Armenversorgungsbehörde und bei Wohltätigkeitsvereinen wie dem Verein zu Rath und That ausübte. Außerdem wirkte er als Ausschussmitglied des Dresdner Blindenvereins und des Ärztlichen Hilfsvereins. Diese Ämter übernahm er wohl auch deshalb, weil er selbst unter Augenproblemen litt. Zudem wurde er noch wenige Wochen vor seinem Tod Mitglied des Deutschen Vereins, der als liberale politische Vereinigung in der Phase der 1848er-Revolution gegründet worden war. – Schies allgemeines Ansehen zeigte sich nochmals, als er im August 1848 nach längerer Krankheit verstarb: Seine Beisetzung auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Dresden besuchten nicht nur seine Verwandten und Mitglieder der jüdischen Gemeinde, sondern auch christliche Freunde und Amtskollegen. Sogar ein Staatsbeamter, der Geheime Finanzrat Johann Heinrich August Behr als Vorsteher des Vereins zu Rath und That, sprach am Grab. Die Leichenrede hielt Oberrabbiner Zacharias Frankel. Die Zinsen einer testamentarisch von Schie eingerichteten Stiftung mit einem Startkapital von 8.000 Rubeln sollten zwischen israelitischen und christlichen Wohltätigkeitsanstalten und Armen geteilt werden.

Quellen Stadtarchiv Dresden, 2.1 Ratsarchiv, B.XI.293k, C.XXI.20/149, C.XLII.157, 2.3.9 Gewerbeamt A, S. 1984; Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 10736 Ministerium des Innern, Nr. 12502: Mendel-Schie-Stiftung in Dresden, 1888-1940, Nr. 12932 Mendel-Schie-Stiftung, 1893-1894; Leo Baeck Institute New York, MF 542 Elias Bondi Collection.

Literatur Allgemeine Zeitung des Judenthums 12/1848, H. 48, S. 690f.; Wolf Landau, Nekrolog, in: Der Orient 9/1848, H. 37, S. 292f.; Nekrolog, in: Dresdner Journal 5.9.1848, S. 1249f.; Anke Kalkbrenner, Das Henriettenstift. Zwischen Asylheim und Alten-Damenstift. Die Geschichte eines jüdischen Altenheims, Dresden [1999], S. 18-20; Claudia Ortel, Familie Schie, in: Frank Thiele u.a. (Hg.), Alter Jüdischer Friedhof in der Dresdner Neustadt, Dresden 2000, S. 75-91; Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum, Göttingen 2004, S. 406f.; Daniel Ristau, Die Familie Bondi und das „Jüdische“. Beziehungsgeschichte unter dem bürgerlichen Wertehimmel, 1790-1870, Göttingen 2023.

Porträt Mendel Schie, Vorsteher von 1813 bis 1837, Fotografie, in: Gemeindeblatt der Israelitischen Religionsgemeinde Dresden 2/1927, Nr. 10, S. 14, in: Der Alte Jüdische Friedhof in Dresden, hg. von HATiKVA - Bildungs- und Begegnungsstätte für Jüdische Geschichte und Kultur Sachsen e.V., Teetz 2002, S. 217, Landeshauptstadt Dresden, Stadtarchiv Dresden (Bildquelle).

Daniel Ristau
3.9.2025


Empfohlene Zitierweise:
Daniel Ristau, Artikel: Mendel Schie,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27922 [Zugriff 6.10.2025].

Mendel Schie



Quellen Stadtarchiv Dresden, 2.1 Ratsarchiv, B.XI.293k, C.XXI.20/149, C.XLII.157, 2.3.9 Gewerbeamt A, S. 1984; Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 10736 Ministerium des Innern, Nr. 12502: Mendel-Schie-Stiftung in Dresden, 1888-1940, Nr. 12932 Mendel-Schie-Stiftung, 1893-1894; Leo Baeck Institute New York, MF 542 Elias Bondi Collection.

Literatur Allgemeine Zeitung des Judenthums 12/1848, H. 48, S. 690f.; Wolf Landau, Nekrolog, in: Der Orient 9/1848, H. 37, S. 292f.; Nekrolog, in: Dresdner Journal 5.9.1848, S. 1249f.; Anke Kalkbrenner, Das Henriettenstift. Zwischen Asylheim und Alten-Damenstift. Die Geschichte eines jüdischen Altenheims, Dresden [1999], S. 18-20; Claudia Ortel, Familie Schie, in: Frank Thiele u.a. (Hg.), Alter Jüdischer Friedhof in der Dresdner Neustadt, Dresden 2000, S. 75-91; Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum, Göttingen 2004, S. 406f.; Daniel Ristau, Die Familie Bondi und das „Jüdische“. Beziehungsgeschichte unter dem bürgerlichen Wertehimmel, 1790-1870, Göttingen 2023.

Porträt Mendel Schie, Vorsteher von 1813 bis 1837, Fotografie, in: Gemeindeblatt der Israelitischen Religionsgemeinde Dresden 2/1927, Nr. 10, S. 14, in: Der Alte Jüdische Friedhof in Dresden, hg. von HATiKVA - Bildungs- und Begegnungsstätte für Jüdische Geschichte und Kultur Sachsen e.V., Teetz 2002, S. 217, Landeshauptstadt Dresden, Stadtarchiv Dresden (Bildquelle).

Daniel Ristau
3.9.2025


Empfohlene Zitierweise:
Daniel Ristau, Artikel: Mendel Schie,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27922 [Zugriff 6.10.2025].