Louis Lesser
L. galt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wegen seiner Stellung als Senior eines angesehenen Bankhauses, das von Mendel Schie begründet und von seinen Nachfolgern betrieben wurde, sowie wegen seiner philanthropischen Tätigkeit als wichtiges Mitglied der jüdischen Gemeinde zu Dresden. Seine historische Bedeutung liegt aber auch darin, dass er als Jugendlicher für drei Jahre ein Tagebuch führte, das tiefe Einblicke in das jüdische Leben in Dresden während der Biedermeierzeit bietet. – L.s wohlhabender Vater
Meyer war von
Lissa (poln. Leszno) nach Dresden eingewandert und hatte 1814 eine Tochter der bekannten jüdischen Familie Seckel geheiratet. L. wurde 1815 als erstes Kind des Ehepaars geboren. Er bekam eine solide Schulbildung, teilweise in
Berlin, aber schon mit 13 Jahren fing er an, in einem Dresdner Bankhaus zu arbeiten, dessen Inhaber, Mendel Schie, einer der Gemeindeältesten der jüdischen Gemeinde in Dresden war. Trotz langer Arbeitsstunden im Bankhaus führte L. seine Ausbildung selbstständig weiter. V.a. versuchte er durch private Sprachstunden sowie intensives Bücherlesen seine Sprachkenntnisse in Englisch, Französisch und zeitweise auch Italienisch zu verbessern. – Im Oktober 1833 fing L. an, ein Tagebuch zu führen, das er hauptsächlich auf Englisch verfasste. Ende Januar 1837 brachen die Einträge ohne Erklärung ab. Das Tagebuch wurde erst 1996 in den Familienpapieren einiger Nachkommen in
Vancouver (Kanada) entdeckt und 2011 veröffentlicht. Das Tagebuch beschreibt manches über L.s Tätigkeit als Bankangestellter, viel genauer aber wird seine Freizeitgestaltung dokumentiert, bei der Spaziergänge im Großen Garten und Kartenspiele mit seinen Freunden eine wichtige Rolle spielen. Als Jude interessierte sich L. für die wichtigsten Ereignisse, die die jüdische Gemeinde Dresdens betrafen, wie etwa die Entscheidung im Dezember 1835 Zacharias Frankel als sächsischen Oberrabbiner zu berufen oder die politischen Debatten über die Verbesserung der Rechtsstellung der Juden im Königreich Sachsen. Das Tagebuch spiegelt aber auch den hohen Akkulturationsgrad wider, den die Juden im Dresden der 1830er-Jahre erreicht hatten. L. besuchte öffentliche Konzerte und Museen und gelegentlich auch die königliche Bibliothek, um Bücher auszuleihen. Allerdings waren seine sozialen Kontakte mit Nicht-Juden nur oberflächlich. Anhaltenden Umgang hatte er nur mit Mitgliedern der Mittel- und Oberschichten der damals noch kleinen jüdischen Gemeinde von Dresden. – L.s Tagebuch beschreibt auch seine Beziehung zu seinen drei engsten Freunden, mit denen L. u.a. Ausflüge machte, Tanzstunden nahm und eine handschriftliche literarische Zeitschrift bearbeitete. Alle drei Freunde spielten später als Erwachsene wichtige Rollen in Sachsen: Veit Meyer und Bernhard Hirschel als Mediziner und führende Homöopathen in Leipzig bzw. Dresden, Wolf Landau ab 1854 als Oberrabbiner von Dresden. – Im Alter von 28 Jahren heiratete L. 1843 die drei Jahre jüngere
Friederike Simon, die ebenfalls in Dresden aufgewachsen war. Aus dieser Ehe gingen drei Kinder hervor. Die erste Tochter heiratete 1871 mit 25 Jahren, starb aber ein Jahr später. Die zweite Tochter starb kurz nach der Geburt. Der Sohn
Oskar, 1851 geboren, blieb lebenslang in Dresden und trat in vieler Hinsicht in die Fußstapfen seines Vaters. – Nach seiner Eheschließung arbeitete L. weiter im Bankhaus Schie, wo er bald eine Stelle als Handlungsbuchhalter bekleidete. Seine Frau arbeitete als Putz- und Modehändlerin, später ließ sie sich als Band- und Zwirnhändlerin bezeichnen. Ab 1856 war
Friederike Lesser nicht mehr berufstätig, vermutlich weil L. immer mehr Verantwortung in der Bank bekam: So war er ab 1859 zum Handlungsprokuristen ernannt worden. Mit dem Tod von Mendel Schies Sohn und Nachfolger Wilhelm Schie 1861 musste das Bankhaus Schie sich in „M. Schie Nachfolger“ umbenennen. Um 1870 wurde L. einer der drei Mitinhaber der Bank und nannte sich „Banquier“. Bald wurde er auch als Senior der Bank bezeichnet. – Mit seiner zunehmenden Bedeutung im Finanzwesen der Stadt Dresden begann L. auch prominente Rollen in der schnell wachsenden jüdischen Gemeinde seiner Heimatstadt zu übernehmen. 1870 bis zu seinem Tode war er Vorsteher der Israelitischen Verpflegungsgesellschaft, ein Amt, das schon sein Vater 1849 bis 1860 innehatte. L. gehörte auch jahrelang dem Verwaltungsrat des Mendelssohn-Vereins an, der hauptsächlich Stipendien an jüdische Studierende, Schüler und Lehrlinge vergab. – Nach langer Krankheit starb L. am 6.4.1889. Sein Sohn Oskar, schon lange Prokurist des Bankhauses „M. Schie Nachfolger“, wurde nun als Erbe seines Vaters Mitinhaber der Bank. Nach nur zwei Jahren wurde das Bankhaus Schie aber von der stärker gewordenen Bank „Gebrüder Arnhold“ übernommen, wo Oskar Lesser für mehr als dreißig Jahre mehrere wichtige Positionen bekleidete. Auch im jüdischen Leben spielte er eine große Rolle und wurde schließlich Ehrenvorsitzender der israelitischen Religionsgemeinde zu Dresden. Die Nachkommen von Oskar Lesser leben hauptsächlich in Kanada und Israel.
Quellen A Jewish Youth in Dresden. The Diary of Louis L. 1833-1837, hrsg. von Christopher R. Friedrichs, Bethesda (Maryland) 2011.
Literatur Christopher R. Friedrichs, Jüdische Jugend im Biedermeier. Ein unbekanntes Tagebuch aus Dresden, Baalsdorf 1997; Ingrid Kirsch, Familie Lesser, in: Nora Goldenbogen/Gunda Ulbricht (Hg.), Einst und Jetzt. Zur Geschichte der Dresdner Synagoge und ihrer Gemeinde/Then and Now. On the history of the Dresden synagogue and its community, Dresden 2003, S. 158-161; Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004; Christopher R. Friedrichs, Leisure and Acculturation in the Jewish Community of Dresden 1833-1837, in: Leo Baeck Institute Year Book 56/2011, S. 137-162.
Christopher R. Friedrichs
7.3.2022
Empfohlene Zitierweise:
Christopher R. Friedrichs, Artikel: Louis Lesser,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27899 [Zugriff 30.12.2024].
Louis Lesser
Quellen A Jewish Youth in Dresden. The Diary of Louis L. 1833-1837, hrsg. von Christopher R. Friedrichs, Bethesda (Maryland) 2011.
Literatur Christopher R. Friedrichs, Jüdische Jugend im Biedermeier. Ein unbekanntes Tagebuch aus Dresden, Baalsdorf 1997; Ingrid Kirsch, Familie Lesser, in: Nora Goldenbogen/Gunda Ulbricht (Hg.), Einst und Jetzt. Zur Geschichte der Dresdner Synagoge und ihrer Gemeinde/Then and Now. On the history of the Dresden synagogue and its community, Dresden 2003, S. 158-161; Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004; Christopher R. Friedrichs, Leisure and Acculturation in the Jewish Community of Dresden 1833-1837, in: Leo Baeck Institute Year Book 56/2011, S. 137-162.
Christopher R. Friedrichs
7.3.2022
Empfohlene Zitierweise:
Christopher R. Friedrichs, Artikel: Louis Lesser,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27899 [Zugriff 30.12.2024].