Wilhelm Schie
Wilhelm Schie gehörte zu den ersten sächsischen Juden, denen in der Phase der rechtlichen Gleichstellung bereits früh die Integration ins Dresdner Bürgertum gelang. In der jüdischen Gemeinde gehörte er ab den 1830er-Jahren zu den Protagonisten innerjüdischer Reformprozesse, während er innerhalb der Stadtgesellschaft als Mitglied der bürgerlichen Oberschicht und einer der ersten jüdischen Kommunalpolitiker und Wohltäter wahrgenommen wurde. – Über Schies Kindheit und schulische Ausbildung liegen bislang keine gesicherten Informationen vor. Es darf angenommen werden, dass er wie viele jüdische Jugendliche in der Zeit der Napoleonischen Kriege zunächst neben einem traditionell jüdischen Unterricht in weltlichen Fächern geschult wurde. Auf dieser Grundlage arbeitete er ab einem Alter von 14 Jahren im neu gegründeten Bankhaus seines Vaters Mendel Schie mit. Bereits in den 1830er-Jahren leitete er, ab 1837 zusammen mit seinem Schwager und Partner Moritz Aron Meyer einen großen Teil der Geschäfte des Privatbankhauses M. Schie & Co. Zwischen 1856 und 1865 war das v.a. regional agierende Bankhaus angeblich das einzige in Dresden, das zur Ausgabe von Banknoten (vermutlich der Leipziger Bank) berechtigt war. Zudem gelangen zwischen 1847 und 1860 mehrmals bedeutende Umsätze durch die Ausgabe neuer sächsischer Staatsanleihen. – 1826 heiratete Schie seine Cousine Henriette, eine Tochter des Geld- und Wechselhändlers
Herz Bär Schie und der
Emilie (Esther), geb. Cohn. Von den mutmaßlich drei Kindern des Paars erreichte nur die älteste Tochter
Auguste das Erwachsenenalter. Für ihre Erziehung engagierte Schie zeitweise Bernhard Hirschel als Privatlehrer. 1846 heiratete sie Joseph Bondi, der 1845 bis 1853/1854, als die Ehe zerbrach, im Bankhaus mitarbeitete. – Das Bürgerrecht der Stadt Dresden erwarb Schie wie sein Vater 1839. Die Familie führte einen groß- und bildungsbürgerlichen Lebensstil. Sie wohnte zunächst auf der Zahnsgasse, später dann am Altmarkt, in der Großen Reitbahngasse und zuletzt der Lüttichaustraße. Darüber hinaus besaß sie ein Haus in der Meißnergasse in
Prag und baute zwischen 1858 und 1860 eine Villa in der Kaitzer Straße außerhalb des Dresdner Stadtzentrums. In seiner Freizeit ging Schie zumindest in den 1830er-Jahren u.a. Schwimmen und entlieh Bücher aus der Königlichen Bibliothek. Er war Mitglied des Vereins zu Rath und That, des Turnvereins (1848) und des Sächsischen Kunstvereins. Zudem wirkte er als Vorsteher des Augenkranken-Heil- und Unterstützungs-Vereins. – Schie gehörte zu den ersten Dresdner Juden, die sich aktiv in die Stadtpolitik einbrachten. 1848 trat er dem liberalen Deutschen Verein bei. Anfang 1849 wurde er von den Ausschüssen des Gewerbe-, des Grundbesitzer- und des Deutschen Vereins als einer von mehreren Stadtverordnetenkandidaten aufgestellt und zum Ersatzmann gewählt. Bei der Wahl 1853 wurde er Mitglied des Stadtverordnetenkollegiums, in dessen Finanzdeputation er wirkte. Bis zu seinem Tod blieb Schie Stadtverordneter. Er engagierte sich dabei auch in der Armenversorgungsbehörde und in der Deputation für milde Stiftungen, für die er in den 1850er-Jahren um Spenden warb und auch selbst spendete. – Wie sein Vater Mendel Schie förderte Schie die ab Ende der 1820er-Jahre einsetzenden Reformprozesse in der Dresdner jüdischen Gemeinde. Er gehörte dem 1829 gegründeten interkonfessionellen Mendelssohn-Verein an, der die Ausbildung jüdischer Jungen förderte. Auch beteiligte sich Schie an der Finanzierung der ersten öffentlichen Gemeindesynagoge in Dresden, die zwischen 1838 und 1840 nach den Plänen Gottfried Sempers errichtet wurde, und wirkte bei deren Weihe als einer der Aufsichtsbeamten mit. Nachdem sein Vater 1837 als Gemeindevorsteher zurückgetreten war, trat Schie zunächst ab 1839 als Mitglied des neunköpfigen Ausschusses und von 1842 bis zu seinem Tod als Gemeindevorsteher der Israelitischen Religionsgemeinde zu Dresden in dessen Fußstapfen. Zudem fungierte er als Mitglied der Synagogenkommission, die die ordnungsgemäße Durchführung des Gottesdiensts überwachte. Zudem wickelte er bis 1853 die vom Synagogenbau noch ausstehenden Schulden ab. Zeitweise war er auch Deputierter des Kranken-Unterstützungs-Instituts für Israeliten zu Dresden. Im Verbund mit seinen ihm verwandtschaftlich verbundenen Vorsteherkollegen Bernhard Beer und Jonas Abraham Bondi sowie dem Oberrabbiner Zacharias Frankel setzte sich Schie in dieser Phase wiederholt gegenüber den Behörden für die endgültige rechtliche Gleichstellung der sächsischen Jüdinnen und Juden ein, die allerdings erst im Zuge der Revolution 1849 erfolgte. In seine Amtszeit fielen zahlreiche innergemeindliche Reformmaßnahmen, die immer wieder zu Anfeindungen führten und auch öffentlich ausgetragen wurden, so etwa hinsichtlich des erst 1852 verabschiedeten Gemeindestatuts und 1854 anlässlich der Neubesetzung der vakanten Oberrabbinerstelle mit Wolf Landau. Im September 1854 beschwerte sich der Gemeindedeputierte Eduard Baumann beim Stadtrat, dass Schie sich zu Gemeinderatssitzungen häufig entschuldige und bei Anwesenheit gewöhnlich um Eile bat, da er durch andere Termine sehr in Anspruch genommen sei. Angesichts solcher Vorwürfe trug sich Schie offenbar mit dem Gedanken, sein Vorsteheramt niederzulegen, ließ sich aber letztlich doch zu dessen Fortführung bewegen. – 1852 gründete Schie das nach seiner Ehefrau benannte Henriettenstift in der Eliasstraße 24, das für alte und arme Jüdinnen und Juden Asyl bot und ihm über die jüdische Gemeinde hinaus Renommée als Philanthrop verschaffte. Zudem verfügte er 1854 in seinem Testament, dass nach seinem Tod eine Stiftung eingerichtet werden solle, die - wenn sämtliche Enkel ohne Nachkommen sterben oder nur von einem Nachkommen Enkelkinder vorhanden seien - zugunsten der Armen der jüdischen Gemeinde in Kraft treten solle. Sie trug später den Namen Wilhelm-Schie-Stiftung. Im Sommer 1860 erlitt Schie einen Schlaganfall und war von Lähmungserscheinungen betroffen, sodass er seinen bisherigen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen konnte. Offenbar folgten Anfang 1861 weitere Schlaganfälle, an deren Folge er Mitte April verstarb. In der Todesanzeige der Israelitischen Religionsgemeinde wird als Krankheit ein organisches Herz- und Nierenleiden angegeben. Am 22.4. wurde Schie auf dem Alten Jüdischen Friedhof beigesetzt. Nachdem auch Bernhard Beer Anfang Juli 1861 verstorben war, hielt Oberrabbiner Wolf Landau am 17.7. eine Trauerpredigt in der Synagoge, in der er auch auf Schie einging. – In den Jahrzehnten nach seinem Tod wurde an Schie v.a. in Schriften zur Geschichte der Israelitischen Religionsgemeinde für sein Wirken in der Phase der Emanzipation und seine Wohltätigkeit erinnert. Im Sitzungssaal in der Zeughausstraße hing bis zu den Novemberpogromen von 1938 auch ein Bild des früheren Gemeindevorstehers. Seine Biografie steht für eine Kohorte jünger Jüdinnen und Juden, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts geboren wurden, innerhalb der Dresdner jüdischen Gemeinde aktiv Reformmaßnahmen vorantrieben und die rechtliche Emanzipation begleiteten, gleichzeitig jedoch bereits als Bildungs- und Wirtschaftsbürger aktiv an der städtischen Gesellschaft partizipierten.
Quellen Stadtarchiv Dresden, Ratsarchiv 2.1, C.XXI.20.104 Kirchliche Wochenzettel, C.XLII.135 Des hiesigen Juden Wilhelm Schie Gesuch um Concession zu Anstellung eigner Oeconomie, 1825; Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 10736 Ministerium des Innern, Nr. 12297 Henriettenstiftung von Bankier Wilhelm Schie in Dresden für arme dasige israelitische Familien sowie Wilhelm-Schie-Stiftung, 1852-1940, 11045 Amtsgericht Dresden, Nr. 847 Fideikommiss des Schie, Wilhelm, Bankier, Bd. 4, 1891-1894; Żydowski Instytut Historyczny w Polsce, Warschau, 105 Akten der jüdischen Gemeinde Breslau, Nr. 1167; National Library of Israel, Jerusalem, Zunz, Leopold, Arc. 4° 792 (L), G.8 (Nr. 41-67); Science of Judaism Letter Collection, Arc. Ms. Var. 236, Nr. 3.
Literatur Wilhelm Schie (Nachruf), in: Dresdner Journal 18.5.1861, S. 487; Wolf Landau, Rede zur Gedächtnißfeier des Herrn Dr. phil. B. Beer Vorstehers der israel. Religionsgemeinde zu Dresden (gest. den 1. Juli 1861) mit Bezugnahme auf den kürzlich verstorbenen Vorsteher Herrn W. Schie, am 17. Juli/10. Ab gehalten in der Synagoge zu Dresden. Zum Besten einer zu gründenden Beer-Stiftung, Dresden 1861; Anke Kalkbrenner, Das Henriettenstift. Zwischen Asylheim und Alten-Damenstift. Die Geschichte eines jüdischen Altenheims, Dresden [1999], S. 23-33; Simone Lässig, Jüdische Privatbanken in Dresden, in: Dresdner Hefte 61/2000, S. 85-97; Claudia Ortel, Familie Schie, in: Frank Thiele u.a. (Hg.), Alter Jüdischer Friedhof in der Dresdner Neustadt, Dresden [2000], S. 75-91; Anke Kalkbrenner, Von Löbel bis Wilhelm Schie - eine Familiengeschichte über vier Generationen, in: Der Alte Jüdische Friedhof in Dresden, hrsg. von HATiKVA - Bildungs- und Begegnungsstätte für Jüdische Geschichte und Kultur Sachsen e.V., Teetz 2002, S. 208-221; Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004; A Jewish Youth in Dresden. The Diary of Louis Lesser, 1833-1837, hrsg. von Christopher R. Friedrichs, Bethesda (Maryland) 2011; Daniel Ristau, Die Familie Bondi und das „Jüdische“. Beziehungsgeschichte unter dem bürgerlichen Wertehimmel, 1790-1870, Göttingen 2023.
Porträt Wilhelm Schie, Vorsteher von 1842 bis 1861, Begründer der Wilhelm-Schie-Stiftung und des Henrietten-Stiftes, Fotografie, in: Gemeindeblatt der Israelitischen Religionsgemeinde Dresden 2/1927, Nr. 10, S. 14, in: Der Alte Jüdische Friedhof in Dresden, hg. von HATiKVA - Bildungs- und Begegnungsstätte für Jüdische Geschichte und Kultur Sachsen e.V., Teetz 2002, S. 219, Landeshauptstadt Dresden, Stadtarchiv Dresden (Bildquelle).
Daniel Ristau
9.9.2025
Empfohlene Zitierweise:
Daniel Ristau, Artikel: Wilhelm Schie,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27923 [Zugriff 29.10.2025].
Wilhelm Schie
Quellen Stadtarchiv Dresden, Ratsarchiv 2.1, C.XXI.20.104 Kirchliche Wochenzettel, C.XLII.135 Des hiesigen Juden Wilhelm Schie Gesuch um Concession zu Anstellung eigner Oeconomie, 1825; Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 10736 Ministerium des Innern, Nr. 12297 Henriettenstiftung von Bankier Wilhelm Schie in Dresden für arme dasige israelitische Familien sowie Wilhelm-Schie-Stiftung, 1852-1940, 11045 Amtsgericht Dresden, Nr. 847 Fideikommiss des Schie, Wilhelm, Bankier, Bd. 4, 1891-1894; Żydowski Instytut Historyczny w Polsce, Warschau, 105 Akten der jüdischen Gemeinde Breslau, Nr. 1167; National Library of Israel, Jerusalem, Zunz, Leopold, Arc. 4° 792 (L), G.8 (Nr. 41-67); Science of Judaism Letter Collection, Arc. Ms. Var. 236, Nr. 3.
Literatur Wilhelm Schie (Nachruf), in: Dresdner Journal 18.5.1861, S. 487; Wolf Landau, Rede zur Gedächtnißfeier des Herrn Dr. phil. B. Beer Vorstehers der israel. Religionsgemeinde zu Dresden (gest. den 1. Juli 1861) mit Bezugnahme auf den kürzlich verstorbenen Vorsteher Herrn W. Schie, am 17. Juli/10. Ab gehalten in der Synagoge zu Dresden. Zum Besten einer zu gründenden Beer-Stiftung, Dresden 1861; Anke Kalkbrenner, Das Henriettenstift. Zwischen Asylheim und Alten-Damenstift. Die Geschichte eines jüdischen Altenheims, Dresden [1999], S. 23-33; Simone Lässig, Jüdische Privatbanken in Dresden, in: Dresdner Hefte 61/2000, S. 85-97; Claudia Ortel, Familie Schie, in: Frank Thiele u.a. (Hg.), Alter Jüdischer Friedhof in der Dresdner Neustadt, Dresden [2000], S. 75-91; Anke Kalkbrenner, Von Löbel bis Wilhelm Schie - eine Familiengeschichte über vier Generationen, in: Der Alte Jüdische Friedhof in Dresden, hrsg. von HATiKVA - Bildungs- und Begegnungsstätte für Jüdische Geschichte und Kultur Sachsen e.V., Teetz 2002, S. 208-221; Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004; A Jewish Youth in Dresden. The Diary of Louis Lesser, 1833-1837, hrsg. von Christopher R. Friedrichs, Bethesda (Maryland) 2011; Daniel Ristau, Die Familie Bondi und das „Jüdische“. Beziehungsgeschichte unter dem bürgerlichen Wertehimmel, 1790-1870, Göttingen 2023.
Porträt Wilhelm Schie, Vorsteher von 1842 bis 1861, Begründer der Wilhelm-Schie-Stiftung und des Henrietten-Stiftes, Fotografie, in: Gemeindeblatt der Israelitischen Religionsgemeinde Dresden 2/1927, Nr. 10, S. 14, in: Der Alte Jüdische Friedhof in Dresden, hg. von HATiKVA - Bildungs- und Begegnungsstätte für Jüdische Geschichte und Kultur Sachsen e.V., Teetz 2002, S. 219, Landeshauptstadt Dresden, Stadtarchiv Dresden (Bildquelle).
Daniel Ristau
9.9.2025
Empfohlene Zitierweise:
Daniel Ristau, Artikel: Wilhelm Schie,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27923 [Zugriff 29.10.2025].