Zacharias Frankel
Als langjähriger sächsischer Oberrabbiner hat F. das jüdische Leben im Königreich nachhaltig geprägt. Die Historiografie beschreibt ihn aber auch als Vordenker einer konservativen religiösen Strömung, die sich zwischen Orthodoxie und Reformjudentum verortete. Von den Gedanken der Historischen Rechtsschule inspiriert, gehörte F. zudem zu den frühen Repräsentanten der sog. Wissenschaft des Judentums, der er mit Forschungsbeiträgen zur geschichtlichen Entwicklung des Religionsgesetzes zu öffentlicher Anerkennung verhalf. – F. verlebte Kindheit und Jugend in seiner Geburtsstadt
Prag. Nach der Promotion an der Universität
Pest (Ungarn) amtierte er zunächst als Kreisrabbiner in
Leitmeritz (tschech. Litoměřice). 1836 folgte er einem Ruf der jüdischen Gemeinde nach Dresden, wo er im Verlauf einer 18-jährigen Amtszeit eine beeindruckende öffentliche Wirksamkeit entfaltete. Respekt erwarb er sich u.a. als Verfechter der jüdischen Emanzipation, für die er sich in Wort und Schrift bei der Obrigkeit einsetzte. Tiefe Spuren hinterließ F.s Wirken in der jüdischen Gemeinde Dresden, die sich in einer Phase des Umbruchs befand. F.s Anstrengungen richteten sich insbesondere auf eine umsichtige Modernisierung von Unterricht und Gottesdienst. Er gestaltete die 1836 eröffnete jüdische Elementarschule als Lernort, in dem die Vermittlung jüdischer Traditionsinhalte mit einer zeitgemäßen weltlichen Erziehung einherging. Auch beim Bau der ersten Synagoge in Dresden wirkte F. als treibende Kraft. Nach der Einweihung des Gotteshauses 1840 wusste er das Judentum mit Predigten in deutscher Sprache, Chorgesang und einer behutsamen Umgestaltung des Kultus als bürgerliche Konfession zu präsentieren. – In einer Zeit, als die deutschen Juden vielfach Auseinandersetzungen über die Frage der Zulässigkeit religiöser Reformen austrugen, entwickelte F. sein religiöses Weltbild eines „positiv-historischen“ Judentums, das er zwischen 1844 und 1846 in der von ihm herausgegebenen „Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums“ ausbreitete. Während er die Bibel, insbesondere den Pentateuch, als heiliges Dokument göttlicher Offenbarung dem Zugriff kritischer Forschung entzogen wissen wollte, betrachtete er die v.a. in Mischna und Talmud niedergelegte mündliche Rechtstradition als Produkt und Spiegel geschichtlicher Entwicklung. Die normative Gültigkeit der Überlieferung fußte demnach auf deren historischer Autorität, eröffnete aber zugleich konkrete Möglichkeiten für Reformen. F.s Ideen legten das Fundament zu einer gemäßigt progressiven Strömung, die sich zwischen Orthodoxie und Reformjudentum verortete. Seine moderate Stellung erhielt zudem breite öffentliche Aufmerksamkeit, als er die 1845 in
Frankfurt/Main stattfindende Reformrabbinerkonferenz unter Protest verließ, nachdem seine Versuche fehlgeschlagen waren, die anwesenden Amtskollegen auf ein reduziertes Modernisierungstempo einzuschwören. – Seit den 1850er-Jahren rückten Forschung und Lehre mehr und mehr in den Fokus des Engagements F.s. Seit 1851 gab er die „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums“ heraus, die sich trotz ihrer geringen Auflage als einflussreiches Forum einer kritischen jüdischen Wissenschaft etablierte. 1854 wechselte F. nach
Breslau, wo er bis zu seinem Tod als Gründungsdirektor des Jüdisch-Theologischen Seminars amtierte - der ersten und bis in die 1870er-Jahre einzigen modernen Rabbinerausbildungsstätte auf deutschem Boden. Als Institution, in der sich die Hörer auch mit F.s religiösem Standpunkt vertraut machten, stand das Seminar im Fadenkreuz einer Kritik, die Reformtheologen und orthodoxe Rabbiner aus gegensätzlicher Perspektive vorbrachten. Auch F.s wissenschaftliche Arbeiten gaben wiederholt Anlass für öffentliche Kontroversen. Die jüdische Historiografie hingegen würdigt F. als innovativen Gelehrten, dessen Beiträge zur jüdischen Rechtsgeschichte sowohl in hebräischer als auch in deutscher Sprache der Forschung bis weit ins 20. Jahrhundert den Weg wiesen.
Quellen Landesarchiv Berlin, S Rep. 100 (1) Standesämter der östlichen preußischen Provinzen, lfd. Nr. 7585 (ancestry.de); Stiftung „Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum“, 1. Gesamtarchiv der deutschen Juden, 1 A DR 1, Nr. 2 Verhandlungen mit Oberrabbiner Dr. F., dessen Wahl und spätere Mitteilungen der Ältesten, 1835-1836; Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 11125 Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts, 08.05 Jüdische Religionsgemeinschaften, Nr. 11131-11134 Angelegenheiten des jüdischen Kultus und der jüdischen Schulen, Bd. 1-4, 1834-1869; Stadtarchiv Dresden, 2.1.3-C.XLII.176 Der israelitische Cultus und Schulunterricht, 1835-1873; C.XLII.196 Die zu treffenden Einrichtungen der inneren Verfassung der hiesigen Israelitischen Gemeinde, Bd. I, 1837; C.XLII.199 Die zu treffenden Einrichtungen der innern Verfassung der hiesigen Israelitischen Gemeinde, Bd. II, 1838-1845; National Library of Israel, Jerusalem, „Wissenschaft des Judentums“ Letter Collection, Arc. Ms. Var. 236/13 Zacharias F., 1855-1872; Leo Baeck Institute Archives, New York, AR 2903 Zacharias F. Collection.
Werke Aufruf an alle Israeliten Deutschlands Betreffs der Erbauung einer allgemeinen Synagoge zu Leipzig, Leipzig 1837; Rede bei der Grundsteinlegung der neuen Synagoge zu Dresden, den 21. Juni 1838 (28. Siwan 5598), Dresden 1838; Die Heiligung des Gotteshauses. Rede bei der Einweihung der neuen Synagoge zu Dresden den 5. Ijar 5600 (den 8. Mai 1840), Dresden 1840; Die Eidesleistung der Juden in theologischer und historischer Beziehung, Dresden/Leipzig 1840; Vorstudien zu der Septuaginta, Leipzig 1841 (ND Farnborough 1972); Die Prüfungen Israels. Predigt, gehalten am Sabbat Pekude, den 4. März 1843, Dresden/Leipzig 1843; (Hg.), Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums 1/1844-3/1846; Der gerichtliche Beweis nach mosaisch-talmudischem Rechte. Ein Beitrag zur Kenntniss des mosaisch-talmudischen Criminal- und Civilrechts, Berlin 1846 (ND Berlin/Boston 2019); Ueber den Einfluss der palästinischen Exegese auf die alexandrinische Hermeneutik, Leipzig 1851; (Hg.), Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums 1/1851-17/1868; Hodegetik in die Mischna, Leipzig 1859 [hebr.]; Grundlinien des mosaisch-talmudischen Eherechts, in: Jahresbericht des jüdisch-theologischen Seminars „Fraenckelscher Stiftung“, Leipzig/Breslau 1860, S. I-XLVIII; Dr. Bernhard Beer. Ein Lebens- und Zeitbild. Breslau 1863; Entwurf einer Geschichte der Literatur der nachtalmudischen Responsen, in: Jahresbericht des jüdisch-theologischen Seminars „Fraenckelscher Stiftung“ (1865), S. 1-96; Einleitung in den jerusalemischen Talmud, Breslau 1870 [hebr.].
Literatur David Rudavsky, The Historical School of Zacharia F., in: The Jewish Journal of Sociology 5/1963, Nr. 2, S. 224-244; Michael A. Meyer, Jewish Religious Reform and Wissenschaft des Judentums. The Positions of Zunz, Geiger and F., in: Leo Baeck Institute Year Book 16/1971, S. 19-41 (P); Ismar Schorsch, Zacharias F. and the European Origins of Conservative Judaism, in: Judaism. A quarterly journal of Jewish life and thought 30/1981, Nr. 3, S. 344-354; Rivka Horwitz, Zacharias F. and the Beginnings of Positive-Historical Judaism, Jerusalem 1984 [hebr.]; Andreas Brämer, Rabbiner Zacharias F. Wissenschaft des Judentums und konservative Reform im 19. Jahrhundert, Hildesheim/Zürich/New York 2000 (WV) (P). – ADB 7, S. 266-268; DBA I, II, III; DBE II 3, S. 461; Michael Brocke/Julius Carlebach (Hg.), Biographisches Handbuch der Rabbiner, Teil I: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern. 1781-1870, Bd. 1, München 2004, S. 324-329; Isidore Singer (Hg.), The Jewish Encyclopedia. A descriptive record of the history, religion, literature, and customs of the Jewish people from the earliest times to the present day, Bd. 5, New York/London 1903, S. 478f.
Porträt Zacharias Frankel Portraits Men, ca. 1860, Fotografie, Leo Baeck Institute, Center for Jewish History, United States of America, Zacharias Frankel Collection, AR 2903, Inventar-Nr. F 2164 (Bildquelle) [In Copyright - Educational Use Permitted; dieses Werk unterliegt Urheberrechtsschutz - Nutzung zu Bildungszwecken erlaubt].
Andreas Brämer
7.3.2022
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Brämer, Artikel: Zacharias Frankel,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1488 [Zugriff 21.11.2024].
Zacharias Frankel
Quellen Landesarchiv Berlin, S Rep. 100 (1) Standesämter der östlichen preußischen Provinzen, lfd. Nr. 7585 (ancestry.de); Stiftung „Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum“, 1. Gesamtarchiv der deutschen Juden, 1 A DR 1, Nr. 2 Verhandlungen mit Oberrabbiner Dr. F., dessen Wahl und spätere Mitteilungen der Ältesten, 1835-1836; Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 11125 Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts, 08.05 Jüdische Religionsgemeinschaften, Nr. 11131-11134 Angelegenheiten des jüdischen Kultus und der jüdischen Schulen, Bd. 1-4, 1834-1869; Stadtarchiv Dresden, 2.1.3-C.XLII.176 Der israelitische Cultus und Schulunterricht, 1835-1873; C.XLII.196 Die zu treffenden Einrichtungen der inneren Verfassung der hiesigen Israelitischen Gemeinde, Bd. I, 1837; C.XLII.199 Die zu treffenden Einrichtungen der innern Verfassung der hiesigen Israelitischen Gemeinde, Bd. II, 1838-1845; National Library of Israel, Jerusalem, „Wissenschaft des Judentums“ Letter Collection, Arc. Ms. Var. 236/13 Zacharias F., 1855-1872; Leo Baeck Institute Archives, New York, AR 2903 Zacharias F. Collection.
Werke Aufruf an alle Israeliten Deutschlands Betreffs der Erbauung einer allgemeinen Synagoge zu Leipzig, Leipzig 1837; Rede bei der Grundsteinlegung der neuen Synagoge zu Dresden, den 21. Juni 1838 (28. Siwan 5598), Dresden 1838; Die Heiligung des Gotteshauses. Rede bei der Einweihung der neuen Synagoge zu Dresden den 5. Ijar 5600 (den 8. Mai 1840), Dresden 1840; Die Eidesleistung der Juden in theologischer und historischer Beziehung, Dresden/Leipzig 1840; Vorstudien zu der Septuaginta, Leipzig 1841 (ND Farnborough 1972); Die Prüfungen Israels. Predigt, gehalten am Sabbat Pekude, den 4. März 1843, Dresden/Leipzig 1843; (Hg.), Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums 1/1844-3/1846; Der gerichtliche Beweis nach mosaisch-talmudischem Rechte. Ein Beitrag zur Kenntniss des mosaisch-talmudischen Criminal- und Civilrechts, Berlin 1846 (ND Berlin/Boston 2019); Ueber den Einfluss der palästinischen Exegese auf die alexandrinische Hermeneutik, Leipzig 1851; (Hg.), Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums 1/1851-17/1868; Hodegetik in die Mischna, Leipzig 1859 [hebr.]; Grundlinien des mosaisch-talmudischen Eherechts, in: Jahresbericht des jüdisch-theologischen Seminars „Fraenckelscher Stiftung“, Leipzig/Breslau 1860, S. I-XLVIII; Dr. Bernhard Beer. Ein Lebens- und Zeitbild. Breslau 1863; Entwurf einer Geschichte der Literatur der nachtalmudischen Responsen, in: Jahresbericht des jüdisch-theologischen Seminars „Fraenckelscher Stiftung“ (1865), S. 1-96; Einleitung in den jerusalemischen Talmud, Breslau 1870 [hebr.].
Literatur David Rudavsky, The Historical School of Zacharia F., in: The Jewish Journal of Sociology 5/1963, Nr. 2, S. 224-244; Michael A. Meyer, Jewish Religious Reform and Wissenschaft des Judentums. The Positions of Zunz, Geiger and F., in: Leo Baeck Institute Year Book 16/1971, S. 19-41 (P); Ismar Schorsch, Zacharias F. and the European Origins of Conservative Judaism, in: Judaism. A quarterly journal of Jewish life and thought 30/1981, Nr. 3, S. 344-354; Rivka Horwitz, Zacharias F. and the Beginnings of Positive-Historical Judaism, Jerusalem 1984 [hebr.]; Andreas Brämer, Rabbiner Zacharias F. Wissenschaft des Judentums und konservative Reform im 19. Jahrhundert, Hildesheim/Zürich/New York 2000 (WV) (P). – ADB 7, S. 266-268; DBA I, II, III; DBE II 3, S. 461; Michael Brocke/Julius Carlebach (Hg.), Biographisches Handbuch der Rabbiner, Teil I: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern. 1781-1870, Bd. 1, München 2004, S. 324-329; Isidore Singer (Hg.), The Jewish Encyclopedia. A descriptive record of the history, religion, literature, and customs of the Jewish people from the earliest times to the present day, Bd. 5, New York/London 1903, S. 478f.
Porträt Zacharias Frankel Portraits Men, ca. 1860, Fotografie, Leo Baeck Institute, Center for Jewish History, United States of America, Zacharias Frankel Collection, AR 2903, Inventar-Nr. F 2164 (Bildquelle) [In Copyright - Educational Use Permitted; dieses Werk unterliegt Urheberrechtsschutz - Nutzung zu Bildungszwecken erlaubt].
Andreas Brämer
7.3.2022
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Brämer, Artikel: Zacharias Frankel,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1488 [Zugriff 21.11.2024].