Moritz Kohner
Moritz Kohner leitete 1869 bis 1877 die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig. Im Wirken als Gemeindevorsteher wurde er der organisatorische Wegbereiter des 1872 in Leipzig gegründeten Deutsch-Israelitischen Gemeindebunds, dessen erster Vorsitzender er war. Kohner war der erste Jude, der in Leipzig zum (unbesoldeten) Stadtrat gewählt wurde und somit auch der erste jüdische Stadtrat in Sachsen. – Nach dem Schulabschluss begann Kohner eine kaufmännische Ausbildung in der Handelsfirma Samson & D. Fleischl seines Verwandten Samson Fleischl in der Zweigniederlassung in
Pest (Ungarn), um anschließend als Handlungsgehilfe dort beruflich tätig zu sein. Zielstrebigkeit, Begabung, Wissensdrang und ein hohes Arbeitspensum zeichneten Kohner sein Leben lang aus. Als 1841 in Leipzig eine Zweigniederlassung eröffnet werden konnte, wechselte Kohner als leitender Mitarbeiter in die Messestadt. Die Firma vertrieb im Großhandel Wolle und Bettfedern. In kurzer Zeit stieg das Leipziger Unternehmen zur Hauptniederlassung auf. 1855 starb der Firmeninhaber Samson Fleischl. Seine Witwe Sarah Fleischl, geborene Kohner, übernahm die Geschäftsführung der Leipziger Hauptniederlassung und ihr Cousin Kohner wurde Teilhaber. 1859 übernahm Kohner schließlich die Leipziger Großhandlung und entwickelte die Firma unter eigenem Namen als Woll- und ungarische Produktenhandlung erfolgreich weiter. – Kohner, der die österreichische Staatsangehörigkeit besaß, beantragte 1857 die sächsische Staatsangehörigkeit und das Bürgerrecht der Stadt Leipzig. Beiden Gesuchen wurde 1858 entsprochen. Als Bürger Leipzigs konnte sich Kohner, der sich bereits der revolutionären Bewegung von 1848/1849 angeschlossen hatte, in der Kommunalpolitik engagieren. Er wurde zum Stadtverordneten gewählt und übte dieses Amt bis 1863 sowie nochmals 1868 bis 1873 aus. – Kohner trat für den Zusammenschluss der deutschen Einzelstaaten zu einem Deutschen Reich ein. In einem Nationalstaat, so seine Überzeugung, sollte die Gleichstellung des Judentums mit den christlichen Kirchen für die deutsche Judenheit erreicht werden. Politisch orientierte er sich dabei an der Nationalliberalen Partei. Mit dem späteren Leipziger Oberbürgermeister Otto Georgi verband ihn ein enger privater Kontakt. Im Juni 1873 wählte ihn die Leipziger Stadtverordnetenversammlung zum unbesoldeten Stadtrat. Kohner war der erste Jude in Sachsen, der dieses Amt ausübte. Ein unbesoldeter Stadtrat gehörte im Ehrenamt zur Stadtverwaltung und bezog kein Einkommen aus seiner Tätigkeit. Der jeweilige Aufgabenbereich wurde durch den Bürgermeister (seit 1878 Oberbürgermeister) bestimmt. Kohner gehörte der Kommission zur Überarbeitung des Leipziger Ortsstatuts an, die von Ende 1874 bis Juni 1875 bestand. Diese neue Gemeindeordnung trat 1878 in Kraft. – Im März 1869 war Kohner zum Vorsteher der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig gewählt worden. Er war federführend an der Ausarbeitung einer Gemeindeordnung beteiligt, die noch im Jahr seines Amtsantritts angenommen wurde und das bis dahin geltende Provisorische Gemeindestatut von 1846 modifizierte. – Vom 29.6. bis 4.7.1869 fand die erste Israelitische Synode der deutschen Juden in Leipzig statt. In die Planungen für die Synode zu Reformbestrebungen im Judentum hatten der Vorstand der Leipziger jüdischen Gemeinde und Emil Lehmann in Dresden auch ein Zusammenkommen von Vertretern jüdischer Gemeinden zum ersten Israelitischen Gemeindetag eingebunden. In dessen Beratungen wurde ein Ausschuss mit Sitz in Leipzig gewählt und Kohner die Leitung übertragen. Ziel der Ausschusstätigkeit war die Gründung eines Deutsch-Israelitischen Gemeindebunds (DIGB). Die Konstituierungsphase gestaltete sich schwierig, da die Mehrheit der jüdischen Gemeinden eine Beteiligung ablehnte. Schließlich konstituierte sich am 12.4.1872 in der Gemeindesynagoge in Leipzig der DIGB. Die Anwesenden wählten Kohner zum Vorsitzenden. Der DIGB verstand sich als Dachorganisation der Jüdischen Gemeinden in Deutschland und damit als Ansprechpartner und Interessenvertreter gegenüber dem Staat sowie jüdischen Organisationen im Ausland. Hauptanliegen von Kohner in der Arbeit des DIGB waren die Durchsetzung der Gleichberechtigung des jüdischen Schulwesens und die Verbesserung und Regelung der jüdischen Armenfürsorge. Kohner betrachtete die Einheitsgemeinde als Voraussetzung für eine Stärkung des jüdischen Lebens und agitierte kompromisslos gegen den preußischen Gesetzentwurf über den Austritt aus der Synagogengemeinde. – Seit Mitte 1875 litt Kohner an einer nicht heilbaren Krankheit. In der Folgezeit übertrug er die Führungsrolle in den von ihm weiterhin geleiteten Institutionen an gleichgesinnte Mitstreiter. Im Januar 1877 ernannte die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig Kohner zum Ehrenmitglied. Wenige Wochen nach seinem Tod im März desselben Jahrs gründeten Familienangehörige, Verwandte und Freunde des Verstorbenen die Stadtrat-Moritz-Kohner-Stiftung, die junge Künstler und Nachwuchswissenschaftler unterstützte. Der DIGB ehrte Kohner durch die Ernennung zum immerwährenden Ehrenmitglied.
Quellen Stadtarchiv Leipzig, PoA Nr. 176, Bl. 72, 20, 0056 Wahl- und Listenamt, Aufnahmeakten Nr. 16536, Kap. 6, Nr. 2, Bd. 12, Bl. 184, Kap. 6, Bd. 14, Bl. 76.
Literatur Leipziger Tageblatt und Anzeiger 23.3.1877, Erste Beilage; ebd. 24.3.1877, Vierte Beilage; Moritz Kohner, in: Allgemeine Zeitung des Judentums 10.4.1877, S. 240f.; Rede auf Moritz Kohner, in: Moritz Lazarus, Treu und Frei. Gesammelte Reden und Vorträge über Juden und Judentum, Leipzig 1887, S. 251-259; Bernhard Jacobsohn, Fünfzig Jahre Erinnerungen aus Amt und Leben, Berlin 1912; Josef Reinhold, Zwischen Aufbruch und Beharrung. Juden und jüdische Gemeinde in Leipzig während des 19. Jahrhunderts, Dresden 1999, S. 21; Anett Müller, Modernisierung in der Stadtverwaltung. Das Beispiel Leipzig im späten 19. Jahrhundert, Köln 2005, S. 75-77, 411. – DBA II; Georg Herlitz/Bruno Kirschner (Hg.), Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens, Bd. 3, Berlin 1929, Sp. 757.
Steffen Held
6.8.2025
Empfohlene Zitierweise:
Steffen Held, Artikel: Moritz Kohner,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27894 [Zugriff 21.8.2025].
Moritz Kohner
Quellen Stadtarchiv Leipzig, PoA Nr. 176, Bl. 72, 20, 0056 Wahl- und Listenamt, Aufnahmeakten Nr. 16536, Kap. 6, Nr. 2, Bd. 12, Bl. 184, Kap. 6, Bd. 14, Bl. 76.
Literatur Leipziger Tageblatt und Anzeiger 23.3.1877, Erste Beilage; ebd. 24.3.1877, Vierte Beilage; Moritz Kohner, in: Allgemeine Zeitung des Judentums 10.4.1877, S. 240f.; Rede auf Moritz Kohner, in: Moritz Lazarus, Treu und Frei. Gesammelte Reden und Vorträge über Juden und Judentum, Leipzig 1887, S. 251-259; Bernhard Jacobsohn, Fünfzig Jahre Erinnerungen aus Amt und Leben, Berlin 1912; Josef Reinhold, Zwischen Aufbruch und Beharrung. Juden und jüdische Gemeinde in Leipzig während des 19. Jahrhunderts, Dresden 1999, S. 21; Anett Müller, Modernisierung in der Stadtverwaltung. Das Beispiel Leipzig im späten 19. Jahrhundert, Köln 2005, S. 75-77, 411. – DBA II; Georg Herlitz/Bruno Kirschner (Hg.), Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens, Bd. 3, Berlin 1929, Sp. 757.
Steffen Held
6.8.2025
Empfohlene Zitierweise:
Steffen Held, Artikel: Moritz Kohner,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27894 [Zugriff 21.8.2025].