Matthias Flacius

F. zählt zu den Hauptprotagonisten der lutherischen Lehrstreitigkeiten der 1540er- und 1550er-Jahre. Als Wortführer der sog. Gnesiolutheraner trat er kompromisslos für die Reinerhaltung des theologischen Erbes von Martin Luther ein und griff insbesondere die Befürworter der albertinischen Religionspolitik und des Leipziger Interims scharf an. Seine bedeutenden Leistungen als Altphilologe, Exeget und Kirchenhistoriker wurden überlagert von erbitterten Debatten mit seinen Gegnern, die F. zunehmend isolierten und ihn der Nachwelt als Gescheiterten erscheinen ließen. – F., dessen familiäre Wurzeln im oberitalienischen Patriziat liegen, erhielt bis ins zwölfte Lebensjahr eine vom Vater beaufsichtigte Schulbildung, die er ab 1536 an der Schule von San Marco in Venedig (Italien) vervollkommnete. Die humanistische Lehranstalt und sein Lehrer Giovanni Battista di Cippelli förderten insbesondere F.s überragende philologische Begabung. Die Absicht, Mönch zu werden, verwarf F. auf den Rat des Franziskaner-Provinzials Baldus Lupetinus hin, der ihm die Gedanken der Wittenberger Reformation nahebrachte und die Übersiedlung nach Deutschland empfahl. 1539 begab sich F. als mittelloser Student nach Basel (Schweiz), später nach Tübingen. Ab 1541 hielt er sich an der Universität Wittenberg auf und wurde mit Luther und Philipp Melanchthon persönlich bekannt. Eigener Angabe zufolge bewältigte F. 1542 unter dem seelsorgerlichen Einfluss Luthers eine schwere Lebens- und Glaubenskrise. Ihre Überwindung führte F. später zu seiner Legitimation als Glaubenskämpfer an. – Unter den Wittenberger Gelehrten erwarb sich F. einen ausgezeichneten Ruf. 1544 wurde er zum Professor für Hebräisch berufen und zählte bedeutende Theologen wie Johannes Aurifaber (eigentl. Goldschmid) und Johannes Mathesius zu seinen Schülern. Während der vorübergehenden Schließung der Universität Wittenberg infolge des Schmalkaldischen Kriegs fand F. Anstellung am Paedagogium in Braunschweig. Nach seiner Rückkehr in die alte Stellung überwarf er sich mit Melanchthon, dessen Billigung der Religionspolitik des neuen sächsischen Kurfürsten Moritz er als Verrat an den Grundsätzen der Reformation betrachtete. Gegen das Augsburger und später das Leipziger Interim entfachte F. einen leidenschaftlichen Kampf, der sein ganzes weiteres Leben bestimmte. Eine entscheidende biografische Zäsur stellte seine Flucht aus Wittenberg im Frühjahr 1549 dar. Zusammen mit anderen Interimsgegnern, wie Nikolaus von Amsdorf, organisierte F. in der Folgezeit von Magdeburg aus heftige publizistische Angriffe auf Kaiser, Reich und die Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse im albertinischen Sachsen. Unter den Autoren der sog. Magdeburger Herrgotts-Kanzlei nahm der vielseitige, ideenreiche und methodisch von Melanchthon geprägte F. mit über 200 eigenen Texten, die häufig unter Pseudonym erschienen, die führende Stellung ein. Charakteristisch für F.s Streitschriften wurde v.a. die Nutzung philologischer Erkenntnisse zur Begründung der Rechtfertigungsbotschaft als dem theologischen Zentrum der Reformation. – Seine ebenso ruhe- wie kompromisslose Wesensart ließ F. in allen wichtigen theologischen Debatten seiner Zeit Position beziehen, was ihn berühmt, aber zunehmend auch einsam machte. Von seinem einstigen Unterstützer Andreas Osiander distanzierte sich F. in Fragen der Rechtfertigung, gegen Georg Major polemisierte er über die Grenzen guter Werke und mit Kaspar Schwenckfeld setzte er sich über die Bedeutung des Wortes Gottes auseinander. Da F. kein kirchliches Amt innehatte - in Magdeburg bestritt er mühsam seinen Lebensunterhalt als Druckereiaufseher - konnte er in diesen und weiteren Kontroversen stets unbefangen und frei von kirchenpolitischen Rücksichten auftreten. F. trägt in diesem Sinne eine Mitverantwortung dafür, dass das Luthertum zu der am heftigsten von theologischen Debatten erschütterten Konfession im Reich wurde. Diese deutete er als Folge des im Interim eröffneten endzeitlich-antichristlichen Angriffs auf die wahre Kirche. – Seine Rolle als unerbittlicher Mahner der „reinen Lehre“ machte F. insbesondere bei den albertinischen Theologen verhasst, deren Exponent Johannes Pfeffinger ihn als „Pest des deutschen Vaterlandes“ bezeichnete. Dem Leipziger Interim maß F. schismatische Bedeutung zu und beharrte auf einem öffentlichen Schuldbekenntnis Melanchthons, was die Coswiger Ausgleichsverhandlungen im Januar 1557 scheitern ließ. Befördert wurde der Gegensatz zu den albertinischen Theologen durch die vermutlich von Amsdorf vermittelte Berufung F.s an die Universität Jena, wo er 1557 die neutestamentliche Professur erhielt. Unter F. verschärfte sich die ohnehin zwischen Jena und Wittenberg bestehende Konkurrenz, indem der unbequeme Lutheranhänger die ernestinische Bildungsstätte zur wahren Erbin der Wittenberger Theologie stilisierte. Das von der ernestinischen Politik zunächst unterstützte Wirken F.s rief jedoch auch in Jena bald Unruhe hervor, u.a. weil sich F. im synergistischen Streit gegen Kollegen der eigenen Fakultät wandte und gegen den Professor Victorinus Strigel sogar eine Untersuchung initiierte. 1561 wurde F. seines Amts in Jena enthoben und verbrachte den Rest seines Lebens als vielfach angefeindeter und gemiedener Mann auf rastloser Wanderschaft, u.a. in Regensburg, Antwerpen (Belgien), Straßburg (frz. Strasbourg) und Basel. Vielerorts der Landesverweisung anheimgefallen, fand der schwerkranke F. im Kloster zu den Weißen Frauen in Frankfurt/Main eine letzte Zuflucht, wo er am 11.3.1575 starb. – Seine Anhänger in verschiedenen Teilen des Reichs, die F.s direktem oder indirektem Einfluss zahlreiche Bekenntnisschriften (Confessio Magdeburgensis 1550, Regensburger Katechismus 1554, Lüneburger Artikel 1561, Mansfelder Bekenntnisse 1559-1565, Reußisch-Schönburgische Konfession 1567) verdanken, verloren nach der Verwerfung flacianischer Lehrpositionen, v.a. von F.s Erbsündenlehre, durch die Konkordienformel 1577 rasch an Bedeutung. Dagegen bleibt F.s fundamentaler Beitrag zur Entwicklung der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung bis heute anerkannt. In seinen „Carmina vetusta“ (1548) sammelte F. poetische Zeugnisse gegen die Papstkirche, die er im „Catalogus testium veritatis“ (1556) um weitere Traditionslinien in der Geschichte der christlichen Kirche ergänzte und damit - ausgehend von Luthers Anregungen - dem entstehenden protestantischen Geschichtsbewusstsein scharfe Konturen gab. Die in gleicher Absicht konzipierten 13-bändigen Magdeburger Centurien („Ecclesiastica historia“, 1559-1574) initiierte und begleitete F. nur organisatorisch, während als eigentliche Verfasser Johannes Wigand, Matthäus Judex u.a. in Erscheinung traten.

Werke Carmina vetusta ante trecentos annos scripta, Wittenberg 1548; Wider das Interim, Magdeburg 1549; Widder die newe Reformation D. Pfeffingers, Magdeburg 1550; mit N. Gallus, Antidotum auff Osiandri gifftiges Schmeckbier, Magdeburg 1552; Von der h.[eiligen] Schrifft und irer wirkung widder Caspar Schwenckfeld, Magdeburg 1553; Catalogus testium veritatis, Basel 1556; Paralipomena Dialectices, Basel 1558; Clavis Scripturae Sacrae, Basel 1567; Catalogus testium veritatis. Historia der Zeugen, Bekenner und Maerter …, Frankfurt/Main 1573 (Übersetzung aus dem Lateinischen).

Literatur W. Preger, Matthias F. Illyricus und seine Zeit, 2 Bde., Erlangen 1859-1861; H. Scheible, Die Entstehung der Magdeburger Zenturien. Ein Beitrag zur Geschichte der historiographischen Methode, Gütersloh 1966; J. Bauer/J. Matešić (Hg.), Matthias F. Illyricus 1575-1975, Kallmünz/Regensburg 1975; J. Matešić (Hg.), Matthias F. Illyricus – Leben und Werk, München 1993; M. Hartmann, Humanismus und Kirchenkritik. Matthias F. als Erforscher des Mittelalters, Stuttgart 2001; O. K. Olson, Matthias F. and the survival of Luther‘s reform, Wiesbaden 2002; T. Kaufmann, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ 1548-1551/2, Tübingen 2003; ders., Matthias F. Illyricus. Lutherischer Theologe und Magdeburger Publizist, in: W. Freitag (Hg.), Mitteldeutsche Lebensbilder, Bd. 7: Menschen im Zeitalter der Reformation, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 177-199; ders., Die Anfänge der Theologischen Fakultät Jena im Kontext der „innerlutherischen“ Kontroversen zwischen 1548 und 1561, in: V. Leppin/G. Schmidt/S. Wefers (Hg.), Johann Friedrich I. - der lutherische Kurfürst, Gütersloh 2006, S. 209-258; A. Mentzel-Reuters/M. Hartmann (Hg.), Catalogus und Centurien. Interdisziplinäre Studien zu Matthias F. und den Magdeburger Centurien, Tübingen 2008; L. Ilić, Theologian of Sin and Grace. The Process of Radicalization in the Theology of Matthias F. Illyricus, Göttingen 2014. – ADB 7, S. 88-101; DBA I, II, III; NDB 5, S. 220-222; DBE 3, S. 334; BBKL 2, Sp. 43-48; LThK3 3, Sp. 1312f.; Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 6, Leipzig 1899, S. 82-92; RGG4 3, Sp. 151f.; TRE 11, S. 206-214; I. Dingel/V. Leppin (Hg.), Das Reformatorenlexikon, Darmstadt 2014, S. 116-122.

Porträt Bildnis des Mathias F., Nicolaus Häubelin, um 1670, Radierung, Universitätsbibliothek Leipzig, Porträtstichsammlung, Foto: 2009 (Bildquelle) [Public Domain Mark 1.0; dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Public Domain Mark 1.0 Lizenz]; Matthias F., unbekannter Künstler, um 1560, Ölgemälde, Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Michael Wetzel
8.2.2018


Empfohlene Zitierweise:
Michael Wetzel, Artikel: Matthias Flacius,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1438 [Zugriff 20.4.2024].

Matthias Flacius



Werke Carmina vetusta ante trecentos annos scripta, Wittenberg 1548; Wider das Interim, Magdeburg 1549; Widder die newe Reformation D. Pfeffingers, Magdeburg 1550; mit N. Gallus, Antidotum auff Osiandri gifftiges Schmeckbier, Magdeburg 1552; Von der h.[eiligen] Schrifft und irer wirkung widder Caspar Schwenckfeld, Magdeburg 1553; Catalogus testium veritatis, Basel 1556; Paralipomena Dialectices, Basel 1558; Clavis Scripturae Sacrae, Basel 1567; Catalogus testium veritatis. Historia der Zeugen, Bekenner und Maerter …, Frankfurt/Main 1573 (Übersetzung aus dem Lateinischen).

Literatur W. Preger, Matthias F. Illyricus und seine Zeit, 2 Bde., Erlangen 1859-1861; H. Scheible, Die Entstehung der Magdeburger Zenturien. Ein Beitrag zur Geschichte der historiographischen Methode, Gütersloh 1966; J. Bauer/J. Matešić (Hg.), Matthias F. Illyricus 1575-1975, Kallmünz/Regensburg 1975; J. Matešić (Hg.), Matthias F. Illyricus – Leben und Werk, München 1993; M. Hartmann, Humanismus und Kirchenkritik. Matthias F. als Erforscher des Mittelalters, Stuttgart 2001; O. K. Olson, Matthias F. and the survival of Luther‘s reform, Wiesbaden 2002; T. Kaufmann, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ 1548-1551/2, Tübingen 2003; ders., Matthias F. Illyricus. Lutherischer Theologe und Magdeburger Publizist, in: W. Freitag (Hg.), Mitteldeutsche Lebensbilder, Bd. 7: Menschen im Zeitalter der Reformation, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 177-199; ders., Die Anfänge der Theologischen Fakultät Jena im Kontext der „innerlutherischen“ Kontroversen zwischen 1548 und 1561, in: V. Leppin/G. Schmidt/S. Wefers (Hg.), Johann Friedrich I. - der lutherische Kurfürst, Gütersloh 2006, S. 209-258; A. Mentzel-Reuters/M. Hartmann (Hg.), Catalogus und Centurien. Interdisziplinäre Studien zu Matthias F. und den Magdeburger Centurien, Tübingen 2008; L. Ilić, Theologian of Sin and Grace. The Process of Radicalization in the Theology of Matthias F. Illyricus, Göttingen 2014. – ADB 7, S. 88-101; DBA I, II, III; NDB 5, S. 220-222; DBE 3, S. 334; BBKL 2, Sp. 43-48; LThK3 3, Sp. 1312f.; Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 6, Leipzig 1899, S. 82-92; RGG4 3, Sp. 151f.; TRE 11, S. 206-214; I. Dingel/V. Leppin (Hg.), Das Reformatorenlexikon, Darmstadt 2014, S. 116-122.

Porträt Bildnis des Mathias F., Nicolaus Häubelin, um 1670, Radierung, Universitätsbibliothek Leipzig, Porträtstichsammlung, Foto: 2009 (Bildquelle) [Public Domain Mark 1.0; dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Public Domain Mark 1.0 Lizenz]; Matthias F., unbekannter Künstler, um 1560, Ölgemälde, Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Michael Wetzel
8.2.2018


Empfohlene Zitierweise:
Michael Wetzel, Artikel: Matthias Flacius,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1438 [Zugriff 20.4.2024].