Hans Thierfelder
T. verbrachte seine Kindheit in Auerbach/Erzgebirge. Im Kriegsjahr 1917 erlag sein Vater schweren Verletzungen, die er sich als Fliegeroffizier beim Luftkampf zugezogen hatte. Nach dem Tod des Vaters kümmerten sich sein Großvater August Robert Wieland sowie sein Onkel
Max Wieland um seine Erziehung und Ausbildung. Nach dem Besuch der Volksschule in Auerbach, der Realschule in Thum/Erzgebirge und der Oberschule in Klotzsche bei Dresden legte T. am Gymnasium Neuenburg (Schweiz) sein Abitur ab. Hierauf folgte die Ausbildung an der Höheren Fachschule für Wirkerei und Strickerei Chemnitz zum Textilingenieur. Seine betriebliche und kaufmännische Ausbildung erhielt er im großväterlichen Betrieb in Auerbach. – T.s Großvater war Eigner der „Feinstrumpf Großwerke A. Robert Wieland, Auerbach“ - kurz ARWA -, einer der größten deutschen Strumpffabriken jener Zeit. Nach dem Tod von August Robert Wieland 1940 übernahm T.s Mutter die Leitung der Firma. T. wurde bereits 1936 Prokura erteilt und 1937 von seinem Großvater zum Betriebsführer bestellt, hatte jedoch selbst keine Anteile am Unternehmen. 1941 trat er der NSDAP bei. Vom 1.3.1941 bis 31.7.1944 leistete er seinen Kriegsdienst bei der Marine. Er war u.a. Leitstandsführer bei der Marineartillerieabteilung 201, Marineflakabteilung 225, 215 und 711, später Zugführer bei der 1. Kanalwachabteilung und Adjutant bei der 1. Marinenebelabteilung. Seine Laufbahn beendete er mit dem Rang eines Leutnants d.R. – 1937 bis 1945 trat T. als Förderer regionaltypischer Volkskunst im sächsischen Erzgebirge in Erscheinung. Durchaus im Sinne des nationalsozialistischen Konzepts von Volk und Brauchtumspflege unterstützte er z.B. zusammen mit dem Unternehmer Friedrich Emil Krauß erzgebirgische Kulturschaffende wie den Musiker
Helmuth Stapff, den Mundartdichter Max Wenzel und den Volksschullehrer
Hellmuth Vogel. – Da das ARWA-Werk Auerbach ab Herbst 1943 auch für das Rüstungsunternehmen AGO Flugzeugwerke GmbH Oschersleben produzierte, wurde die Firma per Volksentscheid vom 30.6.1946 enteignet. T.s Versuche, ARWA von der Liste der zu enteignenden Betriebe zu streichen, scheiterten. Bereits im Frühjahr 1946 hatte sich T. nach West-Berlin abgesetzt, da er in Auerbach keine Zukunft für sich sah. Zu dieser Zeit kam es in Westdeutschland zu Engpässen im Angebot an Strümpfen, weil sich die gesamte deutsche Strumpfindustrie in Sachsen befand. Es fehlte aber auch an Maschinen, denn die Strumpfmaschinenfabriken befanden sich alle auf dem Gebiet der SBZ. In dieser Situation gelang T., mit dem Namen ARWA, dem Renommee seines Großvaters und den jahrelang gepflegten Geschäftsbeziehungen zu Kunden in aller Welt, innerhalb weniger Monate ein geschickter geschäftlicher Schachzug: Seine früheren Geschäftspartner zahlten zehn Prozent ihrer Aufträge im Voraus, um ihn in die Lage zu versetzen, alte Cottonmaschinen aus Amerika zu importieren. Nach und nach sammelte T. auf diese Weise 2 Millionen DM und konnte mithilfe dieses Gelds zwölf Maschinen importieren und sie in einer Fabrik im württembergischen Backnang aufstellen. Die ersten Strümpfe konnten zu Pfingsten 1949 produziert werden. Gleichzeitig suchte T. nach einem Gelände für einen Fabrikneubau und zugleich für die Errichtung einer Siedlung für die Angestellten. Er fand dies mithilfe der württembergischen Landesplanungsbehörde in Unterrot bei Gaildorf. Noch im Herbst 1949 begann dort die Produktion. Bereits 1952 hatte die Firma 1.450 Mitarbeiter und einen Marktanteil von 20 Prozent. – T. legte Wert auf eine gute Unternehmenspolitik gegenüber seinen Mitarbeitern: So wurden überdurchschnittliche Löhne gezahlt und Betriebsfeiern veranstaltet, bei denen bekannte Künstler wie
Margot Hielscher,
Vico Torriani oder
Peter Frankenfeld auftraten. In Meersburg/Bodensee wurde ein Ferienheim errichtet, in dem Betriebsangehörige freien Aufenthalt hatten. Weiterhin gab es u.a. Zuschüsse zum Wohnungsbau, Mietwagen, einen Kindergarten, einen Laden, eine Bibliothek, ein Werksorchester, eine Betriebskranken- und eine Unterstützungskasse sowie einen Betriebsarzt. Infolge der guten wirtschaftlichen Lage entstanden weitere Werke in Berlin, Wien und Parys (Südafrika). Besonders sein Werk in Bischofswiesen fand in den 1950er-Jahren große Beachtung. Es zählte zu den modernsten Industriebauten dieser Zeit. Die gläserne Fabrik, in der man miterleben konnte, wie ein Strumpf entsteht, wurde zu einem Besuchermagnet dieser Region. – Ein besonderer Coup gelang T. im Juni 1951 mit der Wahl einer „Beinkönigin“. Damit war die bis dahin die größte in der BRD durchgeführte Marktanalyse verbunden, um die Beine der Damen nach dem Zweiten Weltkrieg neu zu vermessen und somit dem Strumpf eine bessere Passform zu geben. Mit diesen Daten sicherte sich T. erneut wichtige Marktanteile. – Im Juni 1956 begann eine Entwicklung in der Strumpfindustrie, die für viele Firmen dieser Branche zum Verhängnis werden sollte. Die Firmen unterboten sich gegenseitig in den Preisen und waren somit gezwungen, billiger zu produzieren. Auch T.s Unternehmen war von diesem Preiskampf betroffen. Für seine Angestellten verschlechterten sich dadurch die Arbeitsbedingungen enorm. So wurden viele Fachkräfte entlassen und durch Hilfskräfte ersetzt, um die Betriebskosten zu senken. Die bis dahin übertariflichen Löhne wurden gekürzt. Dies führte schließlich zum Streik der ARWA-Mitarbeiter ab dem 11.7.1958. Darauf reagierte T. mit dem Mittel der Aussperrung, was für ihn Gelegenheit war, während der Konjunkturflaute für kurze Zeit seine Arbeiter nicht mehr bezahlen zu müssen. Jedoch war die Rezession der Strumpfindustrie nicht mehr aufzuhalten. Infolge von Massenimporten, Preiskämpfen und Überkapazitäten verlor ARWA ab Anfang der 1960er-Jahre stetig Marktanteile. Im September 1973 musste sich T. der Konkurrenz beugen und seine Strumpffabriken an den US-Konzern Hudson verkaufen. Nach seinem Rückzug aus der Geschäftswelt lebte T. die meiste Zeit in St. Moritz (Schweiz) oder in Westerland auf Sylt. – T. profitierte vom Aufschwung der westdeutschen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg und zählt zu den bedeutenden Wirtschaftspionieren der BRD. Die Marke ARWA wurde zu einem Symbol des westdeutschen Wirtschaftswunders und galt durch die Wurzeln in der erzgebirgischen Wirkertradition lange Zeit als Traditionsunternehmen. Heute erinnern noch Straßennamen in Gaildorf-Unterrot an den ehemaligen Werksstandort.
Quellen Privatarchiv Familie Drechsel; Firmenarchiv A. Robert Wieland Strumpffabriken Auerbach/Erzgebirge (ARWA); Mittelschule Auerbach, Archiv, Zensurenbuch Schule Auerbach 1922.
Literatur C. Riess, Sie haben es noch einmal geschafft, Berlin u.a. 1955; K. Wolf, Geheimnisse des Erfolges, Berlin/Düsseldorf 1957; Der Hans fängt wieder an, in: Der Spiegel 1954, H. 10, S. 29-33; Preise kaputt - Westdeutschlands Strumpfindustrie ist durch Überproduktion und Preiskämpfe in Schwierigkeiten geraten, in: Der Spiegel 1971, H. 40, S. 94f.; H. König, Menschen aus dem Limpurger Land, Horb/Neckar 1998; Nodelzang‘ un Maschenfang. Auerbacher Strumpfgeschichte und Strumpfgeschichten, hrsg. von der Gemeinde Auerbach/Erzgebirge, Stollberg 2001; S. Schmidt, Ursula Thierfelder geb. Thies aus Gumbinnen, in: Gumbinner Heimatbrief 109/2006, S. 71-77; K. M. Mieth (Hg.), Zwischen Davos und Auerbach, Dresden 2010. – DBA II.
Porträt Fotografie, ca. 1935, Familienarchiv Drechsel (Bildquelle).
Falk Drechsel
19.12.2011
Empfohlene Zitierweise:
Falk Drechsel, Artikel: Hans Thierfelder,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/25479 [Zugriff 4.11.2024].
Hans Thierfelder
Quellen Privatarchiv Familie Drechsel; Firmenarchiv A. Robert Wieland Strumpffabriken Auerbach/Erzgebirge (ARWA); Mittelschule Auerbach, Archiv, Zensurenbuch Schule Auerbach 1922.
Literatur C. Riess, Sie haben es noch einmal geschafft, Berlin u.a. 1955; K. Wolf, Geheimnisse des Erfolges, Berlin/Düsseldorf 1957; Der Hans fängt wieder an, in: Der Spiegel 1954, H. 10, S. 29-33; Preise kaputt - Westdeutschlands Strumpfindustrie ist durch Überproduktion und Preiskämpfe in Schwierigkeiten geraten, in: Der Spiegel 1971, H. 40, S. 94f.; H. König, Menschen aus dem Limpurger Land, Horb/Neckar 1998; Nodelzang‘ un Maschenfang. Auerbacher Strumpfgeschichte und Strumpfgeschichten, hrsg. von der Gemeinde Auerbach/Erzgebirge, Stollberg 2001; S. Schmidt, Ursula Thierfelder geb. Thies aus Gumbinnen, in: Gumbinner Heimatbrief 109/2006, S. 71-77; K. M. Mieth (Hg.), Zwischen Davos und Auerbach, Dresden 2010. – DBA II.
Porträt Fotografie, ca. 1935, Familienarchiv Drechsel (Bildquelle).
Falk Drechsel
19.12.2011
Empfohlene Zitierweise:
Falk Drechsel, Artikel: Hans Thierfelder,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/25479 [Zugriff 4.11.2024].