Bernhard Hirschel
H. war Mediziner und Medizinhistoriker, der sich einen Großteil seines Lebens mit der Homöopathie beschäftigte, weshalb er als einer der deutschen Vorreiter innerhalb dieses Gebiets bezeichnet werden kann. Darüber hinaus engagierte er sich insbesondere während der revolutionären Ereignisse 1848/49 für den Demokratisierungsprozess in Sachsen und blieb lange Zeit seiner Heimatstadt Dresden eng verbunden. – H.s Familie lebte ein entbehrungsreiches Leben, welches v.a. darauf ausgerichtet war, H. und seinen sechs Geschwistern die bestmögliche Bildung zu ermöglichen. H. selbst beschrieb seine Eltern als sehr gütige, fleißige Menschen und erinnerte sich an eine glückliche Kindheit, welche durch eine gewisse Armut, aber auch Liebe geprägt war. Ab dem Alter von vier Jahren besuchte H. die jüdische Grundschule - den Cheder der Lehrer
Gutman und
Ruben Meyer - und lernte Hebräisch. H. beschrieb diese Phase später als nicht besonders schön und beklagte sich über ungebildete Mitschüler, schlechte Lehrer und eine ungenügende Lehre. Ab 1823 besuchte er den Unterricht von Marcus David Landau, der Privatlehrer und Vorbeter in der Dresdner Synagoge war, und erhielt hierbei nach eigenen Angaben erstmals wertvolle geistige Anregungen. Mit seinen Mitschülern, zu denen der spätere Leipziger Kaufmann Jacob Nachod gehörte, erwarb H. Kenntnisse in Fächern wie Geografie, Geschichte sowie Rechnen. Ab 1825 besuchte H. nach dem Willen seiner Mutter und vorher genommenen Privatunterricht in Latein und Griechisch als einer der ersten Dresdner Juden die christliche Kreuzschule. Diese Zeit behielt H. generell in guter Erinnerung. Seine Mitschüler und Lehrer hätten ihn fair behandelt, während er größeren Anfeindungen wegen dieses Schritts in der jüdischen Gemeinde ausgesetzt gewesen sei. H. war ein guter Schüler und konnte 1832 das Abitur ablegen. Im Oktober desselben Jahrs nahm H. sein Medizinstudium, welches sich seine Mutter für ihn wünschte, aufgrund von Geldmangel an der eher zweitklassigen Königlich-Sächsischen medizinisch-chirurgischen Akademie im Kurländer Palais zu Dresden auf. Da die Dresdner Akademie aber nicht das Recht besaß, akademische Grade zu verleihen, besuchte H. ab 1834 die Universität in Leipzig, um als Arzt zu promovieren. Schweren Herzens verließ er seine Heimatstadt und finanzierte sein Studium zum Großteil durch Spenden des Dresdner Mendelssohn-Vereins. 1838 kehrte H. nach Dresden zurück, wo er bis zu seinem Tod als praktischer Arzt tätig war. Nach Beendigung seines Studiums widmete sich H. seiner Tätigkeit als Arzt und legte erste Publikationen, v.a. zur Medizingeschichte, vor. Von 1839 stammen die ersten Veröffentlichungen H.s, in welchen er sich mit medizinischen Gesellschaften und der Wasserheilkunde beschäftigte. Daneben schrieb er Rezensionen v.a. französischer Zeitschriften und beschäftigte sich hierbei mit einer großen Auswahl medizinischer Themen. Während er sich in seiner ersten großen Veröffentlichung 1840 noch der Wasserheilkunde widmete, wandte sich H. recht bald jenen Themen zu, welche ihn für den Rest seines Lebens beschäftigen sollten. So erschien 1843 die erste Auflage von H.s umfangreichem medizinhistorischen Werk „Geschichte der Medicin in den Grundzügen ihrer Entwickelung“ sowie 1846 der zuvor länger geplante erste Band zur „Geschichte der medicinischen Schulen und Systeme des neunzehnten Jahrhunderts in Monographien“. Auch die Homöopathie fiel ab 1843/44, also etwa fünf bis sechs Jahre nach Beginn seiner Tätigkeit als praktischer Arzt, immer mehr in H.s Interessengebiet. Außerdem war H. 1846 bis 1849 als Stellvertreter des Totenbeschauers im 1. Bezirk tätig. In den Jahren nach seiner Rückkehr aus Leipzig konnte H. sich zu einem viel beachteten Arzt entwickeln. 1844 heiratete er
Cäcilie Levi, deren Eltern
Judith und
Wolf Simon Levi zu den vermögendsten Dresdner Handelsfamilien zählten. – In der zweiten Hälfte der 1840er-Jahre veröffentlichte H. keine medizinischen Bücher oder Aufsätze mehr, da er sich nun verstärkt politisch engagierte. H. widmete sich bereits im Vormärz den politischen Ereignissen der Zeit und veröffentlichte zu diesem Zweck 1846 das Buch „Sachsens Regierung, Stände und Volk“, welches eine Analyse der verschiedenen politischen Gruppierungen im Sächsischen Landtag beinhaltete. Weiterhin thematisierte er die bestehenden Presseverhältnisse und beklagte u.a. die Repression von Zeitschriften. H. publizierte den Band anonym, da er - aufgrund der darin geäußerten Kritik an den politischen Zuständen in Sachsen - eine Bestrafung fürchtete. Außerdem erschien er wegen der Pressezensur nicht in Sachsen, sondern wurde in Mannheim verlegt. Erst drei Jahre später bekannte er sich in seiner Schrift „Sachsens jüngste Vergangenheit“ zur Autorenschaft und bezeichnete die Märzkämpfe als „glorreiche Erhebung des deutschen Volkes“, womit er sich eindeutig auf der Seite der Revolutionäre positionierte. Dies wird auch an seinem politischen Engagement in dieser Zeit deutlich. H. war ab 1848 Mitglied des Ausschusses im Dresdner Vaterlandsverein und wirkte ab 1849 als erster jüdischer Stadtverordneter Sachsens in der Dresdner Stadtverordnetenversammlung mit. Darüber hinaus wurde er im Juni 1848 zu einem der fünf Vorsteher der Israelitischen Religionsgemeinschaft Dresden gewählt. In diesen Funktionen äußerte sich H. öffentlich und umfassend zu den vorherrschenden politischen Themen dieser Zeit, z.B. über das Wahlgesetz, die Staatsform oder die nationale Frage, und bettete hierbei die Emanzipation der Juden in den gesamten Demokratisierungsprozess der Gesellschaft ein. Zu diesem Zweck veröffentlichte H. 1848 auch einen umfangreichen Entwurf für eine neue Verfassung, die u.a. eine Mitsprache von Volksvertretern und die Umgestaltung der Gerichtsverfahren vorsah. Am 9.5.1849 wurde H. infolge des Dresdner Maiaufstands festgenommen und verbrachte etwa zweieinhalb Monate in Haft. Die genaue Rolle H.s während des Maiaufstands ist nicht abschließend geklärt, jedoch wird davon ausgegangen, dass er nicht aktiv mitkämpfte, sondern seiner Tätigkeit als Arzt nachging und Verwundete versorgte, sodass wohl der Grund für die Festnahme eher in seiner Tätigkeit im Dresdner Vaterlandsverein zu suchen ist. Während seiner Inhaftierung verfasste H. sein „Tagebuch eines Gefangenen“ und beschrieb diese Zeit als sehr deprimierend. Da er darüber hinaus krank zu sein schien, äußerte er mehrfach den Gedanken, sich aus sämtlichen politischen Betätigungen zurückzuziehen. So bemängelt er, dass er in den entscheidenden Momenten nicht in der Lage gewesen sei, eine öffentliche Rolle zu spielen, und sich deshalb ins Privatleben zurückziehen möchte. Nach seiner Haft, die durch Zahlung einer Kaution ihr Ende fand, setzte er diese Gedanken in die Tat um und legte sein Vorsteheramt bei der jüdischen Gemeinde 1849 nieder. Ab 1850 sind keine politischen Tätigkeiten H.s mehr feststellbar. Er widmete sich wieder vollends seinem Arztberuf und nun ganz verstärkt der Homöopathie. – Ab 1851 veröffentlichte H. erste literarische Beiträge zur Homöopathie und gründete im Oktober desselben Jahrs die „Zeitschrift für homöopathische Klinik“, welche ab 1856 als „Neue Zeitschrift für homöopathische Klinik“ vertrieben wurde und deren Herausgeber H. bis zu seinem Tod war. Nach eigenen Angaben von 1858 hatte die Zeitschrift eine Auflage von 7.000 Exemplaren. Zu den Lesern sollen u.a. die Königin von Spanien sowie der König und die Königin von Hannover gehört haben. 1856 erschien H.s. wohl bekanntestes Werk „Der homöopathische Arzneischatz in seiner Anwendung am Krankenbette“. Der Band erfuhr - bis nach H.s Tod - insgesamt 17 Auflagen und wurde in mehrere Sprachen übersetzt, z.B. ins Spanische, Französische und Dänische. Dies macht deutlich, dass H. sich zu einem international geachteten Fachmann für Homöopathie entwickelt hatte. So wurde er 1867 beim Internationalen homöopathischen Congress zum Vizevorsitzenden gewählt. In der Folgezeit erschienen viele weitere Werke H.s, in denen er oft durchaus streitbar als leidenschaftlicher Verteidiger der Homöopathie auftrat. Dabei wurde er schon zu Lebzeiten in verschiedenen Rezensionen für diesen Einsatz kritisiert, da er der Homöopathie einen Platz einräumte, der ihr damals nicht gerecht wurde. So wurde ihr wissenschaftlicher Wert besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfach allgemein angezweifelt, was H. nicht davon abhielt, sich weiterhin mit dieser Thematik zu beschäftigen, v.a. da sie weltweit trotz allem weiterhin viele Anhänger besaß. Das große Interesse an der Homöopathie zeigt, dass trotz größerer diagnostischer Fortschritte die Ärzte therapeutisch noch immer weitgehend hilflos waren und die Homöopathie aufgrund fehlender Alternativen eine Möglichkeit bot, nach welcher die Ärzte dieser Zeit griffen. H. selbst ließ dieses Thema bis zu seinem Tod, welcher ihn schließlich aufgrund einer Bauchfellentzündung an seinem Geburtstag 1874 ereilte, nicht mehr los. – Neben seiner umfangreichen beruflichen und literarischen Arbeit betätigte sich H. während seines gesamten Lebens in der jüdischen Glaubensgemeinschaft. So übte er beispielsweise nach der Revolution eine Tätigkeit als Lehrer an der Synagoge in Dresden aus, unterstützte verschiedene israelische Vereine und war einige Jahre als Gemeindeältester der jüdischen Gemeinde tätig. Außerdem betrieb H. eine finanzielle Unterstützung für die Witwen verstorbener Kollegen. – In den Nekrologen jener Zeit wurde H. oft als ein Mann gewürdigt, welcher einen unermüdlichen Einsatz für seine Patienten zeigte und äußerst beliebt war. Im Nekrolog der von H. gegründeten „Neuen Zeitschrift für homöopathische Klinik“ werden seine Verdienste für die Medizingeschichtsschreibung und die Homöopathie erwähnt, während sein Engagement zur Zeit der Revolution 1848/49 keine Beachtung fand. In der heutigen Medizingeschichtsschreibung findet H. kaum Erwähnung, was wohl der später immer rasanter verlaufenden Entwicklung in der Medizin geschuldet ist. Gleichwohl kann er neben seiner umfangreichen Betätigung als Mediziner und Medizinhistoriker als Vorreiter der deutschen Homöopathie bezeichnet werden.
Werke Geschichte der Medicin in den Grundzügen ihrer Entwickelung, Dresden/Leipzig 1843; Geschichte der medicinischen Schulen und Systeme des neunzehnten Jahrhunderts in Monographien, Dresden 1846; Sachsens Regierung, Stände und Volk, Mannheim 1846; Tagebuch eines Gefangenen, Dresden 1849; Sachsens jüngste Vergangenheit. Ein Beitrag zur Beurteilung der Gegenwart, Freiberg 1849; Der homöopathische Arzneischatz in seiner Anwendung am Krankenbette. Für Familie und Haus, Dresden 1856, 31861; Meine Lebensgeschichte, Dresden 1860.
Literatur C. Domke, Der Dresdner Arzt Bernhard H. (1815-1874) und seine Verdienste um die Geschichte der Medizin, Diss. Dresden 1986; S. Höppner, Juden in Sachsen während der Revolution 1848/49, in: K. Jeschke/G. Ulbricht (Hg.), Dresden, Mai 1849. Tagungsband, Dresden 2000, S. 134-143; H. Zwahr, Biographische Zugänge zur zeitgenössischen Wahrnehmung des Dresdner Maiaufstandes, in: M. Schattkowsky (Hg.), Dresdner Maiaufstand und Reichsverfassung 1849, Leipzig 2000, S. 67-80; S. Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004. – DBA II.
Porträt Bernhard B., Fotografie, um 1870.
Christian Schmidt
18.1.2016
Empfohlene Zitierweise:
Christian Schmidt, Artikel: Bernhard Hirschel,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/9628 [Zugriff 22.12.2024].
Bernhard Hirschel
Werke Geschichte der Medicin in den Grundzügen ihrer Entwickelung, Dresden/Leipzig 1843; Geschichte der medicinischen Schulen und Systeme des neunzehnten Jahrhunderts in Monographien, Dresden 1846; Sachsens Regierung, Stände und Volk, Mannheim 1846; Tagebuch eines Gefangenen, Dresden 1849; Sachsens jüngste Vergangenheit. Ein Beitrag zur Beurteilung der Gegenwart, Freiberg 1849; Der homöopathische Arzneischatz in seiner Anwendung am Krankenbette. Für Familie und Haus, Dresden 1856, 31861; Meine Lebensgeschichte, Dresden 1860.
Literatur C. Domke, Der Dresdner Arzt Bernhard H. (1815-1874) und seine Verdienste um die Geschichte der Medizin, Diss. Dresden 1986; S. Höppner, Juden in Sachsen während der Revolution 1848/49, in: K. Jeschke/G. Ulbricht (Hg.), Dresden, Mai 1849. Tagungsband, Dresden 2000, S. 134-143; H. Zwahr, Biographische Zugänge zur zeitgenössischen Wahrnehmung des Dresdner Maiaufstandes, in: M. Schattkowsky (Hg.), Dresdner Maiaufstand und Reichsverfassung 1849, Leipzig 2000, S. 67-80; S. Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004. – DBA II.
Porträt Bernhard B., Fotografie, um 1870.
Christian Schmidt
18.1.2016
Empfohlene Zitierweise:
Christian Schmidt, Artikel: Bernhard Hirschel,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/9628 [Zugriff 22.12.2024].