Nickel List
Neben Lips Tullian und Johann Karaseck zählt L. zu den bekanntesten Räubergestalten der sächsischen Geschichte. Die lange Serie seiner Einbrüche, Diebstähle und Tötungsdelikte in Mittel- und Norddeutschland sorgte ebenso wie seine spektakuläre Hinrichtung dafür, dass L.s Verbrecherleben legendenhaft ausgeschmückt und in zahlreichen Gemälden, Dichtungen und Kinderbüchern bis hin zu einer Kinderoper verarbeitet wurde. Eine wissenschaftlich-kritische, auf gründlichen Archivstudien basierende Biografie, die dem historischen L. gerecht wird, liegt dagegen bislang nicht vor. – L. wuchs in ärmlichen Verhältnissen in der schönburgischen Residenzstadt Waldenburg auf. Im Jugendalter wurde er Reitknecht in der Gegend um Hartenstein und erwarb sich dort den Ruf eines guten Pferdekenners. Nach seiner Heirat ließ sich L. im Dorf Beutha nieder, wo er seit 1680 nachweisbar ist. Ob er zuvor der kurbrandenburgischen Armee angehört und an der Schlacht von Fehrbellin (1675) sowie an Kampfhandlungen in Frankreich (1679) teilgenommen hatte, konnte bisher anhand von Primärquellen nicht überprüft werden, sondern geht lediglich aus der Überlieferung des Seelsorgers und Beichtvaters
Sigismund Hosmann hervor, der L. vor seiner Exekution betreute. Belegbar ist dagegen, dass L. 1681 kursächsischer Kürassier wurde und im Großen Türkenkrieg bei der Belagerung von Ofen (ungar. Buda) zum Einsatz kam. Denn nach der zweiten Erstürmung dieser Stadt im September 1686 begannen jahrelange Auseinandersetzungen um L.s ehrenhafte Dienstentlassung. 1687 verließ er angeblich eigenmächtig seine Garnison und begann sich in Beutha eine Existenz als Gastwirt und Pferdehändler aufzubauen. Jedoch sah er sich dabei mehrfachen Übergriffen kursächsischer Soldaten ausgesetzt, die erfolglos versuchten, ihn wieder zum Militärdienst zu pressen. 1691 pachtete L. den Gasthof „Grüne Tanne“ in der gerade entstandenen Häuslersiedlung Raum bei Hartenstein. Die Herberge geriet rasch in Verruf, da sie von vielen aktiven, aber auch von unehrenhaft entlassenen Soldaten frequentiert wurde. In den 17 Monaten, während derer er den Gasthof gepachtet hatte, wurden erstmals persönliche Verdächtigungen gegen L. erhoben. U.a. brachte man ihn mit unaufgeklärten Pferdediebstählen in Verbindung. L. gelang es jedoch, die Vorwürfe zu entkräften, wohl auch, weil er sich in der Öffentlichkeit als gebildeter Mann inszenierte. Tatsächlich hatte er sich autodidaktisch profunde Kenntnisse der Astronomie und der Medizin angeeignet und wurde aufgrund dieses Wissens im bäuerlichen und kleinbürgerlichen Milieu der Grafschaft Hartenstein verehrt. Ihren Ausdruck fand diese Wertschätzung auch darin, dass er hohe schönburgische Beamte und Ratsherren als Paten seiner Kinder gewann. Da L. nicht als Anführer einer fest organisierten Räuberbande agierte, sondern sich stets unterschiedlichen Diebesbanden anschloss, blieb seine Beteiligung an zwei spektakulären Einbrüchen im vogtländischen Rittergut Mechelgrün (1692) und im Schloss Braunsdorf im Herzogtum Sachsen-Zeitz (1694) lange unbekannt. Selbst als ein Komplize des Mechelgrüner Raubs 1695 in L.s Scheune gewaltsam zu Tode kam, fand sich keine Handhabe gegen ihn. Erst ein beutereicher Einbruch bei dem Erbrichter
Hilbert in Kleinrückerswalde 1696 erbrachte den Nachweis für L.s kriminelles Tun. Die Verhaftung L.s scheiterte allerdings am unentschlossenen Vorgehen des Hartensteiner Landrichters. L. entzog sich der Festnahme, indem er am 24.6.1696 zwei Gehilfen des Landrichters erschoss und außer Landes floh. Sein Haus in Beutha, in dem sich die Tat ereignet hatte, wurde wenig später geschleift. Ein in Abwesenheit L.s geführter Prozess erklärte den Totschläger am 4.11.1697 für geächtet. – L. gelang es in der Folgezeit, noch fast ein Jahr lang seine wahre Identität zu verschleiern, indem er sich unter zahlreichen Pseudonymen u.a. in Leipzig, Halle/Saale, Wittenberg und Fulda aufhielt und weitere Einbrüche, z.B. im Dom zu
Naumburg, beging. Dabei kam er auch mit Banden in Berührung, die sich auf Messediebstähle in Leipzig spezialisiert hatten. Über Altonaer Juden knüpfte er schließlich Kontakte zu einer Diebesbande um den pensionierten Offizier
Gideon Perrmann und hielt sich seit 1698 vorwiegend im Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg auf. Dort trat er als Hochstapler unter dem Decknamen Johann Rudolph von der Mosel auf und verstand es, umgeben von einem kleinen Hofstaat und einer Konkubine, als weltmännischer und finanzkräftiger Adliger zu erscheinen. Im Januar 1698 war L. an einem Raub in Braunschweig beteiligt. Am 6.3.1698 drang er mit Hilfe eines Nachschlüssels mit mehreren Komplizen in die Lüneburger Michaeliskirche ein und entwendete die wertvolle „Goldene Tafel“, indem er dieses außergewöhnliche Kunstwerk aus dem Hauptaltar herausbrach. Der mit zahlreichen Beschädigungen einhergehende Raub galt unter den Zeitgenossen als ein bis dato beispielloses Verbrechen und führte dazu, dass man L. magische Künste zuschrieb. Nach einem neuerlichen Einbruch in Hof am 27.6.1698 wurden die Tatbeteiligten, unter ihnen L., in Daßlitz bei Greiz festgenommen. Dabei wurde ein Selbstmordversuch L.s vereitelt. Nach einem Gefängnisaufenthalt in Greiz erfolgte am 23.8.1698 L.s Überstellung nach Hof. Ein Auslieferungsgesuch nach Hartenstein blieb erfolglos. Stattdessen wurde L. Ende Oktober 1698 in Hof zum Tode verurteilt, die Strafe aber nicht vollzogen. Dies entsprach der Bitte der braunschweigischen Behörden, die L. abholen ließen und ihm von Januar bis Mai 1699 in Celle noch einmal den Prozess machten. Da L. für sich keine Überlebenschance sah, sagte er umfassend aus und belastete dabei seine Komplizen schwer. Anstatt des Räderns wurde er daraufhin zur milderen Hinrichtungsart des Zerschmetterns der Arme und Beine mit anschließender Enthauptung verurteilt. Ein Fluchtversuch in der Nacht vor der Exekution scheiterte durch Verrat. – Kurze Zeit nach der am 23.5.1699 vollzogenen Hinrichtung veröffentlichte L.s Gefängnisseelsorger Hosmann, der auch Zugang zu den Celler Prozessakten hatte, eine Lebensbeschreibung des Verbrechers, die L. mit etwa 50 Diebstählen und Kirchenrauben in Verbindung brachte. Dieser Lebenslauf war zwar spekulativ angereichert, liefert aber gleichwohl wichtige Erkenntnisse zur Sitten- und Kriminalitätsgeschichte nach dem Dreißigjährigen Krieg. Im 18. Jahrhundert übernahm ihn u.a. Johann Zedlers „Universal-Lexikon“. Angenommen wird, dass L.s Taten und Gerichtsprozess Friedrich Schiller als Vorbild für sein Drama „Die Räuber“ dienten. Unter den jüngeren belletristischen Verarbeitungen ragt
Siegfried Weinholds Erzählung „Der schwarze Nickel - das Räuberschicksal des Nicol L.“ (Chemnitz 1994) heraus. – Inzwischen sind der Forschung fast 120 Komplizen L.s namentlich bekannt. Die in L.s Wohnort Beutha errichtete Schandsäule sowie die Gedenksteine für die beiden von L. getöteten Hartensteiner Gerichtsschöppen befinden sich heute auf dem Dorffriedhof, ihre Inschriften sind aber aufgrund jahrhundertelanger Wettereinwirkung nicht mehr lesbar.
Quellen Sächsisches Staatsarchiv - Staatsarchiv Chemnitz, 30584 Grafschaft Hartenstein mit Herrschaft Stein. – Außführliche Relation, Wie es mit Der scharffen Execution, Derer in Zelle […] würcklich vollenzogen, 1699; Historische Ausführliche und glaubwürdige Erzehlung, was bey dem grossen Inquisitions-Process [...] wieder die Diebe der berühmten Güldenen Taffel bey dem Closter St. Michaelis in Lüneburg [...] angestellet worden, Celle/Leipzig 1699; [Sigismund Hosmann], Fürtreffliches Denck-Mahl der Göttlichen Regierung: Bewiesen an der uhralten höchst-berühmten Antiquität des Klosters S. Michaelis in Lüneburg der in dem hohen Altar daselbst gestandenen Güldenen Taffel [...] Wie der gerechte Gott Dero Räuber gantz wunderbarlich entdekket [...] nach Historischem Ablauff des gantzen Processes, Celle 1700.
Literatur Julius Eduard Hitzig/Willibald Alexis, Nickel L. und seine Gesellen, in: dies. (Hg.), Der neue Pitaval, Bd. 3, Leipzig 1843, S. 274-387; Hans von Hülsen, Nickel L. Die Chronik eines Räubers, Leipzig 1925; Albin Schwind, Das Erzgebirgsdorf Beutha und seine Geschichte. Ein Heimatbuch, Stollberg 1940; Uwe Danker, Räuberbanden im Alten Reich um 1700. Ein Beitrag zur Geschichte von Herrschaft und Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Bd. 1, Frankfurt/Main 1988, S. 20-32; Regina Röhner, Der schwarze Nickel. Nicolaus L., in: Eberhard Bräunlich (Hg.), Hundert sächsische Köpfe, Chemnitz 2002, S. 122f.; Matthias Blazek, Nickel L., in: ders., Hexenprozesse, Galgenberge, Hinrichtungen, Kriminaljustiz im Fürstentum Lüneburg und im Königreich Hannover, Stuttgart 2006, S. 137-152; B. Stephan, Geld oder Leben! Räuberbanden zwischen Harz, Oberlausitz und Erzgebirge, Jena/Quedlinburg 2010; Gerd Freitag, Auf den Spuren des Räubers Nicol L. (1654-1699), in: Sächsische Heimatblätter 62/2016, H. 1, S. 66-73. – ADB 18, S. 774-778; DBA I.
Porträt Bildnis des Nickel L., F. T. Delius/Johann Christoph Boecklin, vor 1718, Radierung, Universitätsbibliothek Leipzig, Porträtstichsammlung, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Abteilung Deutsche Fotothek (Bildquelle) [Public Domain Mark 1.0; dieses Werk ist lizensiert unter einer Public Domain Mark 1.0 Lizenz].
Michael Wetzel
11.09.2019
Empfohlene Zitierweise:
Michael Wetzel, Artikel: Nickel List,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/25581 [Zugriff 22.12.2024].
Nickel List
Quellen Sächsisches Staatsarchiv - Staatsarchiv Chemnitz, 30584 Grafschaft Hartenstein mit Herrschaft Stein. – Außführliche Relation, Wie es mit Der scharffen Execution, Derer in Zelle […] würcklich vollenzogen, 1699; Historische Ausführliche und glaubwürdige Erzehlung, was bey dem grossen Inquisitions-Process [...] wieder die Diebe der berühmten Güldenen Taffel bey dem Closter St. Michaelis in Lüneburg [...] angestellet worden, Celle/Leipzig 1699; [Sigismund Hosmann], Fürtreffliches Denck-Mahl der Göttlichen Regierung: Bewiesen an der uhralten höchst-berühmten Antiquität des Klosters S. Michaelis in Lüneburg der in dem hohen Altar daselbst gestandenen Güldenen Taffel [...] Wie der gerechte Gott Dero Räuber gantz wunderbarlich entdekket [...] nach Historischem Ablauff des gantzen Processes, Celle 1700.
Literatur Julius Eduard Hitzig/Willibald Alexis, Nickel L. und seine Gesellen, in: dies. (Hg.), Der neue Pitaval, Bd. 3, Leipzig 1843, S. 274-387; Hans von Hülsen, Nickel L. Die Chronik eines Räubers, Leipzig 1925; Albin Schwind, Das Erzgebirgsdorf Beutha und seine Geschichte. Ein Heimatbuch, Stollberg 1940; Uwe Danker, Räuberbanden im Alten Reich um 1700. Ein Beitrag zur Geschichte von Herrschaft und Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Bd. 1, Frankfurt/Main 1988, S. 20-32; Regina Röhner, Der schwarze Nickel. Nicolaus L., in: Eberhard Bräunlich (Hg.), Hundert sächsische Köpfe, Chemnitz 2002, S. 122f.; Matthias Blazek, Nickel L., in: ders., Hexenprozesse, Galgenberge, Hinrichtungen, Kriminaljustiz im Fürstentum Lüneburg und im Königreich Hannover, Stuttgart 2006, S. 137-152; B. Stephan, Geld oder Leben! Räuberbanden zwischen Harz, Oberlausitz und Erzgebirge, Jena/Quedlinburg 2010; Gerd Freitag, Auf den Spuren des Räubers Nicol L. (1654-1699), in: Sächsische Heimatblätter 62/2016, H. 1, S. 66-73. – ADB 18, S. 774-778; DBA I.
Porträt Bildnis des Nickel L., F. T. Delius/Johann Christoph Boecklin, vor 1718, Radierung, Universitätsbibliothek Leipzig, Porträtstichsammlung, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Abteilung Deutsche Fotothek (Bildquelle) [Public Domain Mark 1.0; dieses Werk ist lizensiert unter einer Public Domain Mark 1.0 Lizenz].
Michael Wetzel
11.09.2019
Empfohlene Zitierweise:
Michael Wetzel, Artikel: Nickel List,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/25581 [Zugriff 22.12.2024].