Julius Graebner

Die 1889 von G. und seinem Freund und Mitarbeiter Rudolf Schilling gegründete Architektenfirma Schilling & Graebner war zwischen 1890 und 1914 neben Lossow & Viehweger das einflussreichste und gefragteste Architekturbüro in Dresden. Schilling & Graebner erwarben sich mit ihren ausdrucksstarken Bauten großes Ansehen. Sie verstanden es, ausgehend von historischen Bauformen, die sie frei einsetzten, neuartige, dekorative Wirkungen zu erzielen. Mit ihren Kirchenbauten, die eine Hinwendung zum Jugendstil erkennen lassen, hatten sie großen Einfluss auf die Reform des evangelischen Kirchenbaus in Deutschland im frühen 20. Jahrhundert. In der Architektenfirma herrschte eine produktive Arbeitsteilung. G. war für die künstlerischen Belange zuständig, während Schilling die Grundrisse entwickelte und die Gestaltungsideen mit den praktischen und wirtschaftlichen Anforderungen in Einklang brachte. – Der im badischen Durlach als Sohn eines Band- und Strumpfwirkers geborene G. besuchte das Pädagogium in seiner Heimatstadt und das Realgymnasium in Karlsruhe. 1876 begann er mit einem Architekturstudium am Karlsruher Polytechnikum, wo Josef Durm zu seinen Lehrern gehörte. Nachdem G. 1879/80 seine militärische Dienstpflicht abgeleistet hatte, ging er nach Dresden, um an der dortigen Technischen Hochschule bei Ernst Giese und Karl Weißbach seine Architektenausbildung fortzusetzen. In Weißbachs Atelier lernte er Schilling kennen. Nach Abschluss des Studiums ging G. 1883 nach Berlin, wo er zunächst im Architekturbüro von Oswald Kuhn und dann bei Kayser & von Großheim arbeitete. Danach wechselte er ins Architekturbüro von Hans Grisebach. In Berlin traf G. wieder auf Schilling. Beide gründeten 1889 in Dresden die Architektenfirma Schilling & Graebner, die einen starken Berliner Einfluss in die sächsische Landeshauptstadt brachte. Bekannt wurde die Firma durch die Lutherkirche in Radebeul (1891/92). Als erster sächsischer Kirchenbau des 19. Jahrhunderts lässt diese eine Abkehr von der traditionellen Vorstellung erkennen, dass eine Kirche durch Bauformen des Mittelalters geprägt sein müsse. Mit dem Rathaus in Pieschen (1890/91) führten Schilling & Graebner den Baustil der deutschen Renaissance in Dresden ein. Die herrschaftlichen Villen, die die beiden Architekten für das gehobene Dresdner Bürgertum erstellten, zeichnen sich durch einen freien Umgang mit historischen Bauformen aus und sind oft malerisch angelegt. Unter ihnen sind die schlossartige Villa Muttersegen des Schriftstellers Franz von Schönthan in der Goetheallee 24 (1892), die Villa Reuter in Blasewitz (1893), die Villa Friedrichsruh in Löbtau (1898), die Villa Ginsberg in Dresden-Strehlen (1899/1900) und die Villa des Schriftstellers Gerhard Hauptmann in Blasewitz (1899/1900, 1945 zerstört) zu nennen. In den 1890er-Jahren wandten sich Schilling & Graebner stärker der Dresdner Barocktradition zu. Das Geschäftshaus Kaiserpalast am Pirnaischen Platz (1895, 1945 zerstört) gestalteten sie in den opulenten Formen des Neobarock und die 1893 ausgebrannte Stadtkirche in Augustusburg bauten sie in Barockformen wieder auf (1894-1896). Schilling & Graebner entwarfen den Wettinobelisk vor dem Dresdner Schloss (1889, 1897 in dauerhaftem Material ausgeführt) und das Rathaus in Löbtau (1896-1898, 1945 zerstört). Außerhalb Dresdens entstanden das schlossartige Herrenhaus in Ehrenberg bei Altenburg, die Kirche in Hohenfichte (heute Leubsdorf) (1895/96), in der erste Elemente des Jugendstils zu erkennen sind, und die Auferstehungskirche in Stenn (heute Lichtentanne) (1895/96). – Dass Schilling & Graebner neuen künstlerischen Reformbestrebungen aufgeschlossen gegenüberstanden, bewiesen sie mit dem Wiederaufbau der 1897 ausgebrannten Dresdner Kreuzkirche. Der Kirchenraum erhielt eine reiche neobarocke Stuckdekoration, durchmischt mit floralen Elementen des aufkommenden Jugendstils (1897-1900, 1945 zerstört). Eine unkonventionelle Lösung war das flache, weitgespannte Gewölbe. Die Kirchen, die Schilling & Graebner nach der Jahrhundertwende erstellten, sind stark durch den Jugendstil beeinflusst. In ihnen äußert sich das Bestreben, zeitgemäße Ausdrucksformen zu finden und eine kraftvolle Gegenwartskunst zu entwickeln. Der bedeutendste Sakralbau der Architektensozietät ist die Christuskirche in Dresden-Strehlen (1902-1905), mit der Schilling & Graebner als „Bahnbrecher des protestantischen Kirchenbaus“ in ganz Deutschland bekannt wurden. Auch die Lutherkirche in Zwickau (1902-1906), die Trinitatiskirche in Wiesa (heute Thermalbad Wiesenbad) (1903/04), die Friedenskirche in Aue-Zelle (1907), die Zionskirche in der Dresdner Südvorstadt (1912-1914, als Ruine erhalten) und die Jakobikirche in Chemnitz (1910-1912) zeigen herausragende künstlerische Lösungen. – Nach der Jahrhundertwende konnte die Architektenfirma, in der zeitweise zehn bis zwölf Angestellte beschäftigt waren, ihr Arbeitsgebiet beträchtlich ausdehnen. Aus Sachsen und Thüringen kamen bedeutende öffentliche und private Aufträge. Die Firma errichtete das Bankgebäude der Sächsischen Handelsbank an der Waisenhausstraße in Dresden (1899/1900, 1945 zerstört), die Villa des Glockengießers Franz Schilling in Apolda (1904), die Friedhofskapelle in Rochlitz (1906), das König-Albert-Bad in Bad Elster (1906-1909), die Augusta-Schule in Cottbus (1907-1912), die Heilstätte der Landesversicherungsanstalt in Gottleuba (1909-1913), das Realgymnasium in Görlitz (1912/13) und das Verwaltungsgebäude der Allgemeinen Ortskrankenkasse in Dresden (1912/13), außerdem zahlreiche Villen und Wohnhäuser. Schloss Sonnenstein in Pirna wurde durch Schilling & Graebner umgestaltet und der alte Baubestand einfühlsam ergänzt (1904-1909). In Böhmen entstanden im Zusammenhang mit der Los-von-Rom-Bewegung die evangelischen Gotteshäuser in Dux (tschech. Duchcov) (1900/01), Hohenelbe (tschech. Vrchlabí) (1900/01), Klostergrab (tschech. Hrob) (1901/02) und Langenau (tschech. Skalice u České Lípy) (1902). – Beide Architekten waren sozial sehr engagiert. Um den Mangel an bezahlbaren und ausreichend großen Arbeiterwohnungen zu beheben, förderten sie den 1898 gegründeten Dresdner Bau- und Sparverein, für den sie sechs teilweise sehr große Wohnanlagen entwarfen. Erhalten haben sich die Rudolf-Schilling-Häuser in Dresden-Striesen (1910/11). – G. war ein begeisterter Kunstliebhaber. Als Mitglied der Königlichen Kommission zur Erhaltung der Baudenkmale (seit 1901) kämpfte er für den Erhalt bedrohter historischer Bauten in Sachsen. Schilling & Graebner arbeiteten eng mit dem Denkmalpfleger Cornelius Gurlitt zusammen. Die viel beachtete Schutzhalle vor der Goldenen Pforte des Freiberger Doms (1902/03) folgt dem von Gurlitt aufgestellten, damals heftig umstrittenen Prinzip, dass Zubauten, die an Baudenkmale angefügt werden, nicht historisierend gestaltet sein dürfen, sondern immer in den Formen der Gegenwart ausgeführt werden müssen. Als Mitglied des Vereins für kirchliche Kunst in Sachsen trat G. für die Förderung sakraler Gegenwartskunst ein. – 1917 unternahm G. eine Studienreise durch Kleinasien, auf der er an Typhus erkrankte und in Konstantinopel (heute Istanbul) starb. Damit endete die fruchtbare Zusammenarbeit der beiden Architekten, die über 20 Jahre prägend auf das Kunstleben Sachsens eingewirkt hatte. Das Architekturbüro wurde von Schilling und G.s noch jungem Sohn Erwin fortgeführt. Es bestand bis 1947.

Werke Wettin-Obelisk Dresden, 1889; Rathaus Pieschen, 1890/91; Lutherkirche Radebeul, 1891/92; Villa Reuter Blasewitz, 1893; Stadtkirche St. Petri Augustusburg, Wiederaufbau, 1894-1896; Geschäftshaus Kaiserpalast Dresden, 1895, 1945 zerstört; Kirche Hohenfichte, 1895/96; Auferstehungskirche Stenn, 1895/96; Rathaus Löbtau, 1896-1898, 1945 zerstört; Kreuzkirche Dresden, Innengestaltung, 1897-1900, 1945 zerstört; Villa Friedrichsruh Löbtau, 1898; Villa Ginsberg Dresden-Strehlen, 1899/1900; Villa Rautendelein Blasewitz, 1899/1900, 1945 zerstört; Sächsische Handelsbank Dresden, 1899/1900, 1945 zerstört; Lutherkirche Dux, 1900/01; Evangelische Kirche Hohenelbe, 1900/01; Villa Goethestraße 8 Klotzsche, 1901; Evangelische Kirche Klostergrab, 1901/02; Evangelische Kirche Langenau, 1902; Dom Freiberg, Schutzhalle vor der Goldenen Pforte, 1902/03; Christuskirche Dresden-Strehlen, 1902-1905; Lutherkirche Zwickau, 1902-1906; Trinitatiskirche Wiesa, 1903/04; Schloss Sonnenstein Pirna-Sonnenstein, Umgestaltung, 1904-1909; Villa Franz Schilling Apolda, 1904; Friedhofskapelle Rochlitz, 1906; König-Albert-Bad Bad Elster, 1906-1909; Friedenskirche Aue-Zelle, 1907; Augusta-Schule Cottbus, 1907-1912; Heilstätte der Landesversicherungsanstalt Gottleuba, 1909-1913; Rudolf-Schilling-Häuser Dresden-Striesen, 1910/11; Jakobikirche Chemnitz, Fassadenbekleidung, 1910-1912; Realgymnasium Görlitz, 1912/13; Allgemeine Ortskrankenkasse Dresden, Verwaltungsgebäude, 1912/13; Zionskirche Dresden, 1912-1914.

Literatur A. Hofmann, Julius G. †, in: Deutsche Bauzeitung 51/1917, S. 327-330; F. Löffler, Das alte Dresden, Leipzig 1981; V. Helas, Architektur in Dresden 1800-1900, Braunschweig/Wiesbaden 1985; R. Kube, Schilling und Graebner (1889-1917). Das Werk einer Dresdner Architektenfirma, Diss. Dresden 1988 [MS] (WV); H. Magirius, Geschichte der Denkmalpflege. Sachsen, Berlin 1989; H. Mai, Kirchen in Sachsen, Berlin/Leipzig 1992. – DBA II; Thieme/Becker, Bd. 14, Leipzig 1999, S. 474f.

Matthias Donath
1.12.2006


Empfohlene Zitierweise:
Matthias Donath, Artikel: Julius Graebner,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1781 [Zugriff 29.3.2024].

Julius Graebner



Werke Wettin-Obelisk Dresden, 1889; Rathaus Pieschen, 1890/91; Lutherkirche Radebeul, 1891/92; Villa Reuter Blasewitz, 1893; Stadtkirche St. Petri Augustusburg, Wiederaufbau, 1894-1896; Geschäftshaus Kaiserpalast Dresden, 1895, 1945 zerstört; Kirche Hohenfichte, 1895/96; Auferstehungskirche Stenn, 1895/96; Rathaus Löbtau, 1896-1898, 1945 zerstört; Kreuzkirche Dresden, Innengestaltung, 1897-1900, 1945 zerstört; Villa Friedrichsruh Löbtau, 1898; Villa Ginsberg Dresden-Strehlen, 1899/1900; Villa Rautendelein Blasewitz, 1899/1900, 1945 zerstört; Sächsische Handelsbank Dresden, 1899/1900, 1945 zerstört; Lutherkirche Dux, 1900/01; Evangelische Kirche Hohenelbe, 1900/01; Villa Goethestraße 8 Klotzsche, 1901; Evangelische Kirche Klostergrab, 1901/02; Evangelische Kirche Langenau, 1902; Dom Freiberg, Schutzhalle vor der Goldenen Pforte, 1902/03; Christuskirche Dresden-Strehlen, 1902-1905; Lutherkirche Zwickau, 1902-1906; Trinitatiskirche Wiesa, 1903/04; Schloss Sonnenstein Pirna-Sonnenstein, Umgestaltung, 1904-1909; Villa Franz Schilling Apolda, 1904; Friedhofskapelle Rochlitz, 1906; König-Albert-Bad Bad Elster, 1906-1909; Friedenskirche Aue-Zelle, 1907; Augusta-Schule Cottbus, 1907-1912; Heilstätte der Landesversicherungsanstalt Gottleuba, 1909-1913; Rudolf-Schilling-Häuser Dresden-Striesen, 1910/11; Jakobikirche Chemnitz, Fassadenbekleidung, 1910-1912; Realgymnasium Görlitz, 1912/13; Allgemeine Ortskrankenkasse Dresden, Verwaltungsgebäude, 1912/13; Zionskirche Dresden, 1912-1914.

Literatur A. Hofmann, Julius G. †, in: Deutsche Bauzeitung 51/1917, S. 327-330; F. Löffler, Das alte Dresden, Leipzig 1981; V. Helas, Architektur in Dresden 1800-1900, Braunschweig/Wiesbaden 1985; R. Kube, Schilling und Graebner (1889-1917). Das Werk einer Dresdner Architektenfirma, Diss. Dresden 1988 [MS] (WV); H. Magirius, Geschichte der Denkmalpflege. Sachsen, Berlin 1989; H. Mai, Kirchen in Sachsen, Berlin/Leipzig 1992. – DBA II; Thieme/Becker, Bd. 14, Leipzig 1999, S. 474f.

Matthias Donath
1.12.2006


Empfohlene Zitierweise:
Matthias Donath, Artikel: Julius Graebner,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1781 [Zugriff 29.3.2024].