Gustav Fingerling
F. leitete 1912 bis 1944 die Landwirtschaftliche Versuchsanstalt Leipzig-Möckern, die seit dem Wirken Gustav Kühns und Oskar Kellners als weltweit bedeutendste Forschungsstätte auf dem Gebiet der Tierernährungslehre galt. Hier vervollkommnete er nicht nur die von Kellner entwickelte „Stärkewertlehre“, sondern trug auch entscheidend zur Verbreitung der Gärfutterbereitung in Deutschland bei. 1933 bis 1940 vertrat er als Honorarprofessor die Agrikulturchemie an der Universität Leipzig. – F. besuchte das Realgymnasium in Marburg und wandte sich anschließend dem Studium der Chemie zu, das er 1899 in Straßburg (frz. Strasbourg) abschloss. Nachdem er als Assistent in die Landwirtschaftliche Versuchsstation Hohenheim eingetreten war, lenkte
August Morgen sein Interesse auf die Tierernährungslehre. 1904 wurde er mit einer Dissertation über den Einfluss von Reizstoffen auf die Milchsekretion an der Universität Marburg promoviert und kurz darauf zum Vorstand der wissenschaftlichen Abteilung der Versuchsstation Hohenheim ernannt. Auf Vermittlung Morgens trat er 1912 die Nachfolge des früh verstorbenen Kellner als Direktor der Landwirtschaftlichen Versuchsstation Leipzig-Möckern an. Hier widmete F. sich in den folgenden Jahren ganz der methodischen Absicherung des von Kellner geschaffenen energetischen Futterbewertungssystems der „Stärkewertlehre“, das auf Stoffwechseluntersuchungen an Wiederkäuern beruhte. Während des Ersten Weltkriegs dienten die Respirationsversuche mit Pferden und Kleinvieh jedoch in erster Linie der Prüfung von Ersatzfuttermitteln. Die politischen Wirren der Novemberrevolution veranlassten F., sich als Mitglied des Leipziger Zeitfreiwilligenregiments gegen die Weimarer Republik zu stellen. Nach dem Scheitern des Kapp-Putschs wandte er sich jedoch wieder der wissenschaftlichen Arbeit zu, die infolge der Reorganisation des landwirtschaftlichen Forschungswesens im Freistaat Sachsen erheblich an Breite gewann. Neben der ernährungsphysiologischen Grundlagenforschung beschäftigte er sich nun vorwiegend mit Fragen der Grünfutterkonservierung. Bei Versuchen mit den zeitgenössischen Silierverfahren gelangte F. etwa zeitgleich mit dem finnischen Biochemiker
Artturi Ilmari Virtanen zu der Erkenntnis, dass dem pH-Wert des Silierguts eine entscheidende Bedeutung für den erfolgreichen Verlauf der Gärung zukommt. Ende der 1920er-Jahre wurden an der Versuchsanstalt Möckern daraufhin mehrere Verfahren zur Beeinflussung des pH-Werts bei der Futtervergärung zur Patentreife gebracht. Während sich Virtanens „AIV-Methode“, für die der Finne 1945 den Chemie-Nobelpreis erhalten sollte, in Skandinavien und Westeuropa durchsetzte, trugen F.s Arbeiten entscheidend zur Entwicklung eigenständiger Futterkonservierungsverfahren in Deutschland bei. Für diese Leistung wurde er 1931 als zweiter sächsischer Agrarwissenschaftler nach Georg Derlitzki zum Mitglied des Internationalen Landwirtschaftlichen Instituts in Rom ernannt. – Gegen Ende der 1920er-Jahre begann F. sich auch in der akademischen Lehre zu engagieren. Nachdem er bereits 1928 bis 1931 die Pflanzen- und Tierernährungslehre an der Universität Halle-Wittenberg vertreten hatte, wurde ihm 1933 eine Honorarprofessur für Agrikulturchemie an der Universität Leipzig übertragen. Durch sein politisches Bekenntnis zur „nationalen Revolution“, das er im Frühjahr 1933 mit dem Eintritt in die NSDAP abgelegt hatte, gelang es ihm in den folgenden Jahren, auch sein wissenschaftliches Hauptanliegen mit Nachdruck voranzutreiben. Eine neue Methodik für Respirationsversuche an Pferden unter verschiedenen Belastungsbedingungen sollte erstmals verlässliche Aussagen über den Futterbedarf dieser wichtigsten landwirtschaftlichen Zugtiere ermöglichen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhinderte jedoch die Fertigstellung der hochmodernen Versuchsanlagen. Gesundheitliche Probleme zwangen F. im Frühjahr 1940 auch zur Niederlegung seiner Honorarprofessur. Der hoch dekorierte Agrikulturchemiker verstarb im März 1944 infolge eines Unfalls an der Versuchsanstalt Möckern.
Quellen Universität Leipzig, Universitätsarchiv, PA 553.
Werke Untersuchungen über den Einfluß von Reizstoffen auf die Milchsekretion, Marburg 1904; (Hg.) Die Ernährung der landwirtschaftlichen Nutztiere, Berlin 71916, 101924; (Hg.), Grundzüge der Fütterungslehre, Berlin 61920-101943; Fütterungsfragen der Gegenwart, Friedrichswerth 1924; (Red.), Die Landwirtschaftlichen Versuchsstationen, 1912-1935.
Literatur W. Schneider, Gustav F., in: Zeitschrift für Tierernährung und Futtermittelkunde 6/1944, H. 8/2, S. 97-106; E. Schulze, Die Agrarwissenschaften an der Universität Leipzig 1740-1945, Leipzig 2006. – DBA II.
Porträt Fotografie, um 1935, Universitätsarchiv Leipzig, FS N03260 (Bildquelle).
Christian Augustin
3.4.2013
Empfohlene Zitierweise:
Christian Augustin, Artikel: Gustav Fingerling,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/26491 [Zugriff 22.12.2024].
Gustav Fingerling
Quellen Universität Leipzig, Universitätsarchiv, PA 553.
Werke Untersuchungen über den Einfluß von Reizstoffen auf die Milchsekretion, Marburg 1904; (Hg.) Die Ernährung der landwirtschaftlichen Nutztiere, Berlin 71916, 101924; (Hg.), Grundzüge der Fütterungslehre, Berlin 61920-101943; Fütterungsfragen der Gegenwart, Friedrichswerth 1924; (Red.), Die Landwirtschaftlichen Versuchsstationen, 1912-1935.
Literatur W. Schneider, Gustav F., in: Zeitschrift für Tierernährung und Futtermittelkunde 6/1944, H. 8/2, S. 97-106; E. Schulze, Die Agrarwissenschaften an der Universität Leipzig 1740-1945, Leipzig 2006. – DBA II.
Porträt Fotografie, um 1935, Universitätsarchiv Leipzig, FS N03260 (Bildquelle).
Christian Augustin
3.4.2013
Empfohlene Zitierweise:
Christian Augustin, Artikel: Gustav Fingerling,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/26491 [Zugriff 22.12.2024].