Dore Hoyer
H. gehört zu den wichtigsten Dresdner Repräsentantinnen des Ausdruckstanzes sowie des modernen Tanzes der Nachkriegszeit. Geprägt durch Gret Palucca und Mary Wigman arbeitete sie ab 1945 eng mit Ursula Cain zusammen. Merkmal ihrer Ästhetik bildete die emotionale Expressivität. H. galt als eine Verfechterin der „Körperseele“. – H. wuchs in einer Dresdner Handwerkerfamilie auf. Da sie künstlerische Neigungen zeigte, erhielt sie ab dem zwölften Lebensjahr eine Ausbildung in Gymnastik. 1928 wurde sie Stipendiatin der Schule von Ilse Homilius für Rhythmik, Musik und Körperbildung Hellerau-Laxenburg in Blasewitz, die eine stärker tänzerisch akzentuierte Ausbildung anbot, als die Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus in Hellerau hätte ermöglichen können. 1930 erhielt H. ein Pädagogik-Diplom und trat gemeinsam mit ihrer Lehrerin im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden auf. Während dieser ersten kreativen Phase kam H. direkt oder indirekt in Kontakt mit Wigman, Palucca sowie Yvonne Georgi, Harald Kreutzberg und Birgit Åkesson. Um ihrer Leidenschaft als Ausdruckstänzerin nachzugehen, absolvierte sie 1930/1931 einen einjährigen Kurs an der von Palucca gegründeten Schule in Dresden, wo sie insbesondere von
Irma Steinberg ausgebildet wurde. Steinberg erkannte, dass sich H. nicht in ein choreografisches System eingliedern ließ und förderte ihre Individualität. Für Paluccas Schule hatte sich H. entschieden, weil sie die dortige Sprungtechnik favorisierte. Die Aufwärtsbewegung - ein Kennzeichen des Ausdruckstanzes -, die im Gegensatz zur Élévation des Klassischen Balletts stand, gehörte zu den grundsätzlichsten Stilmitteln ihrer Ästhetik. H. erstrebte eine „Entkörperlichung“ durch Techniken des Gestaltungsausdrucks aus seelischem Erleben und weniger durch rein physische Tanztechnik (wie im Russischen Ballett). – Nach der bestandenen Prüfung bei Palucca nahm H. für die Spielzeit 1931/1932 ein Angebot als Ballerina am Stadttheater Plauen/Vogtland an, wo sie überwiegend in Operetten wie „Das weiße Rössel“, die „Dollarprinzessin“, „Der Graf von Luxemburg“ sowie „Die grüne Flöte“ tanzte, dabei ihre pantomimischen Fähigkeiten ausbaute und Theatererfahrungen sammelte. Im Anschluss ging sie nach Dresden zurück, wo sich zu dieser Zeit eine rege Tanzszene herausgebildet hatte. H. lernte den Musiker
Peter Cieslak kennen, der nicht nur die musikalische Grundlage ihrer Choreografien „Zwei ernste Gesänge“, „Tanz in Weiß“ sowie „Tanz in Schwarz“ schuf, sondern später ihr Lebenspartner wurde. 1933 bis 1935 gab H. mit diesen und anderen Tänzen Soloabende im Künstlerhaus, im Komödienhaus und im Deutschen Hygiene-Museum. Diese Auftritte erlangten ein breites Echo in der Presse. – Für die Spielzeit 1933/1934 war H. einem Ruf als Ballettmeisterin und Choreografin an das Landestheater
Oldenburg gefolgt, eine Position, die ihr etwas Freiheit verschaffte, aber vertraglich der Intendanz des Hauses unterworfen war. Ihre Neigungen als freie Tänzerin konnte sie nur in eigener Regie ausleben. So gastierte sie neben Dresden in Dänemark, Österreich, Schweden und nahm Engagements in der Truppe von Wigman an. Die Musik für einige ihrer eigenen Tänze komponierte Dimitri Wiatowitsch, der nach dem Tod von Cieslak 1935 H.s künstlerischer Partner wurde. Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“ wie etwa der Maler Curt Querner wohnten ihren Auftritten bei und ließen sich von ihrer unverblümt authentischen Darstellungsweise inspirieren (Querner, Tagebuch, S. 19) – In den Kriegsjahren wirkte H. als Solistin an der Dietrich-Eckart-Bühne (heute Waldbühne) und der Deutschen Tanzbühne in
Berlin. 1943/1944 tanzte sie in
Graz (Österreich). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eröffnete sie die geschlossene Dresdner-Schule von Wigman als „Dore-Hoyer-Studio“ neu. In diesen Dresdner Jahren arbeitet H. eng mit der Tänzerin Ursula Cain sowie dem Komponisten Ulrich Kessler zusammen, der auch die musikalische Grundlage ihrer „Tänze für Käthe Kollwitz“ (1946) lieferte. H. nahm darin kritischen Bezug zur Lebenshärte der Nachkriegszeit, die sich in unharmonischen, teils radikalen Bewegungen äußerte. Da der Ausdruckstanz ausnahmslos alle menschlichen Stimmungen widerspiegeln sollte, gehörte auch das Unschöne zu dessen Ästhetik. H. übte im „Tanz der brutalen Gewalt“ (1948, aus „Der große Gesang“) sowie „Der Fremde“ (1950) - eine Form des Totentanzes - wirkungsvolle Gesellschaftskritik. – Aufgrund politischer Einschränkungen ließ D. nach kurzer Zeit von der Idee, das Erbe Wigmans in Dresden weiterzuführen, ab und ging nach
Hamburg. In der Hansestadt wurde sie Gründungsmitglied der Freien Akademie der Künste und war 1949 bis 1951 Ballettmeisterin der Hamburger Staatsoper. 1951 verlieh man ihr den Deutschen Kritikerpreis für Tanz. Folgerichtig widmete sie sich ab 1952 verstärkt eigenen Programmen, dozierte und choreografierte in
Mannheim,
Ulm,
Frankfurt/Main,
Athen, Berlin und
Salzburg (Österreich). Außerdem wirkte sie in Indien und Nordamerika und erhielt eine Gastprofessur in
Buenos Aires, wo ihre Tanzkunst hohe Anerkennung fand. 1957 reiste sie auf Einladung von Wigman zum American Dance Festival des Connecticut College in
New London (USA). Im dortigen avantgardistischen Klima wurden ihre Choreografien gefeiert. Resümierend stellte H. fest, dass sich der moderne Tanz von Deutschland in die USA verlagert hatte und dort weiterentwickelte. 1966 ging sie in Asien auf Tournee. In Berlin tanzte sie auf einem Tanzfestival im September 1957 Wigmans Choreografie von Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“. Ihre letzte Vorstellung gab sie am 18.12.1967. – H. hat gemeinsam mit Wigman und Palucca Dresden (neben
München, Berlin,
Zürich und
Genf zu einer der wichtigsten europäischen Metropolen des modernen Tanzes avancieren lassen. Ihre Geburtsstadt benannte deshalb eine Straße nach ihr. H.s Tänze sind heute Vorbilder für die Arbeit von Susanne Linke, Arila Siegert,
Betsy Fisher, Martin Nachbar,
Michaela Fünfhausen und
Anja Hirvikallio. 2017 studierte
Nils Freyer den Zyklus „Affectos Humanos“ ein, nach einer Idee von Ralf Stabel und unter Anleitung von Susanne Linke.
Quellen Deutsches Tanzarchiv Köln, Nachlass Dore H., Nachlass Waltraud Luley, Nachlass Kurt Peters; Archiv der Akademie der Künste Berlin, Boleslaw-Barlog-Archiv.
Werke Choreografien: Zwei ernste Gesänge, 1933; Tanz in Weiß, 1933; Tanz in Schwarz, 1933; Masken, 1933; Wechselnde Lichter, 1935; Tanzende Frau, 1935; Der Schrei, 1935; Froher Tag, 1935; Nach einem Bolero, 1935; Jeanne d’Arc, 1941; Ophelia, 1941; Zyklus „Biblische Gestalten“, 1941-1952; Tänze für Käthe Kollwitz, 1946; Zyklus „Der große Gesang“, 1948; Der Fremde, 1950; Judith, 1952; Südamerikanische Reise, 1954; Auf schwarzem Grund, 1956; Cadena de Fugas, 1961; La Idea, 1961; Affectos Humanos, 1962. – Schriften: Warum moderner Ausdruckstanz?, in: Herbert Ihering (Hg.),Theaterstadt Berlin. Ein Almanach, Berlin 1948, S. 213-217; Dank an Mary Wigman, in: Lebendige Kunst. Pädagogische Blätter 1956, H. 21/22, Beilage; New York - Hochburg des „Modern Dance“. Eindrücke aus amerikanischen Tanz-Studios, in: Die Bühnengenossenschaft 9/1957, S. 377f.; Noch zu jung für ein Begräbnis - zum Thema „Freier Tanz“, in: Die Welt 13.7.1960; Ein Leben für den Tanz. Zu Mary Wigmans 65. Geburtstag am 13. November 1951, in: Tanzdrama. Magazin 4/1991, Nr. 17, S. 6f.; Südamerikanische Reise, in: ebd., S. 16.
Literatur Zum Tanzen gestoßen, in: Der Spiegel 2/1948, H. 49, S. 24f.; Hedwig Müller/Frank-Manuel Peter/Garnet Schuldt, Dore H. Tänzerin, Berlin 1992; Gitta Mode, „Im Tanz liebe ich das Leben“. Dore H. und Dresden, in: Fama. Die Kunstzeitschrift aus Sachsen 3/1993, Nr. 3, S. 36f.; Curt Querner, Tag der starken Farben. Aus den Tagebüchern 1937 bis 1976, hrsg. vom Dresdner Geschichtsverein, Dresden 1996, S. 19; Zum neunzigsten Geburtstag von Dore Hoyer, Koeglerjournal 2001/2002, Stuttgart 2001; Amelie Soyka (Hg.), Tanzen und tanzen und nichts als tanzen. Tänzerinnen der Moderne von Josephine Baker bis Mary Wigman, Berlin 2004; Frank-Manuel Peter, Zwischen Ausdruckstanz und Postmodern Dance. Dore H.s Beitrag zur Weiterentwicklung des modernen Tanzes in den 1930er Jahren, Berlin 2004; Gabriele Gorgas, Immer wieder „Die Erwählte“. Vor 100 Jahren wurde in Dresden die Tänzerin und Choreographin Dore H. geboren, in: Dresdner Neueste Nachrichten 21.12.2011, S. 7; Geertje Andresen, Wer war Oda Schottmüller? Zwei Versionen ihrer Biographie und deren Rezeption in der alten Bundesrepublik und in der DDR. Berlin 2012, S. 49f. – DBA II, III; DBE 5, S. 190; NDB 9, S. 667.
Porträt Deutsches Tanzarchiv Köln; Porträtstudie im Kostüm zum Solotanz „Trommel“, Hans Padelt, 1935, Fotografie, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Abteilung Deutsche Fotothek, Foto: DDZ, 2007.04.10, Verwalter: Deutsches Tanzarchiv Köln, Dore-Hoyer-Archiv (Bildquelle).
Uta Dorothea Sauer
27.5.2020
Empfohlene Zitierweise:
Uta Dorothea Sauer, Artikel: Dore Hoyer,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/16771 [Zugriff 20.12.2024].
Dore Hoyer
Quellen Deutsches Tanzarchiv Köln, Nachlass Dore H., Nachlass Waltraud Luley, Nachlass Kurt Peters; Archiv der Akademie der Künste Berlin, Boleslaw-Barlog-Archiv.
Werke Choreografien: Zwei ernste Gesänge, 1933; Tanz in Weiß, 1933; Tanz in Schwarz, 1933; Masken, 1933; Wechselnde Lichter, 1935; Tanzende Frau, 1935; Der Schrei, 1935; Froher Tag, 1935; Nach einem Bolero, 1935; Jeanne d’Arc, 1941; Ophelia, 1941; Zyklus „Biblische Gestalten“, 1941-1952; Tänze für Käthe Kollwitz, 1946; Zyklus „Der große Gesang“, 1948; Der Fremde, 1950; Judith, 1952; Südamerikanische Reise, 1954; Auf schwarzem Grund, 1956; Cadena de Fugas, 1961; La Idea, 1961; Affectos Humanos, 1962. – Schriften: Warum moderner Ausdruckstanz?, in: Herbert Ihering (Hg.),Theaterstadt Berlin. Ein Almanach, Berlin 1948, S. 213-217; Dank an Mary Wigman, in: Lebendige Kunst. Pädagogische Blätter 1956, H. 21/22, Beilage; New York - Hochburg des „Modern Dance“. Eindrücke aus amerikanischen Tanz-Studios, in: Die Bühnengenossenschaft 9/1957, S. 377f.; Noch zu jung für ein Begräbnis - zum Thema „Freier Tanz“, in: Die Welt 13.7.1960; Ein Leben für den Tanz. Zu Mary Wigmans 65. Geburtstag am 13. November 1951, in: Tanzdrama. Magazin 4/1991, Nr. 17, S. 6f.; Südamerikanische Reise, in: ebd., S. 16.
Literatur Zum Tanzen gestoßen, in: Der Spiegel 2/1948, H. 49, S. 24f.; Hedwig Müller/Frank-Manuel Peter/Garnet Schuldt, Dore H. Tänzerin, Berlin 1992; Gitta Mode, „Im Tanz liebe ich das Leben“. Dore H. und Dresden, in: Fama. Die Kunstzeitschrift aus Sachsen 3/1993, Nr. 3, S. 36f.; Curt Querner, Tag der starken Farben. Aus den Tagebüchern 1937 bis 1976, hrsg. vom Dresdner Geschichtsverein, Dresden 1996, S. 19; Zum neunzigsten Geburtstag von Dore Hoyer, Koeglerjournal 2001/2002, Stuttgart 2001; Amelie Soyka (Hg.), Tanzen und tanzen und nichts als tanzen. Tänzerinnen der Moderne von Josephine Baker bis Mary Wigman, Berlin 2004; Frank-Manuel Peter, Zwischen Ausdruckstanz und Postmodern Dance. Dore H.s Beitrag zur Weiterentwicklung des modernen Tanzes in den 1930er Jahren, Berlin 2004; Gabriele Gorgas, Immer wieder „Die Erwählte“. Vor 100 Jahren wurde in Dresden die Tänzerin und Choreographin Dore H. geboren, in: Dresdner Neueste Nachrichten 21.12.2011, S. 7; Geertje Andresen, Wer war Oda Schottmüller? Zwei Versionen ihrer Biographie und deren Rezeption in der alten Bundesrepublik und in der DDR. Berlin 2012, S. 49f. – DBA II, III; DBE 5, S. 190; NDB 9, S. 667.
Porträt Deutsches Tanzarchiv Köln; Porträtstudie im Kostüm zum Solotanz „Trommel“, Hans Padelt, 1935, Fotografie, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Abteilung Deutsche Fotothek, Foto: DDZ, 2007.04.10, Verwalter: Deutsches Tanzarchiv Köln, Dore-Hoyer-Archiv (Bildquelle).
Uta Dorothea Sauer
27.5.2020
Empfohlene Zitierweise:
Uta Dorothea Sauer, Artikel: Dore Hoyer,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/16771 [Zugriff 20.12.2024].