Wilhelmine Reichard
Als R. 1807 den hochbegabten, aber mittellosen Naturwissenschaftler Gottfried Reichard in Braunschweig heiratete, träumten beide schon von Ballonfahrten, deren wirtschaftliche Gewinne die Gründung einer eigenen Chemiefabrik befördern sollten. Die rasch wachsende Familie übersiedelte nach Berlin, wo sich die finanzielle Situation schwierig gestaltete. Als Privatlehrer und mit physikalischen Experimental-Vorträgen versuchte R.s Ehemann die Familie zu ernähren, aber auch Mittel für den Bau seines ersten Gasballons zu erwirtschaften. Förderlich in jeder Hinsicht erwies sich die Bekanntschaft des Ehepaars zum, ebenfalls in Berlin ansässigen ersten deutschen Ballonfahrer, Gymnasialprofessor
Friedrich Wilhelm Jungius, dessen Erstaufstieg R.s Ehemann 1805 als Student gebannt beobachtet hatte. Mit einem eigenen Gasballon glückte Gottfried Reichard am 27.5.1810 als zweitem Deutschen in Berlin der Aufstieg. Beinahe ein Jahr später, am 16.4.1811, stieg R. nach intensiven Studien der Ballon-Bedienung ebenfalls in Berlin als „erstes luftschifferndes Frauenzimmer“ Deutschlands auf. Dieser erste von insgesamt 17 Aufstiegen, öffentlichkeitswirksam mit Zeitungsannoncen, Ballon-Ausstellung und Eintrittskarten-Verkauf vorbereitet, dauerte 85 Minuten, führte in eine Höhe von über 5.000 Meter und über eine Distanz von 33 Kilometern. Die mutige, junge Ballonfahrerin fuhr mit diesem ersten Ballon stets gewinnbringend noch zweimal, ihr Ehemann noch weitere dreimal. Bei der dritten, am nunmehrigen Wohnort Dresden startenden Luftreise am 30.9.1811 wurde die zu diesem Zeitpunkt schwangere R. aufgrund widriger Wetterverhältnisse bis auf über 7.000 Meter Höhe, teilweise bewusstlos am Korbboden liegend, getrieben. Nach einer Distanz von 44 Kilometern retteten in Saupsdorf in der Sächsischen Schweiz schlanke Fichten-Baumwipfel, in denen sich die geplatzte Ballonhülle verfing, R. vor dem sicheren Absturztod. Der öffentlichkeitswirksam inszenierte Rücktransport der leicht verletzten Ballonfahrerin und ihres zerstörten Ballons, Wortmeldungen in der Tagespresse sowie eine bereits sieben Tage später erschienene, in ihrer Aussage durch Zeugenbekenntnisse fundierte Veröffentlichung von R.s Ehemann zu dieser waghalsigen Ballonfahrt sorgten, durch die besondere Dramatik des Absturzes verstärkt, für Aufsehen und zeitigten gute Einnahmen. Die zerrissene Ballonhülle ließ jedoch zugleich alle Hoffnungen auf zukünftige gewinnbringende Aufstiege ersterben. Mit Ersparnissen aus verschiedenen Tätigkeiten von R.s Ehemann und von den Ballonfahrten erwarb die fünfköpfige Familie 1814 im Plauenschen Grund bei Dresden - gezielt nahe der Wasserkraft spendenden Weißeritz und Rohstoff liefernder Steinkohlengruben - ein kleines Grundstück mit baufälligem Haus als Wohnsitz. Die landesherrliche Konzession für seine „Fabrik technisch- und pharmazeutisch-chemischer Präparate“ erhielt R.s Ehegatte 1815. Kurz darauf gelang der Bau eines zweiten Ballons, mit dessen Aufstiegen die Finanzierung zusätzlicher Grundstücke mit direktem Flusszugang 1817 realisiert werden konnte. Der Bau der seinerzeit modernsten sächsischen Schwefelsäure-Fabrik begann nach erneuten Ballon-Aufstiegen 1821. Mit dem zweiten Gasballon stieg R. zwischen 1816 und 1820, längst der Konkurrenz anderer Ballonfahrerinnen ausgesetzt, teilweise unter Mitnahme von Passagieren, 14 Mal in verschiedenen deutschen und westeuropäischen Städten auf, ihr Ehemann neun Mal. Stets achtete R., neben dem eigenen reizvollen Erscheinungsbild, auf das von Ballon und Gondel, die mit Eichenlaub und Blumen geschmückt wurden. All ihre Aufstiege inszenierte sie mit kleinen Sensationen wie dem Start von Tauben oder dem Abwerfen von Gedichten aus der schwebenden Gondel heraus. Auch der Nachbereitung der Ballonaufstiege durch Vorträge, Presseveröffentlichungen oder Empfänge wurde größte Aufmerksamkeit geschenkt. Auf diese Art verdiente R. als „Berufs-Ballonfahrerin“ einen Großteil der Mittel für die Finanzierung der chemischen Fabrik ihres Ehemanns und schuf damit die familiäre Lebensgrundlage. Das krönende Ende ihrer Ballonfahrer-Karriere zelebrierte die inzwischen fünffache Mutter, deren Kinder während ihrer Reisen stets unter fürsorglicher Hand daheim blieben, mit einem triumphalen Aufstieg auf der Theresienwiese beim zehnten Münchner Oktoberfest am 1.10.1820. R. vertrat als besonnene Ratgeberin und selbstbewusste Frau an der Seite des genialen Naturwissenschaftlers den Idealtypus der sich aufopfernden Unternehmergattin, ohne die das wirtschaftliche Zustandekommen der Chemiefabrik angezweifelt werden darf. Ihre in erster Linie dem Gelderwerb dienenden Ballonfahrten, über die sie selbst und ihr Ehemann teilweise Aufzeichnungen führten, erbrachten auch wissenschaftliche Ergebnisse. Dazu gehörten neben der Erschließung des Luftraums überhaupt, erste Erkenntnisse über die unteren Luftschichten bis maximal 7.000 Meter Höhe und deren physische Auswirkungen auf den menschlichen Körper sowie Barometer- und Thermometer-Beobachtungen unter verschiedenen meteorologischen Verhältnissen. Im visionären Denken der Ballonfahrerin und dem über viele Jahre hinweg zielorientiert unternehmerischen Handeln der Fabrikantengattin liegt R.s Bedeutung für die frühe deutsche Luftfahrt und für Sachsens Industrialisierung.
Literatur H. Ahner, Die Luftfahrten des Ehepaares Reichard. Ein Beitrag zur deutschen Luftfahrtgeschichte, Dresden [Ms.]; J. Petzholdt, Der Plauensche Grund, Dresden 1842, S. 49f.; ders., Professor Johann Gottfried Reichard in Döhlen, Dresden 1844; F. A. Leßke, Beiträge zur Geschichte und Beschreibung des Plauenschen Grundes bei Dresden und seiner anliegenden Ortschaften, Niedergorbitz 1903, Bd. 3, S. 357-359, 836; H. Monjau, Wilhelmine R. - Erste deutsche Ballonfahrerin, Freital 1998. – DBA I, III; NDB 21, S. 293f.
Porträt Madame Wilhelmine R. Erste Deutsche Luftschifferin, Keßner, 1810, Kupferstich, Deutsches Museum München, Reproduktion Städtische Sammlungen Freital (Bildquelle).
Juliane Puls
14.7.2015
Empfohlene Zitierweise:
Juliane Puls, Artikel: Wilhelmine Reichard,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/10862 [Zugriff 2.11.2024].
Wilhelmine Reichard
Literatur H. Ahner, Die Luftfahrten des Ehepaares Reichard. Ein Beitrag zur deutschen Luftfahrtgeschichte, Dresden [Ms.]; J. Petzholdt, Der Plauensche Grund, Dresden 1842, S. 49f.; ders., Professor Johann Gottfried Reichard in Döhlen, Dresden 1844; F. A. Leßke, Beiträge zur Geschichte und Beschreibung des Plauenschen Grundes bei Dresden und seiner anliegenden Ortschaften, Niedergorbitz 1903, Bd. 3, S. 357-359, 836; H. Monjau, Wilhelmine R. - Erste deutsche Ballonfahrerin, Freital 1998. – DBA I, III; NDB 21, S. 293f.
Porträt Madame Wilhelmine R. Erste Deutsche Luftschifferin, Keßner, 1810, Kupferstich, Deutsches Museum München, Reproduktion Städtische Sammlungen Freital (Bildquelle).
Juliane Puls
14.7.2015
Empfohlene Zitierweise:
Juliane Puls, Artikel: Wilhelmine Reichard,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/10862 [Zugriff 2.11.2024].