Gottfried Reichard
Während seines Chemiestudiums beobachtete der gelernte Buchdrucker R. 1804 als völlig mittelloser Student am Studienort Berlin den missglückten Ballonaufstieg des frühen Luftschiffers
Bourget und 1805 den des ersten deutschen Ballonfahrers
Friedrich Wilhelm Jungius, welche sein Interesse an Gasballons weckten. Inspiriert durch das französische Berufsballonfahrer-Paar
Blanchardt wollte R. in Umsetzung seiner physikalischen und chemischen Kenntnisse mit einem Gasballon Mittel für den Bau einer eigenen Chemiefabrik akquirieren. Bei der Rückkehr in seine Vaterstadt Braunschweig begann R., der wohl ein Physik-Lehramt übernommen hatte, 1805 mit den praktischen Vorarbeiten dazu, allein der Ausbruch des napoleonischen Kriegs und zunehmende finanzielle Probleme verhinderten die Umsetzung. Zu jener Zeit trat Wilhelmine Schmidt in R.s. Leben, die später seine Ballonfahrer- und Fabrikantenlaufbahn wesentlich beförderte. Beider Hochzeit fand 1807 in Braunschweig statt, wenig später kam die erste Tochter zur Welt. Die Familie übersiedelte nach Berlin, wo R. als Privatlehrer und mit naturwissenschaftlichen Experimentalvorträgen den kargen Familienunterhalt verdiente. Die in jenen Jahren geknüpfte Beziehung und spätere Freundschaft R.s zum Gymnasialprofessor Jungius erwies sich als fruchtbringend. Das Entstehen von R.s erstem Gasballon, mit dem er am 27.5.1810 als zweiter Deutscher in Berlin aufstieg, verdankte er auch der materiellen Unterstützung von Jungius. Seine junge Ehegattin wagte sich als erste deutsche Frau am 16.4.1811 in die Lüfte und brachte es auf insgesamt 17 Luftfahrten. Die perfekt organisierten Aufstiege mit den beiden ersten Ballons erbrachten dem Ehepaar die Mittel zum Kauf erster Wohn- und Fabrikgrundstücke, später zur Realisierung der lang erstrebten Chemiefabrik. Mit dem dritten Reichard-Ballon, in dessen geräumiger Gondel Platz für bis zu drei Personen war, stieg R. ab 1834 allein aus repräsentativen Gründen als Abschluss seiner Ballonfahrer-Karriere auf. – Nach dem Umzug der Familie 1811 von Berlin nach Dresden sorgten Einladungen zu Ballonaufstiegen und zu naturwissenschaftlichen Experimentalvorträgen inmitten der schwierigen Kriegszeit für die Bekanntschaft mit einflussreichen Persönlichkeiten der Residenzstadt sowie für wirtschaftliches Fortkommen. Eine Anstellung im Plauenschen Grund bei Dresden in der Vitriolfabrik Potschappel diente 1812 erstem Ausschauhalten nach möglichen Fabrikstandorten, jedoch beendeten 1813 erneute kriegerische Ereignisse R.s dortige hoffnungsvolle Tätigkeit. Eine Bestellung zum Dolmetscher bei den napoleonischen Truppen half dem gut Französisch Sprechenden über finanzielle Nöte hinweg. Nahe der zerstörten Arbeitsstätte im Plauenschen Grund siedelte sich die inzwischen fünfköpfige Familie ab 1814 auf einem Grundstück in einem kleinen, abgewohnten Haus an. Die landesherrliche Konzession für seine „Fabrik technisch- und pharmazeutisch-chemischer Produkte“ erhielt R. 1815. Der Fabrikbau begann, eingebettet in Sachsens erste Industrialisierungsphase, 1821 mit den Einnahmen von Aufstiegen mit dem zweiten Ballon und Mitteln der sächsischen Landesregierung. In der bald florierenden Fabrik gelang R. 1822 als wichtigem Schritt auf dem Weg zu einer unabhängigen sächsischen Industrie die Fabrikation konzentrierter Schwefelsäure nach modernster westeuropäischer Technologie, anfangs täglich etwa 20 Pfund, nur 20 Jahre später in zwei Platinkesseln und sechs Bleikammern täglich mindestens 20 Zentner. Außerdem gehörten rauchende Schwefelsäure, Vitriolöl, Salpetersäure, Salzsäure, Soda und allerlei chemische Bedarfsstoffe für Färbereien, Bleichen und Druckereien zur Fabrikationsbreite. Ab 1828 beteiligte sich der Chemiker R. in führender Position am Aufbau zweier Steinkohlen-Aktienbauvereine, die auch der eigenen Rohstoffversorgung dienten und brachte so als einer der ersten sächsischen Unternehmer Bergbau und Chemie in wirtschaftliches Miteinander. Mit zunehmendem Lebensalter verstärkte R. seine publizistische und wissenschaftliche Arbeit, wobei die aeronautischen Probleme der Ballonfahrten, naturwissenschaftliche Themen und seine Heimatregion die Inhalte bildeten. Im Dresdner Gewerbeverein, dem Sächsischen Industrieverein, der Ökonomischen Gesellschaft im Königreich Sachsen und zahlreichen wirtschaftlich bzw. technisch-wissenschaftlichen Vereinen war R. gern gesehener Vortragsgast sowie angesehenes Mitglied. Für vier Jahre führte R.s Ehefrau, nach dessen unerwartet frühem Ableben 1844, erfolgreich die Chemiefabrik weiter. Als auch sie plötzlich verstarb - beide hatten über 20 Jahre inmitten der Fabrikationsgebäude gelebt - führten die Söhne erfolgreich das Unternehmen fort. Ab 1874 leitete der Enkel des Firmengründers,
Otto Reichard, die „Aktiengesellschaft Chemische Fabrik Döhlen“. Als dieser beim Sturz in einen Schwefelsäure gefüllten Bleikessel 1891 tödlich verunglückte, kam es nach Zahlung einer Ablösesumme durch umliegende Gemeinden und Grundbesitzer 1894 zur umweltbedingten Betriebseinstellung.
Literatur H. Ahner, Die Luftfahrten des Ehepaares Reichard. Ein Beitrag zur deutschen Luftfahrtgeschichte, Dresden [Ms.]; J. Petzholdt, Der Plauensche Grund, Dresden 1842, S. 49f.; ders., Professor Johann Gottfried R. in Döhlen, Dresden 1844; J. Oeser (Hg.), Album der Sächsischen Industrie, Neusalza [um 1860], S. 67; F. A. Voigt, Wanderungen durch den Plauenschen Grund, Großburgk 1874, S. 90f.; F. A. Leßke, Beiträge zur Geschichte und Beschreibung des Plauenschen Grundes bei Dresden und seiner anliegenden Ortschaften, Niedergorbitz 1903, Bd. 3, S. 357-359, 836; Professor R.s Luftschiffahrt zu Dresden am 31.5.1818, in: Sächsische Heimat 1924, H. 7, S. 241-244. – DBA I.
Porträt Doppelporträt Wilhelmine und Gottfried R., um 1840, Lithografie, Familienbesitz, Reproduktion Städtische Sammlungen Freital (Bildquelle).
Juliane Puls
21.7.2015
Empfohlene Zitierweise:
Juliane Puls, Artikel: Gottfried Reichard,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/25662 [Zugriff 2.11.2024].
Gottfried Reichard
Literatur H. Ahner, Die Luftfahrten des Ehepaares Reichard. Ein Beitrag zur deutschen Luftfahrtgeschichte, Dresden [Ms.]; J. Petzholdt, Der Plauensche Grund, Dresden 1842, S. 49f.; ders., Professor Johann Gottfried R. in Döhlen, Dresden 1844; J. Oeser (Hg.), Album der Sächsischen Industrie, Neusalza [um 1860], S. 67; F. A. Voigt, Wanderungen durch den Plauenschen Grund, Großburgk 1874, S. 90f.; F. A. Leßke, Beiträge zur Geschichte und Beschreibung des Plauenschen Grundes bei Dresden und seiner anliegenden Ortschaften, Niedergorbitz 1903, Bd. 3, S. 357-359, 836; Professor R.s Luftschiffahrt zu Dresden am 31.5.1818, in: Sächsische Heimat 1924, H. 7, S. 241-244. – DBA I.
Porträt Doppelporträt Wilhelmine und Gottfried R., um 1840, Lithografie, Familienbesitz, Reproduktion Städtische Sammlungen Freital (Bildquelle).
Juliane Puls
21.7.2015
Empfohlene Zitierweise:
Juliane Puls, Artikel: Gottfried Reichard,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/25662 [Zugriff 2.11.2024].