Christian Eberle
E. gilt als die bedeutendste Persönlichkeit in der Geschichte des deutschen Sparkassenwesens. Mit der Einführung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs 1908 in Sachsen bildete er die Grundlage für die Ausbildung der Institute und Verbände zur heutigen Sparkassen-Finanzgruppe. – E. wurde als fünftes und letztes Kind in eine alteingesessene pfälzische Bauernfamilie hineingeboren. Nach dem frühen Tod des Vaters wuchsen er und seine Geschwister in sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Dennoch erhielt E. die Chance, nach der örtlichen Volksschule die Lateinschule in Grünstadt und das Gymnasium in Speyer zu besuchen. Ab 1889 studierte er Rechts- und Staatswissenschaften sowie Philosophie und Volkswirtschaft in Heidelberg. 1890 wechselte er nach München und wenige Monate später nach Leipzig. Im Winter 1892/93 leistete er seinen Militärdienst in Dresden ab. Im Frühjahr 1893 legte E. sein Examen ab und wurde wenig später als Rechtsreferendar in den Dienst der Stadt Leipzig aufgenommen. Im Februar 1896 wurde er promoviert und nahm im November desselben Jahres eine Anstellung als Ratsassessor in der Stadtverwaltung Leipzig an. Dort oblagen ihm hauptsächlich die städtischen Klär- und Schleusenanlagen, der städtische Grundbesitz sowie die Sparkassenverwaltung. 1898 bewarb er sich erfolgreich auf die vakante Stelle des Bürgermeisters in Nossen, die er im Sommer 1898 annahm und bis zum Februar 1919 behielt. Als junger Mann von der Bevölkerung zunächst skeptisch empfangen, gewann er auch durch die Errichtung des Bismarck-Denkmals 1905 bald Vertrauen. Wie überall in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, so wurde auch in Nossen die Infrastruktur den wachsenden Bedürfnissen angepasst. E. trieb diesen Prozess mit Nachdruck voran. Der Ausbau neuer Straßen, der Bau eines Krankenhauses, einer Schule und eines Schwimmbads gelang ihm dabei ebenso wie der Ankauf von Grundstücken sowie der Bau von Arbeiterwohnungen und die Konsolidierung der städtischen Finanzen. – Laut Satzung war er als Bürgermeister Vorsitzender der städtischen Sparkasse, deren Entwicklung ihm sehr am Herzen lag, ebenso wie er versuchte, gewerbliche Unternehmer in der Stadt anzusiedeln. Entsprechend seinen Vorschlägen, ein sparkasseninternes Clearingnetz zu schaffen, damit private Sparkassen- und insbesondere mittelständische Firmenkunden am bargeldlosen Zahlungsverkehr teilhaben konnten, war er 1907 an der Gründung des Sächsischen Sparkassenverbands beteiligt und trieb 1908 die Gründung des Giroverbands Sächsischer Gemeinden mit angeschlossener Girozentrale in Dresden voran. Es handelte sich nicht nur um den ersten Giroverband deutscher Sparkassen überhaupt, die Aufnahme des Giroverkehrs in Sachsen war darüber hinaus wegweisend für die Entwicklung der Sparkassen-Finanzgruppe. In Sachsen initiierte E. als Vorstandsvorsitzender des Sparkassenverbands weitere Verbandsgründungen: die Kreditanstalt Sächsischer Gemeinden (KSG, gegründet 1916), die Öffentliche Versicherungsanstalt Sachsen (ÖVA, gegründet 1919), die Landesbausparkasse Sachsen (LBS, gegründet 1928) sowie 65 Haftungsgenossenschaften sächsischer Girokassen 1923 bis 1928. Ihre Neugründung stellte er jedoch in den 1930er-Jahren ein, da die Solidarhaftungsgemeinschaften nach dem Muster Hermann Schulze-Delitzschs eine direkte Konkurrenz fürchteten und E. das Verhältnis zu ihnen nicht trüben wollte. Am Ende der 1920er-Jahre stand E. nicht nur den Gremien der fünf sächsischen Zweckverbände der Sparkassenorganisation vor, sondern bekleidete darüber hinaus das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden der Chemnitzer Girobank KG und das eines Aufsichtsratsmitglieds der Industriewerke AG Plauen/Vogtland. 1916 war E. maßgeblich am Zusammenschluss der nach sächsischem Vorbild in anderen Teilen des Reichs gegründeten Giroverbände zum Deutschen Zentral-Giroverband beteiligt, dessen Vorstandsmitglied er wurde. 1918 rief er zusammen mit anderen die Deutsche Girozentrale (DGZ) ins Leben und wurde zum Vorsitzenden des Aufsichtsrats gewählt. Die DGZ beteiligte sich 1924 an der Gründung der Zentropa, der Zentraleuropäischen Versicherungsbank AG in Berlin, deren Aufsichtsrat E. ebenfalls angehörte. Als Höhepunkt seiner reichsweiten Aktivitäten leitete er zusammen mit
Ernst Kleiner die Gründung des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands ein (1924), dem er bis zu seinem Tod als stellvertretender Vorstandsvorsitzender angehörte. Daneben publizierte er zahlreiche Schriften zum Sparkassenwesen, die anfänglich im Selbstverlag und als Flugschriften, später von der Schriftenstelle der Sparkassen veröffentlicht wurden. – Neben seinem Engagement für die Sparkassen war E. in die sächsische Mittelstandspolitik involviert. 1909 bis 1916 war er im Vorstand der Mittelstandsvereinigung im Königreich Sachsen aktiv, einer konservativen Interessenvertretung von Handwerkern und mittelständischen Unternehmern, die ihren Höhepunkt vor und während des Ersten Weltkriegs erlebte. Im Auftrag der Mittelstandsvereinigung leitete er 1913 bis 1916 in Leipzig das von ihm 1909 mitbegründete Submissionsamt, ein Dienstleistungszentrum für mittelständische Gewerbetreibende, welches Handwerker bei der Angebotsabgabe auf öffentliche Ausschreibungen beriet sowie die Gründung von Lieferungsverbänden anregte und betreute. 1912 bis 1931 stand E. außerdem dem Reichsdeutschen Mittelstandsverband vor, der drei große Reichsdeutsche Mittelstandstage abhielt, nach dem Ersten Weltkrieg aber kaum mehr öffentlich in Erscheinung trat. – Nachdem E. 1909 mit dem Versuch gescheitert war, als Abgeordneter in den Sächsischen Landtag gewählt zu werden, wurde er 1917 Mitglied der Deutschen Vaterlandspartei. Dort traf er auf
Wolfgang Kapp, mit dem er bereits vor dem Ersten Weltkrieg Ideen bezüglich einer Versicherungsanstalt ausgetauscht hatte. Nachdem die Deutsche Vaterlandspartei 1918 in der Deutschnationalen Volkspartei aufgegangen war, kandidierte E. 1920 erneut für den Sächsischen Landtag, dem er 1920 bis 1930 als Abgeordneter der DNVP angehörte. – E. versuchte über drei Jahrzehnte hinweg, die Sparkassen als eigenverantwortliche Körperschaften im Sinne der kommunalen Selbstverwaltung zu gestalten. Seine Motivation, den gewerblichen Mittelstand mit Hilfe der Sparkassen zu fördern und dabei wirtschaftsethische Grundsätze zu beachten, zog er stets, ähnlich wie
Friedrich Wilhelm Raiffeisen, aus seinem starken protestantischen Glauben.
Ab 1933 war er nicht abgeneigt, die Sparkassen in den Dienst des nationalsozialistischen Systems zu stellen, nachdem er der demokratischen Republik von Weimar und Reformen aus dieser Zeit skeptisch gegenübergestanden hatte. Zu spät durchschaute E. das totalitäre Regime und litt unter seinem zunehmend enger werdenden Handlungsspielraum. Zumindest konnte er durchsetzen, dass Curt Lahr, den er von Kindheit an kannte, sein Nachfolger in den Gremien der sächsischen Sparkassenorganisation wurde. E. starb resigniert und von zuverlässigen Personennetzwerken weitgehend abgeschnitten 1937 in Dresden.
Werke Der angemessene Preis, Leipzig 31912; Dr. E. spricht. Schriften, Reden, Aufsätze zur Erneuerung der Sparkassen, Stuttgart 1959.
Literatur B. Hillen, Der Sparkassenreformer und sächsische Mittelstandspolitiker Johann Christian E. (1869-1937), Beucha 2004 (Bildquelle). – DBA II; DBE 2, S. 673; NDB 4, S. 243f.
Barbara Hillen
17.6.2005
Empfohlene Zitierweise:
Barbara Hillen, Artikel: Christian Eberle,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1262 [Zugriff 4.11.2024].
Christian Eberle
Werke Der angemessene Preis, Leipzig 31912; Dr. E. spricht. Schriften, Reden, Aufsätze zur Erneuerung der Sparkassen, Stuttgart 1959.
Literatur B. Hillen, Der Sparkassenreformer und sächsische Mittelstandspolitiker Johann Christian E. (1869-1937), Beucha 2004 (Bildquelle). – DBA II; DBE 2, S. 673; NDB 4, S. 243f.
Barbara Hillen
17.6.2005
Empfohlene Zitierweise:
Barbara Hillen, Artikel: Christian Eberle,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1262 [Zugriff 4.11.2024].