Werner Hartenstein
Als erfahrener Verwaltungsjurist stand H. in drei verschiedenen Systemen - im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im NS-Regime - in sächsischen Diensten. Als Oberbürgermeister lenkte er mehr als zwei Jahrzehnte die Geschicke der sächsischen Bergstadt Freiberg, ab 1933 als aktiver nationalsozialistischer Kommunalpolitiker. – In Lothringen geboren, wohin sein Vater aus dem sächsischen Staatsdienst berufen worden war, besuchte H. nach der Rückkehr der Familie nach Sachsen das Königliche Gymnasium in Dresden-Neustadt. Er studierte Rechtswissenschaften und Volkswirtschaft in Freiburg/Breisgau und Leipzig und absolvierte nach erfolgreicher Promotion sein Referendariat an den Amtsgerichten in Radeberg und Pirna. Danach stieg er schnell in den höheren Verwaltungsdienst auf und war u.a. in den Amtshauptmannschaften Grimma und Chemnitz sowie später bei der Polizeidirektion Dresden tätig. Dort leitete er ab 1912 die politische Abteilung. Im Ersten Weltkrieg diente H. als Hauptmann und war ab 1915 im Stab des Feldmarschalls
August von Mackensen tätig - zuletzt als Chef der Politischen Polizei im besetzten Rumänien. Er war Träger des Eisernen Kreuzes I. und II. Klasse, des Ritterkreuzes mit Schwertern I. und II. Klasse des Albrechtsordens, aber auch von Orden und Ehrenkreuzen der österreichisch-ungarischen Monarchie und anderer deutscher Kriegsverbündeter. – Nach Kriegsende arbeitete H. als Regierungsrat in der Amtshauptmannschaft Pirna, danach als Amtshauptmann in Zwickau und stellvertretender Amtshauptmann in Bautzen. Am 13.2.1924 wurde er schließlich als konservativer Kandidat mit 25 von 40 Stimmen in der Stadtverordnetenversammlung zum Oberbürgermeister der Stadt Freiberg gewählt. Der erfahrene Jurist und Verwaltungsfachmann genoss während seiner Amtsausübung in der Weimarer Republik großes Ansehen und Beliebtheit. Sein Einsatz galt dem nach Ende der Nachkriegskrise und der Inflationszeit besonders notwendig gewordenen kommunalen Wohnungsbau. So wurden unter seiner Leitung 1924 bis 1927 erste Siedlungsbebauungen zur Linderung der Wohnungsnot realisiert. Ebenso widmete er sich der besseren Gesundheits- und Sozialfürsorge in der Stadt, u.a. durch den Neubau des Stadt- und Bezirkskrankenhauses Freiberg (1928-1930), seinerzeit einer der innovativsten und modernsten Bauten sachsen- und deutschlandweit. In Zusammenarbeit mit seinem seit 1926 für Freiberg tätigen Stadtbaurat Georg Salzmann entstanden zahlreiche, bis heute das Stadtbild prägende Bauten der Moderne. H. setzte sich für die Neuansiedlung von Unternehmen in der seit 1913 vom Ende des Bergbaus infrastrukturell geschwächten Region und für eine intensive Zusammenarbeit von Stadt, Bildung und Wissenschaft ein. Beachtenswert war auch seine enge Verbundenheit mit dem Stadttheater Freiberg und dem gesamten Kulturleben der Stadt. – H. unterstützte bereits im zeitigen Frühjahr 1933 bedingungslos und aktiv die Politik der Nationalsozialisten. Mit einer ebenso programmatischen wie demonstrativen öffentlichen Rede am 21.3.1933, dem Tag der Eröffnung des von der NSDAP dominierten neuen Reichstags, stellte sich H. als Oberbürgermeister ohne jede Einschränkung hinter deren völkisch-nationalistischen Ziele und deren Verachtung sowie Außerkraftsetzung grundsätzlicher bürgerlich-demokratischer Rechte. Ohne Not, noch bevor er selbst der NSDAP am 1.5.1933 beitrat, proklamierte er in seiner Rede die Ausschließung und gewaltsame Verfolgung aller politischen Gegner und jener, die „keine Deutschen sind, die kein Gefühl haben für den Geist, der ein Volk ausmacht, die kein Vaterland kennen wollen“ (Freiberger Anzeiger und Tageblatt 23.3.1933, Stadtarchiv Freiberg). Durch eine Vielzahl von Dokumenten und persönlichen Zeugnissen Betroffener ist belegt, dass H. keineswegs nur ein „harmloser Mitläufer der NSDAP“ war oder gar „das nationalsozialistische Regime zutiefst verachtet“ (Freie Presse Freiberg 10.2.2010) habe, wie es gelegentlich bis heute kolportiert wird. Entschlossen und in Details bedenkenlos unterstützte H. die „Säuberung“ des öffentlichen Diensts von politischen Gegnern und agierte selbst aktiv bei der „Entjudung“ des Verwaltungs- und Kulturbetriebs der Stadt. Er kooperierte mit der NSDAP ohne erkennbare Einschränkung bei der Einbeziehung des kommunalen Verwaltungsapparats in die Erfassung, Isolierung und Enteignung der von der NS-Gesetzgebung als „Rassejuden“ diskriminierten Einwohner Freibergs. Nachweisbar spannte H. die kommunale Verwaltung nach Kriegsbeginn auch in die Vorbereitung und den Einsatz von Zwangsarbeitern, sog. Zivil- oder Fremdarbeitern, Kriegsgefangenen und schließlich auch von KZ-Häftlingen ein. – In den letzten Kriegstagen verweigerte sich H. dem allgemein geltenden Befehl des Reichsführers SS,
Heinrich Himmler, jede deutsche Kommune bis zum Schluss zu verteidigen. Mit Unterstützung des Wehrmachts-Standortältesten, Oberstleutnant
Carl Redlich, setze sich H. erfolgreich dafür ein, die Verteidigungslinien weit vor die Stadt zu ziehen, Rückzugswege von militärischen Einheiten um die Stadt herum zu leiten und sinnlose Sprengungen zu vermeiden. Am Morgen des 7.5.1945 versicherte sich H. der Unterstützung ehemaliger sozialdemokratischer Stadtverordneter und wies, nach Abzug der letzten militärischen Verbände, das Hissen der weißen Fahne auf dem weithin sichtbaren Petriturm an. – Durch den sowjetischen Ortskommandanten Gardeoberst
Georgi Danilowitsch Koschmjak wurde H. zunächst weiter im Amt des Oberbürgermeisters belassen. Erst aufgrund eines NKWD-Befehls vom 18.4.1945, der die Registrierung aller NSDAP-Mitglieder und die Internierung aktiver NSDAP-Mitglieder in Speziallagern anordnete, wurde H. am 2.6.1945 entlassen. H. wurde nach einer Unterbrechung, in der sein Nachfolger
Rudolph de Guehery amtierte, noch einmal zurückgeholt, musste aber Anfang August 1945 endgültig aus dem Amt ausscheiden. Im Spätsommer 1945 wurde er auf der Grundlage eines SMAD-Befehls vom 27.8.1945, wonach nun auch leitende Verwaltungsbeamte, der NSDAP angehörende Lehrer sowie alle Personen zu verhaften seien, die als potenzielle Gegner der Besatzungsmacht und der von ihr eingesetzten deutschen Organe gelten konnten, durch die neue Ortspolizei festgenommen. Im September 1945 wurde H. zusammen mit weiteren Freiberger Verhafteten zunächst in das NKWD-Speziallager Nr. 4 nach Bautzen transportiert. Am 21./22.9.1946 kam H. aus dem überfüllten Lager Bautzen in das sowjetische Speziallager Nr. 6 in Jamlitz. Er verstarb dort aufgrund der katastrophalen Lebensbedingungen im Februar 1947. – Am 7.2.1995 brachte die Stadt Freiberg an der ehemaligen Dienstwohnung des Oberbürgermeisters H. eine Gedenktafel an, auf der sein „besonnenes Handeln“ gewürdigt wird, mit dem er Freiberg „1945 vor sinnloser Zerstörung“ bewahrt habe. Jährlich erfolgen ehrende Besuche von Vertretern der Stadt und verschiedener Vereine und Verbände in Jamlitz. – Festzuhalten bleibt, dass es anhaltende unterschiedliche Bewertungen des Wirkens von H. gibt, die einerseits die Rolle H.s bei der kampflosen Übergabe der Stadt an die Rote Armee hervorheben, andererseits dessen Handeln als Aktivist nationalsozialistischer Kommunalpolitik auszublenden versuchen.
Quellen Bundesarchiv Berlin; Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden; Stadtarchiv Freiberg; Universitätsarchiv TU Bergakademie Freiberg; Bergarchiv Freiberg.
Werke Die Bewahrung der Stadt Freiberg vor der Zerstörung beim Einmarsch der Russen am 7. Mai 1945 [Faksimile der handschriftlichen Aufzeichnungen von H.], in: Mitteilungen des Freiberger Altertumsvereins 72/1992, S. 108-117.
Literatur K. Ufer, Weiße Fahnen auf dem Petriturm. Vor 20 Jahren wurde Freiberg vom Faschismus befreit, in: Neue Freiberger Wochenzeitung für Stadt und Land 6.5.1965; M. Hiekel, Befreiung vom Faschismus und antifaschistische-demokratische Umwälzung 1945-1949, in: H.-H. Kasper/E. Wächtler (Hg.), Geschichte der Bergstadt Freiberg, Weimar 1986, S. 297-321; V. Bannies/D. Sippel, Dr. jur. Werner H. (1879-1947) - ein Leben für Freiberg, in: Mitteilungen des Freiberger Altertumsvereins 72/1992, S. 100-107; A. Weigelt, „Umschulungslager existieren nicht“. Zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 6 in Jamlitz 1945-1947, Potsdam 2001; W. Lauterbach, Werner H, in: Mitteilungen des Freiberger Altertumsvereins 92/2003, S. 94-96; K. Rümmler, Ehrung für Freibergs Retter Dr. Werner H., in: Das Jahrbuch für die Region Freiberg 14/2004, S. 160f.; M. Düsing, „Mein Weg, Herr Oberbürgermeister, ist schon bestimmt“. Judenverfolgung in Freiberg 1933-1945, Dresden 2011; K. Rümmler, Spurlos verschwunden. Eine Dokumentation über die Nachkriegsgewaltherrschaft in der Region Freiberg/Sa., Dresden 2012; M. Düsing, Zwangsarbeit für den Endsieg. Wie jüdische Mädchen in Freiberg gezwungen wurden, an Hitlers „Wunderwaffen“ mitzubauen, Dresden 2015; Ders., „Denkbar beste Zusammenarbeit“. Wie ein Oberbürgermeister und seine Verwaltungselite „kritische Zeiten“ meisterten, in: Mitteilungen des Freiberger Altertumsvereins 109/110/2016, S. 311-392; Ders., „Die Kristallnacht hat alles geändert“. Novemberpogrome 1938 in Freiberg, Dresden 2018. – DBA II.
Porträt Werner H. am 19.6.1938 auf dem Obermarkt, 1938, Fotografie, Stadtarchiv Freiberg; H. (m. Hund), Fotografie, Universitätsarchiv TU Bergakademie Freiberg (Bildquelle).
Michael Düsing
14.1.2019
Empfohlene Zitierweise:
Michael Düsing, Artikel: Werner Hartenstein,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/9721 [Zugriff 22.11.2024].
Werner Hartenstein
Quellen Bundesarchiv Berlin; Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden; Stadtarchiv Freiberg; Universitätsarchiv TU Bergakademie Freiberg; Bergarchiv Freiberg.
Werke Die Bewahrung der Stadt Freiberg vor der Zerstörung beim Einmarsch der Russen am 7. Mai 1945 [Faksimile der handschriftlichen Aufzeichnungen von H.], in: Mitteilungen des Freiberger Altertumsvereins 72/1992, S. 108-117.
Literatur K. Ufer, Weiße Fahnen auf dem Petriturm. Vor 20 Jahren wurde Freiberg vom Faschismus befreit, in: Neue Freiberger Wochenzeitung für Stadt und Land 6.5.1965; M. Hiekel, Befreiung vom Faschismus und antifaschistische-demokratische Umwälzung 1945-1949, in: H.-H. Kasper/E. Wächtler (Hg.), Geschichte der Bergstadt Freiberg, Weimar 1986, S. 297-321; V. Bannies/D. Sippel, Dr. jur. Werner H. (1879-1947) - ein Leben für Freiberg, in: Mitteilungen des Freiberger Altertumsvereins 72/1992, S. 100-107; A. Weigelt, „Umschulungslager existieren nicht“. Zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 6 in Jamlitz 1945-1947, Potsdam 2001; W. Lauterbach, Werner H, in: Mitteilungen des Freiberger Altertumsvereins 92/2003, S. 94-96; K. Rümmler, Ehrung für Freibergs Retter Dr. Werner H., in: Das Jahrbuch für die Region Freiberg 14/2004, S. 160f.; M. Düsing, „Mein Weg, Herr Oberbürgermeister, ist schon bestimmt“. Judenverfolgung in Freiberg 1933-1945, Dresden 2011; K. Rümmler, Spurlos verschwunden. Eine Dokumentation über die Nachkriegsgewaltherrschaft in der Region Freiberg/Sa., Dresden 2012; M. Düsing, Zwangsarbeit für den Endsieg. Wie jüdische Mädchen in Freiberg gezwungen wurden, an Hitlers „Wunderwaffen“ mitzubauen, Dresden 2015; Ders., „Denkbar beste Zusammenarbeit“. Wie ein Oberbürgermeister und seine Verwaltungselite „kritische Zeiten“ meisterten, in: Mitteilungen des Freiberger Altertumsvereins 109/110/2016, S. 311-392; Ders., „Die Kristallnacht hat alles geändert“. Novemberpogrome 1938 in Freiberg, Dresden 2018. – DBA II.
Porträt Werner H. am 19.6.1938 auf dem Obermarkt, 1938, Fotografie, Stadtarchiv Freiberg; H. (m. Hund), Fotografie, Universitätsarchiv TU Bergakademie Freiberg (Bildquelle).
Michael Düsing
14.1.2019
Empfohlene Zitierweise:
Michael Düsing, Artikel: Werner Hartenstein,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/9721 [Zugriff 22.11.2024].