Woldemar Kandler
K. war in Sachsen im frühen 20. Jahrhundert ein gefragter Kirchenarchitekt. Zwischen 1891 und 1914 baute und restaurierte er mehr als 40 evangelische Kirchen und Pfarrhäuser. Darüber hinaus befasste er sich mit dem Umbau und der Erweiterung alter Herrensitze. K.s Bauten lassen eine behutsame Abkehr vom Historismus erkennen. Um die Kirchen in das Landschaftsbild einzugliedern, nahm er traditionelle Bauformen auf, die er frei verarbeitete, vermischte und mit Elementen des Jugendstils kombinierte. Mit seinem hohen Verständnis für historisch gewachsene Bauten und Ausstattungen führte er einfühlsame Restaurierungen und Kirchenerweiterungen durch. – Der aus einer sehr armen Familie stammende K. erhielt an der Dresdner Baugewerkeschule eine bautechnisch orientierte Ausbildung, um dann an der Dresdner Kunstakademie bei Konstantin Lipsius Architektur zu studieren. Erste Erfahrungen sammelte er 1888/89 als Bauführer bei der Errichtung der Andreaskirche in Chemnitz-Gablenz. Nachdem er ein eigenes Architekturbüro in Dresden gegründet hatte, leitete er 1891/92 die Erneuerung der Stadtkirche in Sayda im Erzgebirge. Die Stadtkirche St. Nikolai in Wilsdruff (1897-1899) war sein erster Kirchenbau nach eigenen Plänen. Bis zum Ersten Weltkrieg war K. einer der beliebtesten Kirchenbaumeister in Sachsen. Er gehörte neben Theodor Quentin, Julius Zeißig und der Architektenfirma Schilling & Graebner zu den von der evangelischen Landeskirche empfohlenen Sachverständigen, denen man Kirchenbauten auch ohne Wettbewerb anvertraute. Gemäß dem Eisenacher Regulativ von 1861, das zuletzt 1899 überarbeitet wurde, haben die Kirchen ein rechteckiges Langhaus und einen abgesonderten Chor. Neuartigen Grundrisslösungen, wie sie etwa von Schilling & Graebner vorgeschlagen wurden, stand K. ablehnend gegenüber. Auch der von reformorientierten Architekten geforderten Monumentalisierung der Baumassen folgte K. nicht. Seine Kirchen sind stets malerisch gestaltet. – K. orientierte sich zunächst an der Neogotik. Die St. Michaeliskirche in Dresden-Bühlau (1898/99), die Lutherkirche in Meißen-Triebischtal (entworfen 1898, ausgeführt 1901-1904) sowie die Kirchen in Hammerunterwiesenthal bei Annaberg (1898/99) und Lauterbach bei Marienberg (1906/07) folgen dieser Stilrichtung. Während die Nikolaikirche in Wilsdruff (1897-1899) eine eigenwillige Mischung aus früh- und spätgotischen Bauformen zeigt, reduzierte K. die neogotischen Elemente nach der Jahrhundertwende zugunsten von Renaissance- und Barockmotiven sächsischer Herkunft. Besondere Sorgfalt widmete er der Ausbildung der Türme, die er in das sächsische Landschaftsbild einzugliedern versuchte. Die St. Jakobuskirche in Freital-Pesterwitz (1905/06) erweckt mit ihrer traditionell geformten Turmhaube den Eindruck einer barocken Dorfkirche. K. entwarf die malerisch angelegten Dorfkirchen in Sehma bei Annaberg (1898/99), Krummenhennersdorf bei Freiberg (1900), Schmeckwitz bei Kamenz (1900/01), Deutscheinsiedel (1903-1905), Pobershau bei Marienberg (1904), Cunnersdorf bei Kamenz (1906/07), Lichtentanne (1907/08) und Cranzahl bei Annaberg (1907/08). In städtischer Umgebung entstanden die Lutherkirche in Glauchau (1908/09) und die Peter-Pauls-Kirche in Coswig (1901-1903). Die Kirchen in Haberspirk (tschech. Habartov) (1908, 1950-1952 zerstört), Karbitz (tschech. Chabařovice) (1899-1901, nach 1970 zerstört), Warnsdorf (tschech. Varnsdorf) (1904) und Wisterschan (tschech. Bystřany) (1904) errichtete K. für die im Zuge der Los-von-Rom-Bewegung neu gegründeten evangelischen Gemeinden in Nordböhmen. K.s Kirchen zeigen mancherlei Ähnlichkeiten. So ist das geräumige Kirchenschiff der St. Michaeliskirche in Dresden-Bühlau mit einer dreiseitig gestuften Decke versehen. Diese Deckenform wiederholte K. oft, wobei er das Mittelteil mitunter auch bogenförmig ausbildete. K. legte großen Wert auf künstlerisch hochwertige Kirchenausstattungen. Die Emmauskirche in Schwarzenberg-Neuwelt (1900/01), die Christuskirche in Dresden-Klotzsche (1905-1907) und die Kirche in Zschadraß-Collmen bei Colditz (1908/09) erhielten ornamentale Ausmalungen, die durch den Jugendstil beeinflusst sind. – K. wurde für viele Bauaufgaben im kirchlichen Umfeld herangezogen. Er errichtete Pfarrhäuser, u.a. in Auerbach, Thurm und Malschwitz bei Bautzen, und entwarf Grabmäler und Mausoleen. Auch die Friedhofskapellen in Dresden-Klotzsche, Dresden-Gittersee, Riesa-Gröba, Lichtentanne und Thurm gehen auf ihn zurück. Die von K. geleiteten Kirchenrestaurierungen zeigen einen großen Respekt vor gewachsenen historischen Werten. K. setzte sich dafür ein, die alten, zum Abbruch bestimmten Kirchen in Coswig bei Dresden und in Lauterbach bei Marienberg zu erhalten. Während die Wehrkirche in Lauterbach auf den Friedhof umgesetzt wurde, blieb die Coswiger Kirche am alten Standort. Die Stadtkirche in Geyer baute er 1908 tiefgreifend um, ohne aber das äußere Erscheinungsbild anzutasten. Als die Stadtkirche in Strehla 1908/09 restauriert wurde, ließ er die alten Deckenbilder des 17. Jahrhunderts wieder einbauen. Die Chorturmkirchen in Großbuch und Bernbruch bei Grimma wurden behutsam erweitert. – Unter den Profanbauten, die K. ausführte, sind die Schulen in Großbardau, Grethen, Beiersdorf bei Grimma und Cunnersdorf bei Kamenz zu nennen. In Hohnstein gestaltete er eine ehemalige Brauerei zum Rathaus um. Durch seine Kirchenbauvorhaben hatte K. engen Kontakt zum sächsischen Adel, was ihm weitere Aufträge einbrachte. Er gestaltete die Burg Gnandstein um und erneuerte die Herrensitze in Gersdorf bei Roßwein und in Cunnersdorf bei Kamenz. In Dresden-Klotzsche gehen auf K. außer der Christuskirche im Ortsteil Königswald das Kirchgemeindehaus und sieben Wohnhäuser zurück. Darunter befindet sich auch sein eigenes Haus in der Goethestraße 3, wo er 1929 verstarb.
Literatur H. Magirius, Geschichte der Denkmalpflege. Sachsen, Berlin 1989; H. Mai, Kirchen in Sachsen. Vom Klassizismus bis zum Jugendstil, Berlin/Leipzig 1992; ders., Die Kirchenbauten von Woldemar K. (1866-1929), in: Denkmalkunde und Denkmalpflege. Wissen und Wirken. Festschrift für Heinrich Magirius zum 60. Geburtstag, Dresden 1995, S. 447-463. – DBA II.
Matthias Donath
5.3.2012
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Donath, Artikel: Woldemar Kandler,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/23526 [Zugriff 24.11.2024].
Woldemar Kandler
Literatur H. Magirius, Geschichte der Denkmalpflege. Sachsen, Berlin 1989; H. Mai, Kirchen in Sachsen. Vom Klassizismus bis zum Jugendstil, Berlin/Leipzig 1992; ders., Die Kirchenbauten von Woldemar K. (1866-1929), in: Denkmalkunde und Denkmalpflege. Wissen und Wirken. Festschrift für Heinrich Magirius zum 60. Geburtstag, Dresden 1995, S. 447-463. – DBA II.
Matthias Donath
5.3.2012
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Donath, Artikel: Woldemar Kandler,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/23526 [Zugriff 24.11.2024].