Wilhelm Sandmann
S. war an der Inbetriebnahme des ersten deutschen Fahrbibliotheksbusses der Städtischen Bücherei und Lesehalle Dresden am 23.9.1929 beteiligt. – Die zahlreichen Dresdner Eingemeindungen nach dem Ersten Weltkrieg hatten erhebliche finanzielle Mittel für die zum Teil noch mangelhaft ausgestatteten Vorortbibliotheken erforderlich gemacht, um deren Ansprüchen in büchereitechnischer, wissenschaftlicher und sozialpädagogischer Hinsicht gerecht zu werden. Auf Vorschlag des damaligen Direktors der Städtischen Bücherei und Lesehalle, Alfred Löckle, wurde anstelle der kleinen Standortbüchereien eine zentrale Fahrbücherei eingeführt. Bei den Vorbereitungsarbeiten konnte S. seine Erfahrungen einbringen, die er mit tragbaren und fahrbaren Feldbüchereien während seines Einsatzes im Ersten Weltkrieg erlangt hatte. – S. besuchte das Realgymnasium in Münster und legte dort im Herbst 1901 das Reifezeugnis ab. 1901 bis 1905 studierte er an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Philosophie, neuere Philologie und Germanistik. Danach betrieb er private Studien, um an einer Dissertation über
Annette von Droste-Hülshoff zu arbeiten, die er aber nicht zu Ende führte. 1912/13 arbeitete S. als Volontär an der Wilhelm-Auguste-Viktoria-Bücherei der Stadt Dortmund. Zu einer Anstellung kam es nicht, sodass er sich danach in Krefeld wiederum mit privaten Studien beruflich weiter qualifizierte. Anschließend volontierte S. von Oktober bis Dezember 1913 als cand. phil. an der damaligen Städtischen Zentralbibliothek in Dresden. Hier bekam er ab 1.1.1914 die Stelle eines Bibliotheksassistenten. Vom 2.9.1915 bis zum Kriegsende wurde S. zum Heeresdienst (Landsturm) einberufen. Dort leitete er eine fahrbare Feldbücherei. 1917 erhielt er für diesen Einsatz die sächsische Friedrich-August-Medaille. Nach der Entlassung aus dem Militärdienst setzte S. am 22.12.1918 seine Tätigkeit in der aus der Zentralbibliothek hervorgegangenen Städtischen Bücherei und Lesehalle fort. 1919 nahm er an den vom Sächsischen Verband für Volksbildung veranstalteten Erörterungstagen in Leipzig teil. In seinem Rechenschaftsbericht lehnte er die von dem Direktor der Leipziger Bücherhallen, Walter Hofmann, vertretene Richtung ab, insbesondere Forderungen zu einem Präsenzkatalog als Hilfsmittel für die individualisierende Ausleihe sowie zum psychologischen Personalbogen. Vielmehr sollte nach S. nicht nur persönliche, sondern auch soziale Bildung vermittelt werden. Am 1.1.1920 wurde S. zum Bibliothekar befördert, und im gleichen Jahr erhielt er mit Einführung der neuen Besoldungsordnung den Titel Oberbibliothekar. 1922 wurde ihm der Titel Oberstadtbibliothekar verliehen. Ab 1927 beschäftigte sich S. mit den Entwürfen zur Inbetriebnahme einer Fahrbibliothek. Er lehnte eine Fahrbücherei, die nach Münchner Vorbild an ein Straßenbahnnetz gebunden war, ab und favorisierte einen Bibliotheksbus, der schließlich nach seinen Vorgaben von der Sächsischen Waggon-Fabrik Werdau gebaut wurde. Neben seinem Dienst in der täglichen Ausleihe war S. Vertreter des Direktors und Dezernent für die Zweig- und Ausgabestellen sowie die Fahrbibliothek. Er war außerdem zuständig für die Unterrichtung des bibliothekarischen Nachwuchses sowie für Leserberatungen und wöchentliche Buchbesprechungen. Während der Zeit der Beurlaubung und Erkrankung des Direktors Löckle richtete sich S. ganz entschieden gegen die Sparmaßnahmen seitens des Finanzamts. Er sah das Reorganisationswerk der Bücherei, welches durch Krieg und Inflation gelitten hatte, in Gefahr. So setzte sich S. dafür ein, dass die vielen Arbeitslosen trotz ihrer schlechten finanziellen Lage durch gute Lektüre eine gewisse Bildung erwerben konnten. Die „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten 1933 war auch für die Städtische Bücherei und Lesehalle der Beginn eines personellen, bestandsmäßigen und organisatorischen Umbildungs- und Neuformierungsprozesses. S. versah seinen Dienst in der Bibliothek nicht im Sinne der Nationalsozialisten und kam in den Ruf der „politischen Unzuverlässigkeit“. Im März 1933 sah er sich als Vertreter des Direktors mit einer Eingabe des Polizeipräsidiums Dresden konfrontiert, worin beanstandet wurde, dass sich im Bücherverzeichnis der Städtischen Bücherei und Lesehalle noch immer Bücher von
Wladimir Iljitsch Lenin und
Karl Marx befänden. In seiner Stellungnahme antwortete S. ausweichend. Unter Berufung auf § 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung eines nationalen Berufsbeamtentums und zur Vereinfachung der Verwaltung vom 7.4.1933 wurde S. in den vorzeitigen Ruhestand mit verminderten Pensionsbezügen versetzt. Ende des Jahrs trat S. aus dem Verband Deutscher Volksbibliothekare e.V. aus. Aufgrund seiner prekären finanziellen Situation verließ er Dresden und hielt sich vorerst in Hiddentrupp/Lippe auf, bis er 1936 nach Bielefeld zog.
Quellen Stadtarchiv Dresden, Schulamt, Stadtverordnetenakten, Y1 Verwaltungsakten, Die Verwaltung der Stadt Dresden 1933; Städtische Bibliotheken Dresden, Facharchiv, Kleine Chronik der Fahrbibliothek, Dresden 2001; Standesamt Münster, Geburtenregister; Stadtarchiv Münster, Meldebücher 1880-1920, Sterberegister 646/38; Bischöfliches Generalvikariat Münster, Pfarramt Münster St. Ludgeri; Bundesarchiv Berlin, ehemaliges Berlin Document Center, RKK, S., Wilhelm; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand Einwohnermeldeamt, Standesamt, Sterberegister; Gemeinde Verl, Gemeindearchiv; Privatarchiv S. Mildenberger, Freiburg/Breisgau.
Werke Fahrbare und tragbare Feldbüchereien, in: Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen 18/1917, S. 56-60.
Literatur Beamtenbuch der Stadt Dresden 1922, S. 43; Bücherei und Bildungspflege 4/1924, S. 299, 9/1929, S. 32f.; U. Amlung, Dresdner Schulwesen in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945, in: Dresdner Geschichtsbuch, hrsg. vom Stadtmuseum Dresden, Bd. 8, Altenburg 2002, S. 181-206; G. Hoppe, Die Dresdner Verwaltung in der Zeit des Nationalsozialismus 1933 bis 1945, in: ebd., Bd. 9, Altenburg 2003, S. 164-194; Stadttore zur Medienwelt, hrsg. von den Städtischen Bibliotheken Dresden, Altenburg 2006.
Porträt Wilhelm S., Fotografie, Privatarchiv S. Mildenberger, Freiburg/Breisgau (Bildquelle).
Edda Siegel
7.12.2009
Empfohlene Zitierweise:
Edda Siegel, Artikel: Wilhelm Sandmann,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/25035 [Zugriff 21.11.2024].
Wilhelm Sandmann
Quellen Stadtarchiv Dresden, Schulamt, Stadtverordnetenakten, Y1 Verwaltungsakten, Die Verwaltung der Stadt Dresden 1933; Städtische Bibliotheken Dresden, Facharchiv, Kleine Chronik der Fahrbibliothek, Dresden 2001; Standesamt Münster, Geburtenregister; Stadtarchiv Münster, Meldebücher 1880-1920, Sterberegister 646/38; Bischöfliches Generalvikariat Münster, Pfarramt Münster St. Ludgeri; Bundesarchiv Berlin, ehemaliges Berlin Document Center, RKK, S., Wilhelm; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand Einwohnermeldeamt, Standesamt, Sterberegister; Gemeinde Verl, Gemeindearchiv; Privatarchiv S. Mildenberger, Freiburg/Breisgau.
Werke Fahrbare und tragbare Feldbüchereien, in: Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen 18/1917, S. 56-60.
Literatur Beamtenbuch der Stadt Dresden 1922, S. 43; Bücherei und Bildungspflege 4/1924, S. 299, 9/1929, S. 32f.; U. Amlung, Dresdner Schulwesen in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945, in: Dresdner Geschichtsbuch, hrsg. vom Stadtmuseum Dresden, Bd. 8, Altenburg 2002, S. 181-206; G. Hoppe, Die Dresdner Verwaltung in der Zeit des Nationalsozialismus 1933 bis 1945, in: ebd., Bd. 9, Altenburg 2003, S. 164-194; Stadttore zur Medienwelt, hrsg. von den Städtischen Bibliotheken Dresden, Altenburg 2006.
Porträt Wilhelm S., Fotografie, Privatarchiv S. Mildenberger, Freiburg/Breisgau (Bildquelle).
Edda Siegel
7.12.2009
Empfohlene Zitierweise:
Edda Siegel, Artikel: Wilhelm Sandmann,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/25035 [Zugriff 21.11.2024].