Wilhelm Hübner
In der kollektiven Erinnerung an die Kindersoldaten des Zweiten Weltkriegs nimmt Wilhelm Hübner einen bildkräftigen Platz ein. Adolf Hitler gratulierte dem knapp 17-Jährigen am 19.3.1945 zu seiner Auszeichnung mit dem Eisernen Kreuz. Die letzte Filmaufnahme mit Hitler, entstanden im Garten der Berliner Reichskanzlei, zeigt den Diktator, wie er Hübner scheinbar fürsorglich die Wange tätschelt. Die Geschichte des Hitlerjungen ist die einer mehrfachen, in BRD und DDR bis 1990 deutlich unterschiedlichen ikonischen Vereinnahmung. Diese nahm im März 1945 ihren Anfang und hält unter anderen Voraussetzungen bis heute an. – Hübner wuchs in
Lauban (poln. Lubań) im damaligen Niederschlesien auf. Von seinen beiden Brüdern starb einer im frühen Kindesalter. Die Lebensverhältnisse seien einfach gewesen, berichtete Hübner später; der Vater streng und lieblos. 1939 wurde Hübner in das Deutsche Jungvolk aufgenommen. In die Hitlerjugend (HJ) wurde er 1944 überführt. Wegen seiner katholischen Konfession sah er sich dort zwar gelegentlich dem Spott von Kameraden und vorgesetzten HJ-Führern ausgesetzt. Jahrzehnte später erinnerte sich Hübner dennoch - wie viele Zeitzeugen seiner Generation - positiv an die vormilitärischen Geländespiele der HJ. Die im Frühjahr 1944 bei der Deutschen Reichsbahn begonnene Lehre zum Schlosser musste Hübner kriegsbedingt unterbrechen. Anfang 1945 meldete sich Hübner als Freiwilliger für den sog. Volkssturm. Der überwiegende Teil der im Gebiet ansässigen HJ-Einheiten war bereits in rückwärtiges Territorium evakuiert worden. Doch Hübner blieb ab Mitte Februar im umkämpften Lauban als Meldegänger zurück. – Nach kurzzeitigen Geländegewinnen, in deren Folge die Rote Armee unerwartet zurückgeworfen werden konnte, reiste Joseph Goebbels am 6.3. nach Lauban, bevor er anschließend das rund 20 km entfernte Görlitz besuchte. Auf dem Laubaner Marktplatz gratulierte der Minister für Volksaufklärung und Propaganda verschiedenen Angehörigen des Volkssturms zur Verleihung des Eiserneren Kreuzes, darunter auch Hübner, dem der Wehrmachtsgeneral Ferdinand Schoerner das Eiserne Kreuz 2. Klasse an die Uniform heftete. Zum ersten Mal wurde Hübner hier propagandistisch vor die Kameralinsen gerückt. Die „Wochenschau“ vom 16.3.1945, die nur in wenigen Kinosälen einem Publikum gezeigt werden konnte, würdigte den Hitlerjungen an einer Stelle gesondert. Sprecher Harry Giese urteilte, der 16-jährige habe sich als Melder in den Reihen der Grenadiere „hervorragend bewährt“. Nahezu zeitgleich lud ihn Reichsjugendführer Artur Axmann über die örtliche HJ-Dienststelle nach
Berlin ein. In dessen am Gatower See gelegenen Gästehaus residierte Hübner mit anderen Hitlerjungen für rund eine Woche. Das bildträchtige Zusammentreffen mit Hitler im Garten der Reichskanzlei begleitete die „Wochenschau“ abermals propagandistisch. Mit der zierlichen Statur und den auffallend kindlichen Gesichtszügen war Hübner neben dem 12-jährigen
Alfred Zech - später ebenfalls ein gefragter Zeitzeuge - der Kleinste in der Reihe. In ihm hatte man eine ideale Symbolfigur für die Durchhaltepropaganda gefunden. In der „Wochenschau“ vom 22.3.1945 - die letzte unter nationalsozialistischer Regie - durfte Hübner mit eigenen Worten über seinen Einsatz berichten. Man setzte ihn geschickt in Szene: ältere uniformierte Hitlerjungen umringen ihn, lauschen ihm und lächeln ihm aufmunternd zu. – Die an Polen abgetretene Heimatstadt Lauban musste die Familie nach 1945 verlassen. Während die Eltern in die westlichen Besatzungszonen umsiedelten, lebte Hübner einige Zeit in Sachsen. Er arbeitete zunächst im Witznitzer Braunkohletagebau bei Borna südlich von Leipzig. Hier führte er auch seine durch den Krieg unterbrochene Ausbildung zum Mechaniker fort. Der ältere Bruder, der ihn zu Anfang noch begleitet hatte, ging bald eigene Wege. Zwischenzeitlich hatte man Hübner daher einen Vormund zugewiesen. Nach dem Abschluss der Lehre bemühte sich Hübner 1949, bei der DDR-Volkspolizei unterzukommen. Den Polizeidienst nutzten junge Menschen, um der drohenden Arbeitslosigkeit zu entgehen. Die personelle Fluktuation war jedoch hoch. Auch für Hübner blieb die Volkspolizei nur Episode. Nach eigener Aussage hatte man ihn entlassen, weil er den „Schliff“ in der Kaserne nicht länger ertragen und gegen seine Vorgesetzten „gemeutert“ habe. Im selben Jahr folgte Hübner den Eltern und seinem jüngeren Bruder nach
Landshut nach, wo er - verheiratet und beruflich über viele Jahrzehnte als Mechaniker tätig - bis zu seinem Tod 2010 lebte. – Die Aufnahmen mit Goebbels in Lauban sowie mit Hitler in Berlin hatten bei Kriegsende den Durchhaltewillen der Deutschen stärken sollen. Nach 1945 dienten sie in Ost wie West als mahnendes, mitunter horrendes Anschauungsmaterial, das von staatlichem Missbrauch erzählen sollte. Insbesondere die Bilder mit Hitler bleiben ein unverzichtbares Sujet für die dokumentarische, filmische oder literarische Bearbeitung des Kriegsendes bis heute. V.a. in älteren Büchern lassen sich Aufnahmen von Hübner in unzutreffenden Kontexten finden. Etwa, wenn eine Bildunterschrift ihn fälschlicherweise als einen der „letzten Verteidiger Berlins“ ausweist - die Autoren wussten oft nicht, wen diese Szenen zeigten. Spätestens durch den international erfolgreichen Kinofilm „Der Untergang“ von 2014 haben die Bilder Hübners mit Hitler auch in die populäre Geschichtskultur Eingang gefunden. Dort findet die Szene im Garten der Reichskanzlei ihr filmisches Pendant. Aus dramaturgischen Gründen zeigt der Film ausnahmslos halbwüchsige Kinder. Indes: die Mehrzahl der Jüngsten wurde in der letzten Kriegsphase nicht in Kampfeinsätze verwickelt. Hübner stand als Kindersoldat in der vordersten Reihe eher für eine Minderheit. – Seit den 1980er-Jahren war Hübner verstärkt persönlich als Zeitzeuge in Printerzeugnissen und im Fernsehen aufgetreten. Als eine für die HJ-Generation und ihre Verführung durch den Nationalsozialismus stellvertretende Erinnerungsfigur war Hübner in den Medien der Bundesrepublik präsent. So erläuterte er, zu jener Zeit sei es natürlich „der Wunsch jedes Hitlerjungen“ gewesen, „den Führer sehen zu können.“ Und mehr noch: Ihm die Hand gegeben zu haben, sei „einfach das Höchste, was es damals überhaupt gab“ (Knopp 2000). – Eine 1985 gedrehte Fernsehproduktion über die Geschichte der HJ hatte man in der DDR kritisch beäugt. Denn hier konnte man Hübner zuhören, wie er weitgehend unbefangen linke und rechte Diktaturen gleichsetzte. Zugleich wurde man nun auch jenseits der innerdeutschen Grenze auf den Zeitzeugen aus dem Westen aufmerksam. Insbesondere die DEFA-Produktion „Zwei Deutsche“ von 1988 bemühte sich um ein dichtes, wenngleich sozialistisch gerahmtes Portrait des ehemaligen Hitlerjungen. In dieser DDR-Produktion kam Hübner erstmals umfassend zu Wort. Er zeigte sich als Geläuterter, der mit Politik und Parteien nicht viel zu tun habe. Dennoch berichtete Hübner der DDR-Filmemacherin Gitta Nickel doch ausführlich auch über seine politischen Ansichten: Junge Leute, sagt er an einer Stelle, nähmen heute nicht wahr, dass auch sie in einer Art von Diktatur lebten, nämlich in einer des Konsums und der Moden. Über Journalisten lässt Hübner wissen, sie hätten seine Aussagen andauernd verdreht; deshalb wolle er in Zukunft mit keinem mehr sprechen. Den Stolz auf seinen einstigen Kriegseinsatz in Lauban und das Eiserne Kreuz verbarg Hübner nicht. Der Film zeigt ihn mit den berühmten Fotos von damals sowie inmitten einer privaten Sammlung aus Waffen, Militaria und diversen NS-Devotionalien, von denen Hübner sagt, er besitze sie aus nostalgischen Gründen. Ohne dass ihm dies bewusst gewesen sein dürfte, wurde Hübner hier als westdeutscher Widerpart inszeniert. Denn der zweite Hitlerjunge im Film,
Hans-Georg Henke, war DDR-Bürger und legte erkennbar mehr Distanz zur Vergangenheit an den Tag. – In einer 1992 gesendeten Folge der ZDF-Reihe „Bilder, die Geschichte machten“ stand Hübner abermals Rede und Antwort. U.a. sah er sich mit der Frage konfrontiert, warum er die Bilder von damals weiter in Ehren halte. Eine Frage, die ihn zurecht irritierte. Immerhin waren es die Produzenten selbst, die sich so sehr für die Aufnahmen interessierten. Die diversen Fernsehauftritte und Interviews sowie seine Auskünfte in der Rolle des Zeitzeugen bewegten sich fortwährend in einem unaufgelösten Spannungsfeld zwischen privater Erinnerung, öffentlicher Geschichtsinszenierung und gesellschaftspolitischen Erwartungshaltungen. Man habe ihn seitens der NS-Propaganda benutzt, räumte Hübner in Interviews mehrfach ein, so zuletzt in einer Zeitung wenige Jahre vor seinem Tod. Aber wenigstens einmal im Leben habe er so Geschichte gemacht.
Quellen Gitta Nickel, Zwei Deutsche, DEFA-Studio für Dokumentarfilme, 1988; Guido Knopp u.a., Bilder, die Geschichte machten. Teil 1/4: Orden für ein Kind, ZDF, 1991.
Literatur Gerhardt Boldt, Hitler. Die letzten zehn Tage, Frankfurt/Main/Berlin 1973; Hermann Langer, Wollt ihr den totalen Tanz? Streiflichter zur imperialistischen Manipulierung der Jugend, Berlin 1985; Guido Knopp, Hitlers Kinder, München 2000; Jens Gieseke, Volkspolizei und Staatssicherheit - Zum inneren Sicherheitsapparat der DDR, in: Hans-Jürgen Lange (Hg.), Die Polizei der Gesellschaft. Zur Soziologie der Inneren Sicherheit, Opladen 2003, S. 93-122; Margarete Dörr, Der Krieg hat uns geprägt. Wie Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebten, Bd. 1, Frankfurt/Main 2007; Wulf Kansteiner, Aufstieg und Abschied der NS-Zeitzeugen in den Geschichtsdokumentationen des ZDF, in: Martin Sabrow/Norbert Frei (Hg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, S. 320-353; Guido Knopp, Der Zweite Weltkrieg. Bilder, die wir nie vergessen, Hamburg 2014.
Porträt Auszeichnung des Hitlerjungen Willi Hübner, 9.3.1945, Fotografie, Bundesarchiv Berlin, Bildarchiv, Inventar-Nr. Bild 183-J31305; Willi Hübner in Uniform der Volkspolizei, in: Gitta Nickel, Zwei Deutsche, DEFA-Studio für Dokumentarfilme, 1988.
André Postert
8.5.2025
Empfohlene Zitierweise:
André Postert, Artikel: Wilhelm Hübner,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/29248 [Zugriff 23.5.2025].
Wilhelm Hübner
Quellen Gitta Nickel, Zwei Deutsche, DEFA-Studio für Dokumentarfilme, 1988; Guido Knopp u.a., Bilder, die Geschichte machten. Teil 1/4: Orden für ein Kind, ZDF, 1991.
Literatur Gerhardt Boldt, Hitler. Die letzten zehn Tage, Frankfurt/Main/Berlin 1973; Hermann Langer, Wollt ihr den totalen Tanz? Streiflichter zur imperialistischen Manipulierung der Jugend, Berlin 1985; Guido Knopp, Hitlers Kinder, München 2000; Jens Gieseke, Volkspolizei und Staatssicherheit - Zum inneren Sicherheitsapparat der DDR, in: Hans-Jürgen Lange (Hg.), Die Polizei der Gesellschaft. Zur Soziologie der Inneren Sicherheit, Opladen 2003, S. 93-122; Margarete Dörr, Der Krieg hat uns geprägt. Wie Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebten, Bd. 1, Frankfurt/Main 2007; Wulf Kansteiner, Aufstieg und Abschied der NS-Zeitzeugen in den Geschichtsdokumentationen des ZDF, in: Martin Sabrow/Norbert Frei (Hg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, S. 320-353; Guido Knopp, Der Zweite Weltkrieg. Bilder, die wir nie vergessen, Hamburg 2014.
Porträt Auszeichnung des Hitlerjungen Willi Hübner, 9.3.1945, Fotografie, Bundesarchiv Berlin, Bildarchiv, Inventar-Nr. Bild 183-J31305; Willi Hübner in Uniform der Volkspolizei, in: Gitta Nickel, Zwei Deutsche, DEFA-Studio für Dokumentarfilme, 1988.
André Postert
8.5.2025
Empfohlene Zitierweise:
André Postert, Artikel: Wilhelm Hübner,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/29248 [Zugriff 23.5.2025].