Werner Radig
R. hat sich zwar durch seine Dissertationsschrift sowie zahlreiche Beiträge zu archäologischen Themen, mit denen er sich auch um die sächsische Archäologie Verdienste erworben hat, als Prähistoriker profiliert, doch ist es ihm zeitlebens nie gelungen, sich dauerhaft im „inner circle“ des Fachs zu etablieren. Als Leiter der Sektion Vorgeschichte am Institut für Deutsche Ostarbeit (IDO) (1940-1945) in
Krakau (poln. Kraków) gehörte er zur nationalsozialistischen Verwaltungselite im Generalgouvernement. Dennoch konnte R. nach dem Zweiten Weltkrieg im Akademiebetrieb der DDR Fuß fassen, wo er sich seit den 1950er-Jahren v.a. mit Bauforschung und Volkskunde befasste. – R. wurde 1903 als Sohn des Fotografen
Hugo Max Radig und dessen Ehefrau
Marie in Wurzen geboren. Er besuchte 1910 bis 1914 die Knabenbürgerschule und das humanistische Staatsgymnasium in Wurzen, wo er Ostern 1923 das Abitur ablegte. Das Studium führte ihn nach
Tübingen,
München und
Lausanne (Schweiz), ehe er im Herbst 1924 nach Sachsen an die Universität Leipzig zurückkehrte und gleichzeitig Lehrveranstaltungen in
Halle/Saale besuchte. Vier Jahre später wurde R. im Januar 1928 im Hauptfach Geschichte mit Frühgeschichte sowie in den Nebenfächern Völkerkunde und Germanistik mit der Arbeit „Der Wohnbau im jungsteinzeitlichen Deutschland“ promoviert. Auch wenn die Prähistorie an der Universität Leipzig noch keine selbstständige Disziplin war und die Dissertation von dem Landeshistoriker Rudolf Kötzschke sowie dem Völkerkundler Fritz Krause begutachtet wurde, hatte sich R. mit dieser Studie als „Fachprähistoriker“ qualifiziert. Inspiriert war sie wahrscheinlich auch von ersten Grabungserfahrungen in jungsteinzeitlichen Feuchtbodensiedlungen am Federsee. – Nachdem sich R. an den Ausgrabungen Georg Bierbaums am slawischen Burgwall von Köllmichen beteiligt hatte, übertrug ihm dieser 1927 Sondierungen an einer Befestigung bei Oelschütz an der Mulde und 1928 sogar die Erfassung vor- und frühgeschichtlicher sowie mittelalterlicher Wallanlagen im Westteil des Freistaats. Letztere erfolgte im Auftrag der von Wilhelm Unverzagt, dem Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte in Berlin, initiierten Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der nord- und ostdeutschen Wall- und Wehranlagen und wurde von der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft gefördert. Innerhalb von zwei Jahren inventarisierte R. annähernd 250 Befestigungen. 1928 heiratete R. eine Nichte seines Doktorvaters, die Pharmazeutin
Ilse Kötzschke, die als Apothekenangestellte lange entscheidend zum Einkommen des Ehepaars und der jungen Familie beigetragen haben dürfte. Erst 1935 setzte die Berufung auf eine Dozentur für Vorgeschichte an der Hochschule für Lehrerbildung in
Dortmund den prekären Arbeitsverhältnissen aus befristeten Werkverträgen - u.a. die Inventarisierung der Lausitzer Kultur in Sachsen sowie diverse Publikations-, Vortrags- bzw. Ausstellungsprojekte - ein Ende. – Nicht zuletzt dürften mangelnde Berufsperspektiven und das zwischenzeitlich zerrüttete Verhältnis zu seinem Dresdner Mentor Bierbaum R. bewogen haben, sich 1932 dem Tübinger NS-Prähistoriker Hans Reinerth anzunähern und aus der persönlichen politischen Radikalisierung Karrierekapital zu schlagen. Freilich beförderten zunächst weder das Engagement für die 1932 gegründeten Freie Vereinigung für Vorgeschichte oder für Reinerths Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte noch parteipolitischer Aktivismus das berufliche Fortkommen. Aus dem Ehrenamt des Landesleiters Sachsen im Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte bezog R. kein zusätzliches Einkommen. Erst 1936 wurde er zum Professor mit besonderem Lehrauftrag für Vorgeschichte und Geschichte an die Hochschule für Lehrerbildung in
Elbing (poln. Elbląg) berufen und damit für seine Loyalität zum Reichsbundführer mit einer Festanstellung am pädagogisch-propagandistischen Rand des Fachs abgefunden. Nach einem kurzen Militäreinsatz im Zuge des Überfalls auf Polen 1939 bedeutete die Ernennung R.s zum Leiter der Sektion Vorgeschichte am IDO in Krakau, das im April 1940 auf Initiative des Generalgouverneurs Hans Frank gegründet worden war, nicht nur einen weiteren Karrieresprung und die Rückkehr in die Fachwissenschaft, sondern vorübergehend auch die Garantie für eine Zurückstellung vom Wehrdienst (UK-Stellung). Archäologische Denkmalpflege, Sammlungsbetreuung und Forschung standen gleichwohl völlig im Dienst der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik in den besetzten polnischen Gebieten bzw. im Reichskommissariat Ukraine. Der „Osteinsatz“ diente dem Volkstumskampf und der „Sicherstellung“ von Kulturgut in Konkurrenz zu anderen NS-Dienststellen. 1943 verlor die Sektion ihre Kriegswichtigkeit und ihr Leiter damit seine UK-Stellung. Im Rang eines Unteroffiziers wurde R. im März 1943 eingezogen und im rückwärtigen Gebiet verschiedener Kriegsschauplätze, u.a. in den Niederlanden, Frankreich und Weißrussland, eingesetzt, bis er im Mai 1945 in britische Kriegsgefangenschaft geriet. – Nach kurzer Internierung ließ sich R. mit der aus Elbing geflohenen Familie im thüringischen Zeulenroda nieder, wo ihm alte Kontakte einen beruflichen Neuanfang im Deutschen Kulturbund der DDR sowie in der Erwachsenenbildung, Museumsarbeit und Denkmalerfassung ermöglichten. Dieser Schritt war notwendig, da in Sachsen weder sein ehemaliger Vorgesetzter Bierbaum noch dessen Nachfolger Werner Coblenz eine Rückkehr R.s in die Landesarchäologie widerstandslos hingenommen hätten. Schon 1946 trat R., der bis Kriegsende NSDAP-Mitglied war, in die LDPD ein und gewann Anschluss an die neuen politischen Verhältnisse. Fünf Jahre später war der „bürgerliche“ Wissenschaftler so weit in der DDR angekommen, dass der Übernahme in ein unbefristetes, gut dotiertes Beschäftigungsverhältnis zunächst bei der Deutschen Bauakademie und ab 1955 als Bibliothekar bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin nichts mehr im Weg stand. In dieser Zeit verlagerte sich sein Forschungsschwerpunkt endgültig von der Vorgeschichte auf die Bauernhaus- und Bauforschung sowie die Volkskunde. Dieses Engagement für die Haus- und Siedlungsforschung wurde 1960 mit der Versetzung an das Institut für Deutsche Volkskunde an der Akademie der Wissenschaften der DDR, der Johannes-R.-Becher-Medaille in Gold sowie dem Vaterländischen Verdienstorden belohnt. – So wenig R.s NS-Vergangenheit und Leitungsfunktion im IDO in Fachkreisen und den Leitungsgremien der Akademien ein Geheimnis war, so wenig musste R. befürchten, von den Sicherheitsorganen der DDR für seinen „Osteinsatz“ im Generalgouvernement zur Rechenschaft gezogen zu werden. Erst als sich das LDPD-Mitglied 1963 um einen Sitz in der Berliner Stadtverordnetenversammlung bewarb, griff das Ministerium für Staatssicherheit ein: Die Kandidatur wurde unterbunden, weil sie die Kampagnen Ostberlins gegen westdeutsche Prähistoriker, die tief in den Nationalsozialismus verstrickt waren (z.B. Herbert Jankuhn oder Bolko von Richthofen) diskreditiert hätte. R. starb 1985 in Berlin.
Werke Der Wohnbau im jungsteinzeitlichen Deutschland, Leipzig 1930; König Heinrich I. und die ostdeutsche Archäologie, in: Mannus. Zeitschrift für Vorgeschichte, Ergänzungsbd. 8/1930 [1931], S: 60-70; Sachsens Vorzeit. Eine Einführung in die Vorgeschichte des sächsisch-böhmischen Grenzraumes, Bielefeld/Leipzig 1936; Heinrich I. Der Burgenbauer und Reichsgründer, Leipzig 1937; mit Werner Hülle, Die Westausbreitung und Wehranlagen der Slawen in Mitteldeutschland, Leipzig 1940; Die Siedlungstypen in Deutschland und ihre frühgeschichtlichen Wurzeln, Berlin 1955; Frühformen der Hausentwicklung in Deutschland, Berlin 1958.
Literatur Petra Schweizer-Strobel/Michael Strobel, Werner R.: a prehistorian’s career 1928-1945, in: Archaeologia Polona 42/2004, S. 229-254; diess., Werner R. (1903-1985). Ein Prähistoriker mit zweierlei Diktaturerfahrung, in: Hans-Peter Wotzka (Hg.), Grundlegungen. Beiträge zur europäischen und afrikanischen Archäologie für Manfred K. H. Eggert, Tübingen 2006, S. 65-80; Michael Strobel, Werner R. (1903-1985). Ein Prähistoriker in drei politischen Systemen, in: Arbeits- und Forschungsberichte zur sächsischen Bodendenkmalpflege 47/2005/2007, S. 281-320.
Michael Strobel
5.1.2023
Empfohlene Zitierweise:
Michael Strobel, Artikel: Werner Radig,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/22862 [Zugriff 22.12.2024].
Werner Radig
Werke Der Wohnbau im jungsteinzeitlichen Deutschland, Leipzig 1930; König Heinrich I. und die ostdeutsche Archäologie, in: Mannus. Zeitschrift für Vorgeschichte, Ergänzungsbd. 8/1930 [1931], S: 60-70; Sachsens Vorzeit. Eine Einführung in die Vorgeschichte des sächsisch-böhmischen Grenzraumes, Bielefeld/Leipzig 1936; Heinrich I. Der Burgenbauer und Reichsgründer, Leipzig 1937; mit Werner Hülle, Die Westausbreitung und Wehranlagen der Slawen in Mitteldeutschland, Leipzig 1940; Die Siedlungstypen in Deutschland und ihre frühgeschichtlichen Wurzeln, Berlin 1955; Frühformen der Hausentwicklung in Deutschland, Berlin 1958.
Literatur Petra Schweizer-Strobel/Michael Strobel, Werner R.: a prehistorian’s career 1928-1945, in: Archaeologia Polona 42/2004, S. 229-254; diess., Werner R. (1903-1985). Ein Prähistoriker mit zweierlei Diktaturerfahrung, in: Hans-Peter Wotzka (Hg.), Grundlegungen. Beiträge zur europäischen und afrikanischen Archäologie für Manfred K. H. Eggert, Tübingen 2006, S. 65-80; Michael Strobel, Werner R. (1903-1985). Ein Prähistoriker in drei politischen Systemen, in: Arbeits- und Forschungsberichte zur sächsischen Bodendenkmalpflege 47/2005/2007, S. 281-320.
Michael Strobel
5.1.2023
Empfohlene Zitierweise:
Michael Strobel, Artikel: Werner Radig,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/22862 [Zugriff 22.12.2024].