Walter Linse

L. besuchte 1910 bis 1920 die Volksschule in Chemnitz, danach die Real- und Oberrealschule, die er 1924 mit dem Abitur verließ. Anschließend immatrikulierte er sich an der Universität Leipzig, um Jura und Staatswissenschaften zu studieren, und legte dort 1927 das erste Staatsexamen ab. Danach absolvierte er sein Referendariat in Chemnitz, Stollberg/Erzgebirge und Leipzig. 1931 schloss er das zweite Staatsexamen ab. Die folgenden beiden Jahre arbeitete er als Hilfsrichter in Stollberg/Erzgebirge und wurde im Mai 1933 als Hilfsrichter an das Amtsgericht Leipzig versetzt. Einer Entlassung im November 1933, über deren Gründe nichts bekannt ist, kam er durch eigene Kündigung zuvor. Danach war er u.a. in der Kanzlei Kupfer & Schönberg in Chemnitz sowie in Rochlitz als Rechtsanwalt tätig. 1934 bewarb er sich vergeblich um einen Bürgermeisterposten. Daneben arbeitete er an seiner Dissertation, die er Ende 1936 abschloss. Darin widmete er sich der Frage, ob im Falle eines „untauglichen Versuchs“, also einer geplanten Straftat, die wegen der irrtümlichen Wahl eines ungeeigneten Mittels scheitern muss, staatliche Strafinteressen und das Rechtsempfinden der Bevölkerung auseinanderklaffen und wie beides miteinander in Einklang gebracht werden kann. – 1937 wurde L. Mitglied des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbunds und 1938 der Deutschen Arbeitsfront. Ab 1938 war er als Referent bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) in Chemnitz tätig, wo er u.a. mit der „Arisierung“ jüdischer Gewerbebetriebe befasst war. Über eine Mitgliedschaft in der NSDAP gibt es unterschiedliche Angaben: Es existiert eine Mitgliedskarte, der zufolge L. am 27.8.1940 die Aufnahme beantragte und am 1.10.1940 aufgenommen wurde. L. selbst gab nach dem Krieg an, nicht Mitglied gewesen zu sein. Wie ein Zeitzeuge kurz nach Kriegsende mitteilte, hatte L. mit einer Chemnitzer Widerstandsgruppe („Ciphero“) zusammengearbeitet und einzelnen Juden zur Flucht verholfen; von L. selbst sind darüber keine Aussagen überliefert. Eine weitere Quelle gibt an, dass L. nach dem Krieg für drei Monate Mitglied der LDP gewesen ist. – Das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte L. als Referent der IHK, zu deren Geschäftsführer er nach dem Einmarsch der Sowjetarmee in Chemnitz ernannt wurde. 1949 flüchtete er aus nicht näher bekannten Gründen mit seiner Frau nach West-Berlin, wo er 1951 Mitarbeiter des antikommunistischen Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen (UFJ) wurde. Der UFJ war eine private Organisation zur rechtlichen Beratung von DDR-Bürgern; er sammelte darüberhinaus Informationen über Wirtschaft und Gesellschaft der DDR, die er westlichen Behörden und Journalisten zur Verfügung stellte. – Am 8.7.1952 wurde L. vor seinem Haus in Berlin-Zehlendorf im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) entführt und mit einem Auto in die DDR verbracht. Nach monatelangen Verhören durch MfS-Mitarbeiter wurde L. den sowjetischen Behörden überstellt, in einem Geheimprozess zum Tod verurteilt und in Moskau hingerichtet. Seine Asche wurde vermutlich auf dem Moskauer Donskoje-Friedhof verstreut. – Die westliche Öffentlichkeit zeigte sich empört über das spektakuläre Verbrechen, die Regierungen der DDR und UdSSR bestritten indes jede Beteiligung. Die Umstände der Verschleppung konnten in einem Gerichtsverfahren gegen einen der Entführer zwar teilweise aufgeklärt werden, doch L.s weiteres Schicksal blieb bis zur Öffnung der MfS-Archive im Dunkeln. 1996 wurde er von der russischen Generalstaatsanwaltschaft rehabilitiert. – L. hatte bis zu seiner Verschleppung keine exponierte Rolle gespielt. Auch wenn er in West-Berlin wohl u.a. durch Radioansprachen einen gewissen Bekanntheitsgrad erreichte, wirkte er weitgehend im Verborgenen. Deshalb war das Gedenken an L. viele Jahre lang durch den Schock geprägt, den der spektakuläre „Menschenraub“ in der Öffentlichkeit ausgelöst hatte: Das MfS hatte nachdrücklich demonstriert, dass sich keiner seiner Gegner sicher fühlen konnte, auch nicht in West-Berlin. In der Folge wurde L.s Person fast ausschließlich als Opfer eines zeichenhaften Verbrechens wahrgenommen, während seine Tätigkeit als Gegner der SED-Diktatur in den Hintergrund trat und nach seinem Verhalten während der NS-Diktatur nicht einmal gefragt wurde. Erst als 2007 bekannt wurde, dass L. 1938 an der „Arisierung“ in Chemnitz beteiligt gewesen war, verlor das Gedenken seine identitätsstiftende Funktion, was sich beispielsweise darin niederschlug, dass der neu geschaffene Preis des Fördervereins Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen entgegen der ursprünglichen Absicht nicht nach L. benannt wurde. Die im Verlauf des kurzen Namensstreits vorgebrachte scharfe Kritik ist allerdings ebenfalls lediglich als geschichtspolitische Intervention zu verstehen, die erkennbar nicht an einer sachlichen Würdigung L.s interessiert ist.

Quellen Bundesarchiv Berlin (ehem. BDC), NSDAP-Gaukartei.

Werke Der untaugliche Versuch und das Rechtsgefühl des Volkes, Dresden 1938.

Literatur R. Gould, Shakes Nazi Slavery To Win Success Here, in: Manchester Union Leader 6.2.1963; K. W. Fricke, Entführungsopfer postum rehabilitiert, in: Deutschland Archiv 29/1996, S. 713-717; ders., Postskriptum zum Fall Walter L., in: ebd., S. 917-919; B. Kirsch, Walter L. 1903-1953-1996, Dresden 2007 (P); K. Bästlein, Vom NS-Täter zum Opfer des Stalinismus: Dr. Walter L., Berlin 2008.

Porträt Fotografie, DPA-Picture Alliance; Fotografie, 1952, Privatbesitz Peter Seifert, Unser Walter Linse (Bildquelle).

Benno Kirsch
26.1.2012


Empfohlene Zitierweise:
Benno Kirsch, Artikel: Walter Linse,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/25315 [Zugriff 26.11.2024].

Walter Linse



Quellen Bundesarchiv Berlin (ehem. BDC), NSDAP-Gaukartei.

Werke Der untaugliche Versuch und das Rechtsgefühl des Volkes, Dresden 1938.

Literatur R. Gould, Shakes Nazi Slavery To Win Success Here, in: Manchester Union Leader 6.2.1963; K. W. Fricke, Entführungsopfer postum rehabilitiert, in: Deutschland Archiv 29/1996, S. 713-717; ders., Postskriptum zum Fall Walter L., in: ebd., S. 917-919; B. Kirsch, Walter L. 1903-1953-1996, Dresden 2007 (P); K. Bästlein, Vom NS-Täter zum Opfer des Stalinismus: Dr. Walter L., Berlin 2008.

Porträt Fotografie, DPA-Picture Alliance; Fotografie, 1952, Privatbesitz Peter Seifert, Unser Walter Linse (Bildquelle).

Benno Kirsch
26.1.2012


Empfohlene Zitierweise:
Benno Kirsch, Artikel: Walter Linse,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/25315 [Zugriff 26.11.2024].