Sigmund Jähn

J. zählte als Teilnehmer des sowjetischen Interkosmos-Programms zu jenen offiziellen Würdenträgern in der DDR, die eine große Popularität in der Bevölkerung genossen. Nach einem systemkonformen Werdegang machte ihn sein Aufenthalt als Forschungskosmonaut im All vom 26.8. bis 3.9.1978 an Bord der sowjetischen Raumstation Saljut 6 zum ersten Deutschen im Weltraum und zu einer von der DDR-Führung propagandistisch forcierten Heldenfigur. – Ursprünglich hatte der aus dem Vogtland stammende J. 1951 bis 1954 eine Buchdruckerlehre im VEB Buchdruckerei Falkenstein absolviert und war als Sekretär in der Ortsgruppe der FDJ sowie als Pionierleiter an der Zentralschule in Hammerbrücke tätig. Statt des geplanten Wechsels in den Lehrerberuf ging J. 1955 nach Bautzen zur Kasernierten Volkspolizei, einem Vorläufer der 1956 gegründeten NVA der DDR, wo er wunschgemäß eine Ausbildung zum Flugzeugführer absolvieren konnte. 1956 trat J. der SED bei. Nach seinem Abschluss als Unterleutnant und Flugzeugführer an der Offiziersschule der Luftstreitkräfte in Kamenz Ende 1958 diente er als Jagdflieger, Politstellvertreter einer Staffel des Fliegergeschwaders in Marxwalde (heute Neuhardenberg/Brandenburg) sowie Leiter für Lufttaktik und -schießen. 1965 holte er sein Abitur nach und nahm im Folgejahr ein Studium an der Militärakademie der sowjetischen Luftstreitkräfte „Juri Gagarin“ in Monino bei Moskau auf, während seine Ehefrau Erika mit den Töchtern Marina und Grit in der DDR blieben. In dieser für ihn prägenden Zeit erlebte J. den Wettlauf zwischen den USA und der Sowjetunion um die Vorherrschaft im Weltraum aus nächster Nähe. Ab 1970 war J. als Inspekteur für Flugsicherheit beim Kommando Luftstreitkräfte und Luftverteidigung der NVA in Strausberg für die Untersuchung von Flugunfällen zuständig. Sein technisches Wissen und die Erfahrungswerte als Jagdflieger, wahrscheinlich aber auch seine soziale Herkunft und frühe Parteimitgliedschaft, brachten ihn Mitte der 1970er-Jahre in die Auswahl für eine Beteiligung der DDR am Interkosmos-Programm der Sowjetunion. Nach einem Lehrgang am Institut für Luftfahrtmedizin in Königsbrück 1976 blieben von sechzehn Kandidaten neben J. die Oberstleutnante Rolf Berger, Eberhard Golbs und Eberhard Köllner in der engeren Wahl für die Teilnahme am Raumflug seitens der DDR. 14 Trainingstage im Kosmonauten-Ausbildungszentrum Sternenstädtchen (russ. Swjosdny Gorodok) bei Moskau ließen die Entscheidung auf J. und Köllner fallen, die am 6.12.1976 ihre Ausbildung in Moskau gemeinsam mit vier weiteren Jagdfliegern aus der Tschechoslowakei und Polen antraten. Diesmal wurde J. von seiner Familie in die Sowjetunion begleitet. J. und seine Studienkollegen durchliefen eine Zeit intensiven Trainings, das sowohl theoretische Lektionen in Naturwissenschaften als auch körperliche wie psychologische Tests umfasste. In höchst anspruchsvollen Simulationen mussten die Probanden Szenarien wie eine Notwasserung auf der Erde oder eine Havarie im All bewältigen, um die Eignung für den Raumflug nachzuweisen. Erst am Abend vor dem Start gab die Kommission bekannt, J. sowie den sowjetischen Kosmonauten Waleri Bykowski als Kommandanten für die Besetzung des Flugs ausgewählt zu haben. An der Seite des älteren Bykowski, der bereits 1963 erstmals ins All geflogen war und schon zwei Missionen absolviert hatte, startete J. am 26.8.1978 um 15.51 Uhr mitteleuropäischer Zeit vom Weltraumbahnhof Baikonur (Kasachstan) an Bord der Trägerrakete Sojus mit dem Raumschiff Sojus 31 an der Spitze in die Erdumlaufbahn. Nach zweitägigem Flug dockten J. und sein Mentor an die Raumstation Saljut 6 an, wo sie von ihren Kameraden Wladimir Kowaljonok und Alexander Iwantschenkow empfangen wurden. Während der Zeit an Bord führte der bei seinen Raumfahrer-Kollegen als diszipliniert und fleißig geltende J. eine Reihe von Versuchsanordnungen und Experimenten zur Fernerkundung der Erde sowie in den Fachrichtungen Biologie, Medizin, Materialwissenschaften und Geophysik durch. Am 3.9.1978 landeten J. und Bykowski nach rund 7 Tagen und 21 Stunden Flugdauer mit der Vorgänger-Raumkapsel Sojus 29 in der kasachischen Steppe. Offizielle Medien im „Ostblock“ verschwiegen den unsanften Aufprall und Überschlag des Apparats, der bei J. zu einem bleibenden Rückenleiden führte. – Nach J.s Rückkehr zur Erde wurde er als Forschungskosmonaut schlagartig prominent. Das offizielle Narrativ der DDR nutzte entgegen der sonstigen Tabuisierung des Begriffs „deutsch“ die Formel vom „Ersten Deutschen im All“ und stilisierte J. zu einem Helden, nach dem Brigaden, Kollektive, Schulen und ein Schiff benannt wurden. J. erhielt den Lenin-Orden, die Medaille „Goldener Stern“ und den Ehrentitel „Held der Sowjetunion“ durch Leonid Breschnew in Moskau sowie die Auszeichnungen „Held der DDR“ und „Fliegerkosmonaut der DDR“ durch Erich Honecker in Berlin. Zusätzlich wurde er vom DDR-Verteidigungsminister und Armeegeneral Heinz Hoffmann zum Oberst befördert und mit der Leibniz-Medaille der Akademie der Wissenschaften der DDR gewürdigt. Sein vielfach als freundlich und bescheiden wahrgenommener Auftritt in der Öffentlichkeit ließ J. auch abseits propagandistischer Lesarten zu einer Identifikationsfigur werden, der bei ihren Rundreisen ehrliche Begeisterung entgegengebracht wurde. Im Gegensatz zur gelenkten Presse der DDR berichteten westliche Journalisten über J.s Raumflug auch differenzierter, z.T. kritisch bis abwertend. So verwies „Der Spiegel“ auf J.s in der Raumstation vor laufenden Kameras ausgebreitete Devotionalien wie Pionier-Halstücher, DDR-Wappen und Medaillen mit Porträts von Karl Marx, Friedrich Engels, Wladimir Iljitsch Lenin, Ernst Thälmann oder Wilhelm Pieck. Überdies monierte das Magazin den „Propagandawirbel“ um J.s Raumflug und bezeichnete ihn als Ablenkungsmanöver von inneren Problemen der DDR. Ein bissiger Artikel der Zeitung „Die Welt“ am 28.8.1978 titulierte J. als „Sachso-Germanen“, „Kolumbus aus dem Erzgebirge“ und „Mitesser in der Russen-Rakete“, womit auf die sowjetische Regie der Unternehmung angespielt wurde. J. erklärte rückblickend, die Folgen seines Ruhms als anstrengender als die Reise ins All empfunden zu haben. 1979 bis 1990 arbeitete er als Chef des Zentrums Kosmische Ausbildung beim Kommando Luftstreitkräfte/Luftverteidigung der NVA der DDR bei Strausberg. Hier waren die Auswahl und Vorbereitung weiterer DDR-Kosmonauten für Weltraumflüge geplant, zu denen es jedoch aus politischen und finanziellen Gründen nicht mehr kam. Auch J.s Hoffnungen auf einen zweiten Einsatz blieben unerfüllt. Er konzentrierte sich fortan auf Forschungen zur Fernerkundung der Erde und wurde im Mai 1983 mit einer einschlägigen Arbeit promoviert. 1986 erhielt er die Beförderung zum Generalmajor. Ab dem gleichen Jahr war er als Inoffizieller Mitarbeiter „Tanja“ beim Ministerium für Staatssicherheit der DDR registriert, das ihn schon seit 1980 als „Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit“ mit dem Namen „Falke“ führte. Reisen zu Konferenzen von Institutionen wie der International Astronautical Federation, der Association of Space Explorers und dem Weltraumausschuss der Vereinten Nationen führten J. in mehr als dreißig Länder Europas, Amerikas und Asiens, wo er auf Politiker, Wissenschaftler, Journalisten und Geschäftsleute traf. Mit dem Bundesdeutschen Ulf Merbold, der 1983 an Bord des US-Spaceshuttels Columbia als zweiter Deutscher ins All flog, verband J. eine freundschaftliche Beziehung. Von 1990 bis zu seinem Ruhestand 1999 nahm J. als Mitarbeiter der Deutschen Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt bzw. des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Köln-Porz eine Beratertätigkeit für Raumflüge ein und war als Wissenschaftler für die European Space Agency an der Koordination deutsch-russischer EUROMIR-Missionen beteiligt. Auch in seinen späten Jahren blieb J. aktiv, zeigte sich zu verschiedenen Anlässen in der Öffentlichkeit, hielt Vorträge und genoss hohes Ansehen. Die mediale Rezeption hob über J.s Tod hinaus oft dessen Zurückhaltung und Bescheidenheit hervor, die dem Bild des Helden entgegenstand. Kritische Stimmen hinterfragten hingegen J.s Privilegien und seine Nähe zum System der DDR, dem er bis zu dessen Ende loyal und freiwillig gedient habe. Sein Raumflug fand popkulturellen Niederschlag in Musikstücken („Wer ist Sigmund Jähn?“, Die Prinzen, 1999) und im Film („Good Bye Lenin“, 2003). 2001 erhielt ein Asteroid J.s Namen. Vielfach wurde J. mit Auszeichnungen und Ehrenbürgerschaften gefeiert, so auch mit der seiner Wahlheimat Strausberg, in der er bis zuletzt lebte. Seinem sächsischen Geburtsort Morgenröthe-Rautenkranz blieb J. nach eigener Aussage in besonderem Maße verbunden. Bereits 1979 wurde hier eine Raumfahrtausstellung eröffnet, die seit 2007 auf einem neuen Gelände mit über tausend Exponaten den Nutzen der Weltraumforschung vermitteln will. J.s Raumflug bildet dabei einen Schwerpunkt, womit der als gemeinnützig anerkannte Trägerverein die museale Erinnerung auch an seine Person lebendig hält.

Werke Erlebnis Weltraum, Berlin 1983, ebd. 41988; mit Karl-Heinz Marek, Arbeiten zur Entwicklung methodischer Grundlagen für die Anwendung und Nutzung von Fernerkundungsdaten, Diss. Potsdam 1983.

Literatur Für den Fortschritt der Menschheit: Gemeinsamer Kosmosflug UdSSR/DDR, Dresden 1978; Weltraumflug UdSSR-DDR. Reportagen, Notizen, Dokumente vom ersten gemeinsamen Weltraumflug, Berlin 1979; Gemeinsam auf der Erde und im All, Berlin 1979; Horst Hoffmann, Unser Weg ins All. Zum 10. Jahrestag des Raumfluges von Sigmund J., in: Neue Berliner Illustrierte 35/1988, S. 32-42, S. 41-42; ders., Die Deutschen im Weltraum. Zur Geschichte der Kosmosforschung in der DDR, Berlin 1998; Ronald Hirte, Ein später Held. Sigmund J.s Flug ins All, in: Silke Satjukow/Rainer Gries (Hg.), Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, Berlin 2002, S. 158-172; Horst Hoffmann, Sigmund J. - Rückblick ins All. Die Biografie des ersten deutschen Kosmonauten, Berlin 22008; Julia Herzberg, Das Land der Helden. Die Auszeichnung Held der Sowjetunion und die Einheit des sowjetischen Imperiums (1934-1991), in: helden. heroes. héros 6/2018, H.1, S. 45-56. – DBA III.

Porträt Waleri Fjodorowitsch Bykowski und Sigmund Jähn, Bernhard Franke, 1980, Ölgemälde, Abgeordnetenhaus Berlin; Kosmosflug UdSSR-DDR, Unser Kosmonaut, [1978], Postkarte, Verlag für Agitations- und Anschauungsmittel Berlin, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Inv.-Nr. F/2457/1979 (Bildquelle) [CC BY-NC-SA 4.0; dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Attribution-NonCommercial-ShareAlike 4.0 International Unported License].

Lucas Böhme
29.5.2020


Empfohlene Zitierweise:
Lucas Böhme, Artikel: Sigmund Jähn,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/29108 [Zugriff 19.11.2024].

Sigmund Jähn



Werke Erlebnis Weltraum, Berlin 1983, ebd. 41988; mit Karl-Heinz Marek, Arbeiten zur Entwicklung methodischer Grundlagen für die Anwendung und Nutzung von Fernerkundungsdaten, Diss. Potsdam 1983.

Literatur Für den Fortschritt der Menschheit: Gemeinsamer Kosmosflug UdSSR/DDR, Dresden 1978; Weltraumflug UdSSR-DDR. Reportagen, Notizen, Dokumente vom ersten gemeinsamen Weltraumflug, Berlin 1979; Gemeinsam auf der Erde und im All, Berlin 1979; Horst Hoffmann, Unser Weg ins All. Zum 10. Jahrestag des Raumfluges von Sigmund J., in: Neue Berliner Illustrierte 35/1988, S. 32-42, S. 41-42; ders., Die Deutschen im Weltraum. Zur Geschichte der Kosmosforschung in der DDR, Berlin 1998; Ronald Hirte, Ein später Held. Sigmund J.s Flug ins All, in: Silke Satjukow/Rainer Gries (Hg.), Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, Berlin 2002, S. 158-172; Horst Hoffmann, Sigmund J. - Rückblick ins All. Die Biografie des ersten deutschen Kosmonauten, Berlin 22008; Julia Herzberg, Das Land der Helden. Die Auszeichnung Held der Sowjetunion und die Einheit des sowjetischen Imperiums (1934-1991), in: helden. heroes. héros 6/2018, H.1, S. 45-56. – DBA III.

Porträt Waleri Fjodorowitsch Bykowski und Sigmund Jähn, Bernhard Franke, 1980, Ölgemälde, Abgeordnetenhaus Berlin; Kosmosflug UdSSR-DDR, Unser Kosmonaut, [1978], Postkarte, Verlag für Agitations- und Anschauungsmittel Berlin, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Inv.-Nr. F/2457/1979 (Bildquelle) [CC BY-NC-SA 4.0; dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Attribution-NonCommercial-ShareAlike 4.0 International Unported License].

Lucas Böhme
29.5.2020


Empfohlene Zitierweise:
Lucas Böhme, Artikel: Sigmund Jähn,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/29108 [Zugriff 19.11.2024].