Paula Stoy
S. gehört der Generation an, die beide Weltkriege bewusst erlebt hat und deren Entwicklung durch zwei Diktaturen beeinträchtigt wurde. Sie erlebte die Anfänge der Bemühungen um Gleichberechtigung der Frauen, um ihren freien Zugang zu allen Bildungseinrichtungen und unterstützte diese Bemühungen tatkräftig. Als Lehrerin war sie nicht nur Vermittlerin von Wissen, sondern eine verständnisvolle Begleiterin der geistigen Entwicklung ihrer Schüler. – Kindheit und Schulzeit verbrachte S. in Dresden. Ihre schulische Laufbahn zeigt, wie schwierig es für Mädchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts war, das Abitur anzustreben. Nach dem Besuch der Volksschule wechselte S. 1908 für ein Jahr an die Höhere Mädchenschule am Königlichen Lehrerinnenseminar in Dresden, um die Voraussetzung für eine Ausbildung an einem Lehrerseminar zu erwerben. Hier wurde ihr Interesse für die englische Sprache durch
Tosca Brucauff geweckt, einer in Dresden angesehenen Englisch-Pädagogin. Ostern 1909 wurde S. in das Dresdner Lehrerinnenseminar aufgenommen. Nach erfolgreichem Abschluss der Seminarzeit nahm S. 1914 für eineinhalb Jahre in der Niederlausitz eine Stelle als Hauslehrerin bei der Familie des Hauptmanns
Hans August von Glisczinski auf dessen Rittergut in Klein Loitz (sorb. Łojojc) bei Spremberg an. Danach war S. als Lehrerin an verschiedenen Dresdner Volksschulen tätig. – Um ein Universitätsstudium aufnehmen zu können, legte S. 1917 die Reifeprüfung an der Städtischen Oberrealschule zu Dresden (Johannstadt) ab. Es folgte ein Studium der Fächer Germanistik, Anglistik, Geschichte und Philosophie in München (1917/18) und ab Wintersemester 1918 in Leipzig. In den Vorlesungen Eduard Sievers, des damals führenden Germanisten, lernte S. dessen Methode der Schallanalyse kennen, deren Anwendungen in Anglistik und Germanistik schließlich ihr wissenschaftliches Interesse galt. – Ab 1921 entwickelte sich eine Zusammenarbeit mit S.s Kommilitonen Hans Ludwig Rothe, der sich sowohl bei seiner Regietätigkeit am Leipziger Schauspielhaus als auch bei seinen
Shakespeare-Übersetzungen auf die Erkenntnisse von Sievers stützte. S. war ideale Partnerin für den Einsatz der schallanalytischen Methoden bei diesen Übersetzungsbemühungen. Für S. war die Zusammenarbeit mit Rothe praktische Anwendung der Theorie der Schallanalyse, die sie dann auch zur Rekonstruktion mittelalterlicher Tanzformen nutzte. S. wurde am 25.10.1922 in Leipzig bei Sievers mit der Dissertation „Zu den Tanzformen
Neidharts von Reuental“ zum Dr. phil. promoviert. Koreferent der Arbeit war der Kenner mittelalterlicher Melodienbildung Hermann Abert, der sie ermutigte, aus Kommilitonen eine Tanzgruppe zusammenzustellen, die dann in Leipzig und Halle/Saale die Ergebnisse ihrer Dissertation in mittelalterlichen Kostümen auf der Bühne zur Anschauung brachte. Da die Sieverssche Schallanalyse in Fachkreisen umstritten war, obwohl andere Forschungsmethoden zu ähnlichen Ergebnissen führten, verzichtete S. auf eine akademische Laufbahn mit dem Schwerpunkt Schallanalyse. Sie suchte stattdessen die Anstellung an einer öffentlichen Schule. Dazu war in Sachsen neben dem Nachweis des Staatsexamens für Frauen notwendige Voraussetzung, dass sie nicht verheiratet waren. – S. legte am 17.7.1923 das Staatsexamen ab und erwarb die Lehrberechtigung für die Fächer Deutsch, Geschichte, Englisch. Da sie unverheiratet war, erfüllte sie beide Bedingungen und nahm eine Stelle als Lehrerin an der Höheren Mädchenschule in Plauen an, von Weihnachten 1924 bis Ostern 1925 vertretungsweise, dann mit dem Schuljahrbeginn 1925 als ständige Lehrkraft. Als Mentor hatte S. den Leiter der Studienanstalt
Karl Friebe zur Seite, dessen pädagogische Haltung sie schon immer beeindruckt hatte. Am 1.9.1928 wurde sie zum Studienrat ernannt. – S. entfaltete eine rege Tätigkeit, die über das Schulische hinausging. Sie engagierte sich im Allgemeinen Deutschen Frauenverein und arbeitete dabei eng mit Elisabeth Königsdörffer zusammen, die in den 1920er-Jahren u.a. Vorsitzende des Stadtverbands Plauener Frauenvereine war. 1927 wurde S. auf Anregung von
Königsdörffer als protokollierende Schriftführerin in den Vorstand des
Landesverbandes Sächsischer Frauenvereine gewählt. Insbesondere engagierte sich S. am Aufbau von Frauenfachschulen und Studienanstalten durch konzeptionelle Mitarbeit. Sie versuchte vor allem, der Ausrichtung auf hauswirtschaftliche Fächer entgegenzuwirken. S. war eine entschiedene Verfechterin der Emanzipationsbestrebungen ihrer Zeit, denen der Nationalsozialismus wenige Jahre später ein abruptes Ende bereitete. – 1928 wurde S. mit der Leitung einer Berufsberatungsstelle für Schülerinnen betraut. Durch ihre Vermittlung zwischen den städtischen Ämtern sowie der akademischen Beratungsstelle in Leipzig hatte S. beträchtlichen Anteil daran, dass viele Absolventinnen der Schule eine Arbeit bzw. einen Studienplatz erhielten. – In das Schulkollegium fügte sich S. gut ein. Sie wurde bald mit der Ausbildung von Referendaren betraut, unter denen sich auch
Elisabeth Tröger befand, zu der eine lebenslange Freundschaft entstand. – In den 1930er-Jahren versuchte S. den nationalsozialistischen Bestrebungen entgegenzuwirken, die Schule zu ideologisieren. Sie stellte klassische Bildungsgehalte und Werte in den Mittelpunkt ihres Unterrichtes in den Fächern Deutsch und Geschichte und legte die Lehrpläne in humanem Sinne aus. Ihr Unterrichtsstil war von Sachlichkeit und Genauigkeit geprägt. S. war neuen didaktischen Ansätzen gegenüber besonders aufgeschlossen, galt unter ihren Schülerinnen als streng und gut und erprobte für den Englischunterricht die Methode von
Marie Duve. Unter ihren Schülerinnen, die ein Universitätsstudium aufnahmen, war die spätere Volkskundlerin und Linguistin
Gerda Glück, die in Jena 1938 mit einer Arbeit über den thüringisch-sächsischen Sprachraum promoviert wurde und in ihren autobiografischen Erinnerungen die Lehrerpersönlichkeit von S. hervorhebt. Auch die frohen Seiten des Schullebens kamen unter S. nicht zu kurz. Sie pflegte einen guten persönlichen Kontakt zu ihren Schülerinnen, dazu gehörten Feiern mit ihren Klassen und v.a. gemeinsame Aufenthalte im Schloss Mühltroff, dem Schullandheim ihrer Schule. – 1941 bis 1945 wurde S. für eine Tätigkeit in Grimma abgeordnet, über die keine weiteren Angaben vorliegen; ihren Wohnsitz in Plauen behielt sie bei. Am Ende des Zweiten Weltkriegs hatte S. die Stelle einer Studiendirektorin inne. Im Rahmen des Neulehrerprogramms der SBZ wurde ein großer Teil der sächsischen Lehrerschaft aus dem Schuldienst entlassen, ohne dass im Einzelfall eine genauere Prüfung des Verhaltens während der NS-Zeit stattfand. Auch S. wurde nicht weiterbeschäftigt, allerdings erhielt sie die Genehmigung des Plauener Schulamts zur Erteilung von Privatunterricht, der in der Folge ihre Existenzgrundlage bildete. – Das Umfeld der unmittelbaren Nachkriegszeit regte S. an, sich intensiv mit der russischen Sprache zu beschäftigen, deren Reichtum sie dann auch besonders schätzte. Ein Kurs des Leipziger Rundfunks von
Gerhard Leyst bildete den Einstieg. Durch Vermittlung einer früheren Schülerin, die als Dolmetscherin für die Stadt Plauen und die dortige sowjetische Kommandantur tätig war, gewann S. einen russischen Offizier als Sprachlehrer - allerdings nur für einige Monate, weil er sehr bald abgezogen wurde. – Der Bedarf an privatem Unterricht war in der Nachkriegszeit zunächst groß, um einerseits die didaktischen Mängel der umorganisierten Schulen auszugleichen und andererseits Kinder, deren Eltern eine Übersiedlung in die westlichen Besatzungszonen planten, auf die dortigen Schulen vorzubereiten. Dieser Situation verdankten viele Lehrer, die keine Anstellung mehr hatten, die Sicherung ihrer Existenz, so auch S. Sie war durch Privatunterricht in den Fächern Russisch, Englisch, Geschichte und Deutsch ab 1945 ausgelastet, sowohl durch vorbereitenden Unterricht als auch mit Nachhilfe für alle Jahrgangsstufen. – Bei der Unterrichtsgestaltung griff S. im Englischen auf die Methode von Duve zurück und ergänzte das Unterrichtsmaterial durch die „English by Radio“-Sendungen der British Broadcasting Corporation (BBC). S. hatte sich von einer Leipziger Rundfunkwerkstatt eines der ersten Tonbandgeräte der Nachkriegszeit beschafft und konnte so das ausgezeichnete Lehrmaterial der BBC aufnehmen und für ihren Unterricht einsetzen, wodurch sie ihre Schüler auf den aktuellen Stand der englischen Sprache bringen konnte, wenngleich das verwendete Material in der SBZ illegal war. – 1954 wurde S. der Wiedereintritt in den Schuldienst durch
Alois Pögl, dem damaligen Leiter der Diesterweg-Oberschule in Plauen, für das Fach Russisch angeboten. S. akzeptierte nach langem Bedenken, konnte jedoch nur kurze Zeit in der Schule wirken, weil eine Geschwulst an der Leber ihrem Leben im Februar 1955 ein Ende setzte. Ihre Freundin, Elisabeth Tröger, inzwischen Ärztin, begleitete sie intensiv in den letzten Monaten ihres Lebens. S. wurde im Plauener Krematorium eingeäschert, und die Urne im Grab ihrer Eltern auf dem Alten Annenfriedhof in Dresden beigesetzt.
Quellen Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt/Main, A 2 Senckenbergische Bibliothek; Universitätsarchiv Leipzig - Privatarchiv Stoy, Paula; Mitteilung des Stadtarchivs Plauen, 7.7.2011; Mitteilungen von Prof. Dr. Roland Schmidt, Leipzig, 25.9.2013.
Werke Vortrag und Geste, in: Mitteilungen der Leipziger Schauspielhausgemeinde 1/1921, H. 16; Zu den Tanzformen Neidharts von Reuental, Diss. Leipzig 1922.
Literatur W. Kaiser, Altdeutscher Reigen, in Hallesche Zeitung 13.2.1922; Altdeutscher Reigen, in: Hallische Nachrichten 13.2.1922; Die altdeutschen Tänze Neidhart von Reuenthals, in: Wochenbeilage der Mitteldeutschen Zeitung 13.2.1922; Wiederherstellung des deutschen Tanzes im Mittelalter, in: Beilage der Saale-Zeitung 13.2.1922; Vom deutschen Tanz im Mittelalter, in: Dresdner Anzeiger 23.2.1922; Altdeutscher Reigen des Neidhart von Reuenthal, in: Hallesche Zeitung 26.2.1922; Wiederherstellung des deutschen Tanzes im Mittelalter, in: Leipziger Tageblatt; Ankündigungen, in: Hallesche Zeitung und Hallische Nachrichten 4./7./8.2.1922; Mitgliederverzeichnis des Sächsischen Philologenvereins 1931, Dresden 1931; Verzeichnis der Lehrer an den höheren Schulen Sachsens, Berlin 1934; E. Weller, Siebenhundert Jahre Schulgeschichte der Kreisstadt Plauen, Plauen 1941; H. Rothe, Shakespeare als Provokation, München 1961, S. 411, 416; W. Storl, Erinnerungen an Plauen, Plauen 1997; B. Wagatha, Marie Duve (1876-1959) als Vorläuferin des modernen Englischunterrichts, Diss. Marburg 2005; G. Grober-Glück, Feldforschungen in Ostthüringen waren Ausgangspunkt meiner wissenschaftlichen Arbeit, Erfurt 2008.
Porträt Paula S., 1954, Fotografie, Privatbesitz G.A. Wicke (Bildquelle).
Günter A. Wicke †
7.1.2016
Empfohlene Zitierweise:
Günter A. Wicke †, Artikel: Paula Stoy,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/25948 [Zugriff 22.11.2024].
Paula Stoy
Quellen Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt/Main, A 2 Senckenbergische Bibliothek; Universitätsarchiv Leipzig - Privatarchiv Stoy, Paula; Mitteilung des Stadtarchivs Plauen, 7.7.2011; Mitteilungen von Prof. Dr. Roland Schmidt, Leipzig, 25.9.2013.
Werke Vortrag und Geste, in: Mitteilungen der Leipziger Schauspielhausgemeinde 1/1921, H. 16; Zu den Tanzformen Neidharts von Reuental, Diss. Leipzig 1922.
Literatur W. Kaiser, Altdeutscher Reigen, in Hallesche Zeitung 13.2.1922; Altdeutscher Reigen, in: Hallische Nachrichten 13.2.1922; Die altdeutschen Tänze Neidhart von Reuenthals, in: Wochenbeilage der Mitteldeutschen Zeitung 13.2.1922; Wiederherstellung des deutschen Tanzes im Mittelalter, in: Beilage der Saale-Zeitung 13.2.1922; Vom deutschen Tanz im Mittelalter, in: Dresdner Anzeiger 23.2.1922; Altdeutscher Reigen des Neidhart von Reuenthal, in: Hallesche Zeitung 26.2.1922; Wiederherstellung des deutschen Tanzes im Mittelalter, in: Leipziger Tageblatt; Ankündigungen, in: Hallesche Zeitung und Hallische Nachrichten 4./7./8.2.1922; Mitgliederverzeichnis des Sächsischen Philologenvereins 1931, Dresden 1931; Verzeichnis der Lehrer an den höheren Schulen Sachsens, Berlin 1934; E. Weller, Siebenhundert Jahre Schulgeschichte der Kreisstadt Plauen, Plauen 1941; H. Rothe, Shakespeare als Provokation, München 1961, S. 411, 416; W. Storl, Erinnerungen an Plauen, Plauen 1997; B. Wagatha, Marie Duve (1876-1959) als Vorläuferin des modernen Englischunterrichts, Diss. Marburg 2005; G. Grober-Glück, Feldforschungen in Ostthüringen waren Ausgangspunkt meiner wissenschaftlichen Arbeit, Erfurt 2008.
Porträt Paula S., 1954, Fotografie, Privatbesitz G.A. Wicke (Bildquelle).
Günter A. Wicke †
7.1.2016
Empfohlene Zitierweise:
Günter A. Wicke †, Artikel: Paula Stoy,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/25948 [Zugriff 22.11.2024].