Paul Göhre

Mit seinem Verkaufserfolg „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche“ machte G. in den 1890er-Jahren vor allem die bürgerliche Öffentlichkeit mit den Lebensverhältnissen der Arbeiterschaft bekannt. Der Nachwelt hinterließ er so als scharfsinniger Beobachter eine atmosphärisch dichte und später häufig zitierte Quelle. Demgegenüber tritt die Erinnerung an sein späteres Wirken als SPD-Politiker zurück. – Aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend, besuchte G. die Fürstenschule St. Afra zu Meißen und studierte in Leipzig und Berlin Theologie und Nationalökonomie. 1888 wurde er Pfarrgehilfe und war bis 1890 Redaktionshelfer der „Christlichen Welt“ in Schönbach. G. ging 1890 für drei Monate nach Chemnitz, um dort unerkannt in einer Fabrik zu arbeiten. Ihn interessierten die Lebensverhältnisse der Arbeiter und die Frage, warum sich diese von der Religion ab- und der Sozialdemokratie zuwandten. Seine Erlebnisse schrieb er in dem Buch „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche“ nieder, das 1891 erschien. Mit seinen eindringlichen Beschreibungen der proletarischen Arbeits- und Lebenswelt gelang G. ein Bestseller unter dem vorwiegend bürgerlichen Lesepublikum. Zwei Auflagen gab es im Erscheinungsjahr, Übersetzungen ins Niederländische, Norwegisch-Dänische, Schwedische und Englische sowie eine Volksausgabe 1913 folgten. – 1891 wurde G. Sekretär des „Evangelischen Sozialen Kongresses“ und arbeitete in dieser Funktion zusammen mit Friedrich Naumann und Max Weber an einer Studie über ostdeutsche Landarbeiter. 1894 bis 1897 war G. als Pfarrer in Frankfurt/Oder tätig, wo er für sein Engagement in der Arbeiterschaft den Beinamen „Arbeiterpastor“ erhielt. 1897 wurde er zweiter Vorsitzender des mit Naumann neu gegründeten „Nationalsozialen Vereins“. Vor dem Hintergrund der Abkehr Kaiser Wilhelms II. von der Sozialpolitik vollzog G. seinen Bruch mit Naumann und wechselte zur SPD, was große öffentliche Aufmerksamkeit erregte. Seine programmatische und von der SPD zahlreich als Druckschrift verbreitete Rede „Wie ein Pfarrer Sozialdemokrat wurde“ hielt er 1900 in Chemnitz. Im Jahr darauf verzichtete er nach Disziplinarverfahren auf seine Rechte als Geistlicher und forderte 1906 öffentlich zum Kirchenaustritt auf, nachdem er diesen Schritt mit seiner Frau im Anschluss an den Dresdner SPD-Parteitag von 1903 bereits gegangen war. – 1903 bis 1906 (15. Wahlkreis Mittweida-Frankenberg) sowie 1910 bis 1918 (20. Wahlkreis Zschopau) saß der zum rechten Parteiflügel zählende G. für die SPD als Abgeordneter im Reichstag. Im Januar 1915 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger und kam als Leutnant an die Ostfront. 1918 war er kurze Zeit Unterstaatssekretär im Kriegsministerium. 1919 bis 1923 fungierte er als Staatssekretär im Preußischen Staatsministerium sowie als Referent für kirchliche Angelegenheiten. – Bis zu seinem Tod blieb G. weiter publizistisch und als Herausgeber tätig. Hervorzuheben für Sachsen sind seine Studie über die „Die Heimarbeit im Erzgebirge und ihre Wirkungen“ sowie die Publikation umfangreicher Lebensgeschichten von Arbeitern in Form von Selbsterzählungen.

Quellen Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn, Nachlass G.; Evangelisches Zentralarchiv Berlin; Sächsisches Industriemuseum Chemnitz.

Werke Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche, Leipzig 1891, Gütersloh 1978 (ND Amsterdam 1891 [niederl.], ND Stockholm 1891 [schwed.], ND Kristiania 1892 [norweg.], ND Aarhus 1893 [dän.], ND London 1895 [engl.]); Wie ein Pfarrer Sozialdemokrat wurde, Berlin 21900; (Hg.), C. Fischer, Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters, Leipzig 1903, 71905; (Hg.), M. W. T. Bromme, Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters, Jena/Leipzig 1905 (ND Frankfurt/Main 1971); Die Heimarbeit im Erzgebirge und ihre Wirkungen, Chemnitz 1906; (Hg.), W. Holek, Lebensgang eines deutsch-schlesischen Handarbeiters, Jena 1909.

Literatur J. Brenning, Christentum und Sozialdemokratie, Marburg 1980 (WV). – NDB 6, S. 513-515; Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 16, Hamm 1999, Sp. 562-575.

Porträt Reichstags-Handbuch, 13. Legislaturperiode, hrsg. vom Bureau des Reichstags, Berlin 1912, S. 510 (Bildquelle).

Achim Dresler
30.7.2010


Empfohlene Zitierweise:
Achim Dresler, Artikel: Paul Göhre,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1742 [Zugriff 22.12.2024].

Paul Göhre



Quellen Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn, Nachlass G.; Evangelisches Zentralarchiv Berlin; Sächsisches Industriemuseum Chemnitz.

Werke Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche, Leipzig 1891, Gütersloh 1978 (ND Amsterdam 1891 [niederl.], ND Stockholm 1891 [schwed.], ND Kristiania 1892 [norweg.], ND Aarhus 1893 [dän.], ND London 1895 [engl.]); Wie ein Pfarrer Sozialdemokrat wurde, Berlin 21900; (Hg.), C. Fischer, Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters, Leipzig 1903, 71905; (Hg.), M. W. T. Bromme, Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters, Jena/Leipzig 1905 (ND Frankfurt/Main 1971); Die Heimarbeit im Erzgebirge und ihre Wirkungen, Chemnitz 1906; (Hg.), W. Holek, Lebensgang eines deutsch-schlesischen Handarbeiters, Jena 1909.

Literatur J. Brenning, Christentum und Sozialdemokratie, Marburg 1980 (WV). – NDB 6, S. 513-515; Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 16, Hamm 1999, Sp. 562-575.

Porträt Reichstags-Handbuch, 13. Legislaturperiode, hrsg. vom Bureau des Reichstags, Berlin 1912, S. 510 (Bildquelle).

Achim Dresler
30.7.2010


Empfohlene Zitierweise:
Achim Dresler, Artikel: Paul Göhre,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1742 [Zugriff 22.12.2024].