Ludwig Philippson
Ludwig Philippson gilt aufgrund seiner vielschichtigen kulturpolitischen, literarischen und publizistischen Wirksamkeit bis heute als profilierte Figur des deutschen Reformjudentums. Auch wenn er die meiste Zeit seines Lebens in
Magdeburg und später in
Bonn lebte, nutzte er in starkem Maß das kulturelle Zentrum Leipzig für seine Ziele. Die durch ihn begründete „Allgemeine Zeitung des Judentums“ (AZJ) als liberales Sprachrohr kam ab 1837 zunächst in Leipzig, später in
Berlin heraus und ist mit rund 85 Jahren Erscheinungsdauer über Philippsons Tod hinaus die am längsten ohne Unterbrechung publizierte jüdische Zeitung in deutscher Sprache. – Philippson, der seinen Vater bereits im Kleinkindalter verlor, wuchs unter einfachen Verhältnissen in
Dessau auf, wo er schon ab 1815 die Israelitische Hauptschule zu Dessau (auch Herzogliche Franzschule genannt) besuchte, um in hebräische Literatur sowie klassische Philologie eingeführt zu werden. Nach einer kurzen Zeit an der Höheren Schule für Talmud-Studien (Beth Hamidrasch) zu Dessau 1825 wurde er am 9.4.1826 als 14-Jähriger mit Unterstützung seines älteren Bruders Phoebus trotz anfänglicher Widerstände aufgrund seiner jüdischen Herkunft in die Lateinische Schule der Franckeschen Stiftungen
Halle/Saale aufgenommen. Dreieinhalb Jahre später folgte seine Immatrikulation an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, wo Philippson Philosophie und Philologie studierte. 1831 erschien sein Werk „Hylē anthrōpinē. De internarum humani corporis partium cognitione Aristotelis cum Platonis sententia comparata“, mit dem er promoviert wurde. Als richtungsweisend für Philippsons weiteren Lebensweg sollte sich, entgegen seinen zeitweiligen Gedankenspielen, nach Frankreich zu auszuwandern, der Ruf der Israelitischen Gemeinde in Magdeburg auf eine Stelle als Prediger und Lehrer Ende 1833 erweisen. Der erst knapp 22-Jährige folgte diesem Ruf und legte im Frühjahr 1834 die Dienstprüfung als geistlicher Lehrer ab. In seiner fast 30 Jahre währenden Dienstzeit setzte sich der als naturverbunden und von heiterem Wesen beschriebene Philippson für eine behutsame Reform des Judentums ein. Dabei bestand der Ansatz Philippsons, seit 1839 zudem Rabbiner, in einem Kompromiss zwischen der jüdischen Orthodoxie auf der einen und den Verfechtern einer rücksichtslosen Modernisierung des Judentums auf der anderen Seite. Konservatives Traditionsbewusstsein sollte mit Liberalismus und Fortschrittsoffenheit einhergehen, nicht zuletzt, um die Akzeptanz und Integration des Judentums in der Gesellschaft abzusichern. Auch in diesem Kontext erklärt sich die durch Philippson vollzogene Gründung der AZJ in Leipzig am 1.5.1837. Das von ihm selbst herausgebrachte und redigierte Medium vertrat analog zu seiner Gedankenwelt eine liberale Programmatik mit Bekenntnis zur gesellschaftlichen Emanzipation der Juden wie auch zu den Wurzeln jüdischer Identität. Einen Brückenschlag stellte das ebenfalls 1855 von ihm begründete Institut zur Förderung der israelitischen Literatur in Leipzig dar, das 18 Jahre lang etwa 80 Werke zur jüdischen Geschichte, Kultur, Wissenschaft und Poesie in deutscher Sprache publizierte. Ein weiteres Dauerprojekt des umtriebigen Herausgebers bildete die Übersetzung der hebräischen Bibel in eine deutsche Fassung mit Bildern und Kommentaren zwischen 1839 und 1854, die ein großes Echo hervorrief, aber auch auf Kritik stieß. 1859 gründete Philippson die Israelitische Bibelanstalt. – Die Gleichstellung der Juden sah Philippson als eine Art Mission wie auch Maßstab für die Wirksamkeit persönlicher Freiheitsrechte an. 1848 war er stellvertretender Abgeordneter der gemäßigt liberalen Fraktion in der Frankfurter Paulskirchenversammlung, im Folgejahr wurde er Präsident des Allgemeinen Lehrervereins in der preußischen Provinz Sachsen. Im September 1851 weihte er die alte Magdeburger Synagoge ein. Eine Augenkrankheit, die fast bis zur Erblindung führte, zwang den vielbeschäftigten Philippson 1862 zum frühzeitigen Abschied in den Ruhestand, woraufhin er sich mit dem Titel eines Ehrenrabbiners nach Bonn zurückzog. Trotz körperlicher Leiden trat Philippson auch in der Universitätsstadt am Rhein mit familiärer Hilfe weiterhin publizistisch in Erscheinung, indem er neue Abhandlungen zu Religion, Geschichte, Politik und Zeitgeschehen verfasste. Sein Werk „Haben die Juden Jesum gekreuzigt?“ von 1866 entfachte kontrovers geführte Debatten. 1868 initiierte er die liberale Gemeindeversammlung in
Kassel und 1869 die jüdische Synode in Leipzig, im gleichen Jahr war er an der Gründung des Deutsch-Israelitischen Gemeindebunds (DIGB) und der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin beteiligt. Bei letzterer gehörte Philippson ab 1870 dem Kuratorium an. Auf der konstituierenden DIGB-Versammlung im April 1872 lieferte er einen Redebeitrag. Später wurde er Ehrenmitglied der Gemeinde in Leipzig. – Philippson war neunfacher Vater und zweimal verheiratet. Nach dem frühen Tod von
Juliane Wolffstein hatte Philippson die junge Halberstädterin
Mathilde Hirsch geehelicht. Ende 1889 verstarb er einen Tag nach Vollendung des 77. Lebensjahrs in Bonn und wurde dort auch beigesetzt. – In der Rezeption der Nachwelt hinterließ Philippson mit seiner vielfältigen Aktivität das Bild einer schillernden Figur, die schon zu Lebzeiten durchaus umstritten war. Es gab Vorwürfe der Arroganz und Wichtigtuerei gegen ihn und mit Bezug auf die AZJ wurde ihm eine richtungslose Oberflächlichkeit mit überhöhtem Einfluss auf die öffentliche Meinung vorgeworfen. Als scharfer Kritiker erwies sich beispielsweise der jüdische Orientalist Julius Fürst, der Philippson 1842 in der Zeitschrift „Der Orient“ heftig angriff. In der Person Philippsons verband sich eine tiefgreifende Überzeugung von der eigenen Lebensmission mit Organisationsgeschick und rhetorischem Talent, was entsprechend viel Zulauf und Aufmerksamkeit mit sich brachte. Durch Ansprachen, Predigten und Vorträge wie auch eigene literarische Tätigkeit tat sich Philippson in der Rolle des belletristischen Autors ebenso hervor wie als redegewandter Geistlicher, erzählfreudiger Autobiograf, Vermittler religionsgeschichtlicher Fragen und Analyst des Zeitgeists. Seine zwischen konservativer Orthodoxie und Liberalismus vermittelnde theologische Positionierung rief immer wieder Kritiker auf den Plan, die ihm gleichwohl Verdienste um die Emanzipation des Judentums nicht ganz absprechen wollten. Die gegenwärtige Wahrnehmung sieht in Philippson meist weniger einen großen Gelehrten im engeren Sinn als einen außerordentlich engagierten Vertreter des Reformjudentums im 19. Jahrhundert, dem unermüdlicher Fleiß und die Fähigkeit zur Popularisierung komplexer Sachverhalte zu eigen waren. Seit November 2021 erinnert eine Gedenktafel in Magdeburg an Philippson, die sein dortiges Wirken 1834 bis 1862 würdigt.
Quellen Leo Baeck Institute New York, AR 2679 Ludwig Philippson Family Collection; Historische Adressbücher Bonn 1865-1889.
Werke Hylē anthrōpinē. De internarum humani corporis partium cognitione Aristotelis cum Platonis sententia comparata, Berlin 1831; (Hg.), Allgemeine Zeitung des Judentums 1/1837-53/1889; Die Israelitische Bibel, 3 Bde., Leipzig 1839-1854; Die Entwickelung der Religiösen Idee im Judenthume, Christenthume und Islam, Leipzig 1847, 21874; Haben wirklich die Juden Jesum gekreuzigt?, Berlin 1866, Leipzig 21901; Jakob Tirado. Geschichtlicher Roman aus der zweiten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts, Leipzig 1867; Weltbewegende Fragen in Politik und Religion, 2 Bde., Leipzig 1868/1869; Die Rhetorik und jüdische Homiletik. In Briefen und Abhandlungen, hrsg. von Meyer Kayserling, Leipzig 1890; Aus meiner Knabenzeit, hrsg. von Bernd G. Ulbrich, Dessau 2006.
Literatur Johanna Philippson, Ludwig Philippson und die Allgemeine Zeitung des Judentums, in: Hans Liebeschütz/Arnold Paucker (Hg.), Das Judentum in der Deutschen Umwelt 1800-1850, Tübingen 1977, S. 243-291; Hans Otto Horch, „Auf der Zinne der Zeit.“ Ludwig Philippson (1811-1889) - der „Journalist“ des Reformjudentums. Aus Anlaß seines 100. Todestages am 29. Dezember 1989, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 86/1990, S. 5-21; Josef Reinhold, Zwischen Aufbruch und Beharrung. Juden und jüdische Gemeinde in Leipzig während des 19. Jahrhunderts, Dresden 1999; Andreas Gotzmann, Die Brillanz des Mittelmaßes. Ludwig Philippsons bürgerliches Judentum, in: Giuseppe Veltri/Christian Wiese (Hg.), Jüdische Bildung und Kultur in Sachsen-Anhalt von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus, Berlin 2009, S. 147-174; Harald Lordick/Beata Mache, ... nahm in Hauptsachen so entschieden das Wort. Ludwig Philippson - Rabbiner und Publizist (1811-1889), in: Kalonymos 14/2011, H. 4, S. 1-6; Nora Pester, Jüdisches Leipzig. Menschen - Orte - Geschichte, Leipzig/Berlin 2023. – ADB 53, S. 56f.; DBA I, II, III; DBE II 7, S. 818; NDB 20, S. 397f.; Carsten Wilke, Biographisches Handbuch der Rabbiner, Teil 1: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und grosspolnischen Ländern 1781-1871, München 2004, Bd. 2, S. 702-706.
Porträt Philippson, Ludwig Portraits Men, Druckgrafik, Leo Baeck Institute, Center for Jewish History, New York (USA) (Bildquelle).
Lucas Böhme
22.7.2025
Empfohlene Zitierweise:
Lucas Böhme, Artikel: Ludwig Philippson,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27918 [Zugriff 11.8.2025].
Ludwig Philippson
Quellen Leo Baeck Institute New York, AR 2679 Ludwig Philippson Family Collection; Historische Adressbücher Bonn 1865-1889.
Werke Hylē anthrōpinē. De internarum humani corporis partium cognitione Aristotelis cum Platonis sententia comparata, Berlin 1831; (Hg.), Allgemeine Zeitung des Judentums 1/1837-53/1889; Die Israelitische Bibel, 3 Bde., Leipzig 1839-1854; Die Entwickelung der Religiösen Idee im Judenthume, Christenthume und Islam, Leipzig 1847, 21874; Haben wirklich die Juden Jesum gekreuzigt?, Berlin 1866, Leipzig 21901; Jakob Tirado. Geschichtlicher Roman aus der zweiten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts, Leipzig 1867; Weltbewegende Fragen in Politik und Religion, 2 Bde., Leipzig 1868/1869; Die Rhetorik und jüdische Homiletik. In Briefen und Abhandlungen, hrsg. von Meyer Kayserling, Leipzig 1890; Aus meiner Knabenzeit, hrsg. von Bernd G. Ulbrich, Dessau 2006.
Literatur Johanna Philippson, Ludwig Philippson und die Allgemeine Zeitung des Judentums, in: Hans Liebeschütz/Arnold Paucker (Hg.), Das Judentum in der Deutschen Umwelt 1800-1850, Tübingen 1977, S. 243-291; Hans Otto Horch, „Auf der Zinne der Zeit.“ Ludwig Philippson (1811-1889) - der „Journalist“ des Reformjudentums. Aus Anlaß seines 100. Todestages am 29. Dezember 1989, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 86/1990, S. 5-21; Josef Reinhold, Zwischen Aufbruch und Beharrung. Juden und jüdische Gemeinde in Leipzig während des 19. Jahrhunderts, Dresden 1999; Andreas Gotzmann, Die Brillanz des Mittelmaßes. Ludwig Philippsons bürgerliches Judentum, in: Giuseppe Veltri/Christian Wiese (Hg.), Jüdische Bildung und Kultur in Sachsen-Anhalt von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus, Berlin 2009, S. 147-174; Harald Lordick/Beata Mache, ... nahm in Hauptsachen so entschieden das Wort. Ludwig Philippson - Rabbiner und Publizist (1811-1889), in: Kalonymos 14/2011, H. 4, S. 1-6; Nora Pester, Jüdisches Leipzig. Menschen - Orte - Geschichte, Leipzig/Berlin 2023. – ADB 53, S. 56f.; DBA I, II, III; DBE II 7, S. 818; NDB 20, S. 397f.; Carsten Wilke, Biographisches Handbuch der Rabbiner, Teil 1: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und grosspolnischen Ländern 1781-1871, München 2004, Bd. 2, S. 702-706.
Porträt Philippson, Ludwig Portraits Men, Druckgrafik, Leo Baeck Institute, Center for Jewish History, New York (USA) (Bildquelle).
Lucas Böhme
22.7.2025
Empfohlene Zitierweise:
Lucas Böhme, Artikel: Ludwig Philippson,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27918 [Zugriff 11.8.2025].