Kito Lorenc
L. gilt als Schlüsselfigur im sorbisch-deutschen Dialog, denn er verstand die Sprachen nicht als voneinander separiert, sondern als sich gegenseitig potenzierend und neue Literatur erzeugend. Mit seinem fast 60 Jahre währenden, breit gefächerten und stets innovativen Schaffen überschritt er permanent herkömmliche Erfahrungen und Erwartungen der einen wie der anderen Sprach- und Literaturgemeinschaft. Auch als Herausgeber und Übersetzer begriff L. Poesie als einen immerwährenden Austauschprozess. Enge persönliche und künstlerische Kontakte unterhielt L. zur sog. Sächsischen Dichterschule, eine Gruppe von Autoren, die in den 1960er-Jahren die DDR-Lyrik wesentlich mitprägte. – Zunächst arbeitete L., ein Enkel des Schriftstellers und Politikers Jakub Lorenc-Zalěski, nach einem Studium der Slawistik an der Karl-Marx-Universität in Leipzig (1956-1961) als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für sorbische Volksforschung in Bautzen. Nach seinem Ausscheiden aus dem Institut 1972 übernahm er bis 1979 - ebenfalls in Bautzen - eine Dramaturgenstelle am Staatlichen Ensemble für sorbische Volkskultur. Anschließend war er freischaffend tätig. 1969 bis 1976 leitete L. zudem den Kružk serbskich młodych awtorow (Zirkel sorbischer junger Autoren) und förderte so eine neue Generation sorbischer Dichterinnen und Dichter. L. lebte in Wuischke (sorb. Wuježk) bei Hochkirch. Aus seinen zwei Ehen gingen fünf Kinder hervor. – 1961 debütierte L. mit dem sorbischsprachigen Gedichtband „Nowe časy - nowe kwasy“, der v.a. Gedichte aus seiner Studentenzeit enthält. Erstmals einer breiteren Öffentlichkeit stellte er sich 1967 mit dem zweisprachigen Band „Struga“ vor. Im Einleitungsessay justierte er Heimat als Lebens- und Kulturraum neu. Sorbische Lebenswelten entwarf L. dabei als keineswegs folkloristische, sondern setzte sich kritisch mit ihrer konfliktreichen Geschichte und Gegenwart auseinander. Diese Perspektive sollte L.s Schaffen begleiten. Ebenso bildete die Praxis, gleichermaßen Sorbisch und Deutsch zu dichten, ein Kontinuum. Mit den nächsten Gedichtbänden erweiterte L. seine metrischen und rhetorischen Mittel und nutzte dabei zunehmend sprachspielerische Verfahren. Damit verfeinerte er einerseits die ästhetische Ebene seiner Lyrik. Andererseits verwendete er Wortspiele für sprachkritische Anliegen, die zugleich eine gesellschaftskritische Dimension annahmen - auch dann, wenn sie auf den ersten Blick Kindergedichte zu sein schienen. Seinen prüfenden Duktus gegenüber Herrschaftssprache und -ritualen der DDR verschärfte L. in den folgenden Jahren. Exemplarisch sei der Band „Gegen den großen Popanz“ genannt, der etwa den zunächst als Samisdat unter dem Pseudonym Peter Schode erschienenen „Kleinen Weggefährten durch den Winter“ abdruckte. Bereits in den ausgehenden 1980er-Jahren widmet sich L. auch dem Drama. Sein sicher wichtigstes, „Die wendische Schiffahrt“, verhandelt höchst vergnüglich, doch zugleich kritisch sorbische bzw. sorbisch-deutsche (Kultur-)Geschichte von den 1890er-Jahren bis zur unmittelbaren Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. L.s Schwerpunkt lag jedoch nach wie vor auf der Lyrik, in der er nun vermehrt die Zeitläufe bilanzierte. Im Spätwerk beschäftigten L. zusehends, nicht frei von einer gewissen Melancholie sowie Ironie, die Rolle als Dichter und das Älterwerden. Gleichwohl attestiert ihm das Nachwort seines letzten deutschsprachigen Bands Humor, nun sei es ein „grimmiger trotziger“. – Als Herausgeber steckte L. sowohl literarisches als auch literaturwissenschaftliches Terrain ab. 1973 begründete er die Reihe „Serbska poezija“ (Sorbische Poesie), die bis 2014 in insgesamt 60 Heften das sorbischsprachige Literaturerbe sowie die Gegenwartsliteratur erschloss. Besonders nachhaltige Wirkung verschaffte ihm sein editorisches Großprojekt „Sorbisches Lesebuch“, in dem L. sorbische Dichtung von den Anfängen bis zur Gegenwart versammelte, einen Großteil der Texte selbst ins Deutsche übertrug und schließlich kommentierte. So vermittelte er erstmals sorbische Literatur in ihrer Bandbreite und Vielfalt auch an ein deutschsprachiges Publikum. Dieses Unternehmen setzte er als Herausgeber der Anthologien „Aus jenseitigen Dörfern“ und „Das Meer. Die Insel. Das Schiff“ fort. – L. war Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste, des PEN-Zentrums der DDR und später der BRD. Sein Werk wurde u.a. mit folgenden Preisen gewürdigt: Literaturpreis der Domowina (1962), Kunst- und Literaturpreis der Domowina (1968), Heinrich-Heine-Preis (1974), Ćišinski-Preis (1990), Heinrich-Mann-Preis (1991) sowie Hermann-Hesse-Stipendium Calw (1997). 2008 erhielt L. die Ehrendoktorwürde der Technischen Universität Dresden. Es folgten der Lessing-Preis des Freistaates Sachsen (2009), der Petrarca-Preis (2012) sowie der Christian-Wagner-Preis (2016).
Werke Nowe časy - nowe kwasy. Basnje ze studentskich lět [Neue Zeiten - neue Hochzeiten. Gedichte aus der Studentenzeit], Bautzen 1961, 21962; (Hg.), Swětło, prawda, swobodnosć. Antologija serbskeho demokratiskeho basnistwa [Licht, Wahrheit, Freiheit. Anthologie sorbischer demokratischer Dichtung], Bautzen 1963; Struga. Wobrazy našeje krajiny. Bilder einer Landschaft, Bautzen 1967; Kluče a puće. Zezběrane basnje z lět 1962-1967 z dodawkom spěwow [Schlüssel und Wege. Gesammelte Gedichte aus den Jahren 1962-1967 mit einer Zugabe von Liedern], Bautzen 1971; Flurbereinigung. Gedichte, Berlin/Weimar 1973, 21988; (Hg.) Serbska poezija [Sorbische Poesie], 60 Hefte, Bautzen 1973-2014; (Hg.), Sorbisches Lesebuch/Serbska čitanka, Leipzig 1981; Die Rasselbande im Schlamassellande. Gedichte für Robert und Jacob und andre Kindsköpfe, Berlin 1983, 31985; Wortland. Gedichte aus zwanzig Jahren, Leipzig 1984; Rymarej a dyrdomdej. Poł kopy basni a tři basnički dźěćom a dźědam, dźowkam a wowkam [Reimerei und Abenteuer. Ein halbes Schock Gedichte und drei Märlein, den Kindern und Opas, den Töchtern und Omas], Bautzen 1985; Ty porno mi. Tajke a wonajke basnje [Du mein Gegenüber], Bautzen 1988; Gegen den großen Popanz, Berlin/Weimar 1990; mit Johann P. Tammen (Hg.), Aus jenseitigen Dörfern. Zeitgenössische sorbische Literatur, Bremerhaven 1992; Kołbas [Wurst], Bautzen 1994 (UA 1988); Suki w zakach. Basnje, basnje-njebasnje, přebasnjenja [Knoten in den Taschen], Bautzen 1998; die unerheblichkeit berlins. Texte aus den Neunzigern, München 2002; Die wendische Schiffahrt. Tragikgroteske in fünf Bildern, mit zwei Zwischenspielen und einem Epilog, Bautzen 2004 (UA 1994); Kim Broiler, Bautzen 2004 (UA 1996); (Hg.), Das Meer. Die Insel. Das Schiff. Sorbische Dichtung von den Anfängen bis zur Gegenwart, Heidelberg 2004; Erinnerung an eine Nacht im Freien. Gedichte, Klagenfurt 2009; Podomk. Basnje a druha nadoba z dwanatka lět [Hausrat], Bautzen 2010; Nach Morau, nach Krokau. Gereimtes und Ungereimtes für Kinder und Enkel, Klagenfurt 2011; Gedichte, hrsg. von Peter Handke, Berlin 2013; Im Filter des Gedichts. Essays, Gespräche, Notate/Přez křidu basnje. Eseje, rozmołwy, nastawki, hrsg. von Ruth Thiemann/Franz Schön, Bautzen 2013; Der zweiseitige Beitrag. Prosastücke/Wěsty dwustronski přinošk. Pěše rěče, Bautzen 2015; Windei in der Wasserhose des Eisheiligen. Gedichte und Schmungks, Leipzig 2015; Zymny kut. Basnje a smorženki. Z dodawkom čěskeje poezije Kyrkonošow [Kaltes Eck], Bautzen 2016.
Literatur Michael Gratz, Sprachspiel gegen Bewußtseinsbesetzung. Eine andere politische Dichtung aus der DDR, in: Diskussion Deutsch 22/1991, H. 122, S. 606-618; Ewout van der Knaap, Die Produktivität der Sprachgrenze. Zur deutschsprachigen Lyrik von Kito L. in den siebziger und achtziger Jahren, in: Walter Koschmal (Hg.), Perspektiven sorbischer Literatur, Köln/Weimar/Wien 1993, S. 247-263; Christian Prunitsch, Sorbische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Untersuchungen zur Evolution der Gattung, Bautzen 2001; Franc Šěn, Kito L. Personalna bibliografija. Personalbibliographie, Bautzen 2018; Walter Koschmal, Der Dichter - Kito L. - dazwischen, Bautzen 2018; Walter Schmitz, Kito L. - Dichter eines kleinen Volkes?, in: Lětopis 66/2019, H. 2, S. 4-24. – DBA III.
Porträt Kito L., Klaus Morgenstern, 1991, Fotografie, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Abteilung Deutsche Fotothek (Bildquelle).
Juliane Rehnolt
16.11.2021
Empfohlene Zitierweise:
Juliane Rehnolt, Artikel: Kito Lorenc,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/28201 [Zugriff 2.11.2024].
Kito Lorenc
Werke Nowe časy - nowe kwasy. Basnje ze studentskich lět [Neue Zeiten - neue Hochzeiten. Gedichte aus der Studentenzeit], Bautzen 1961, 21962; (Hg.), Swětło, prawda, swobodnosć. Antologija serbskeho demokratiskeho basnistwa [Licht, Wahrheit, Freiheit. Anthologie sorbischer demokratischer Dichtung], Bautzen 1963; Struga. Wobrazy našeje krajiny. Bilder einer Landschaft, Bautzen 1967; Kluče a puće. Zezběrane basnje z lět 1962-1967 z dodawkom spěwow [Schlüssel und Wege. Gesammelte Gedichte aus den Jahren 1962-1967 mit einer Zugabe von Liedern], Bautzen 1971; Flurbereinigung. Gedichte, Berlin/Weimar 1973, 21988; (Hg.) Serbska poezija [Sorbische Poesie], 60 Hefte, Bautzen 1973-2014; (Hg.), Sorbisches Lesebuch/Serbska čitanka, Leipzig 1981; Die Rasselbande im Schlamassellande. Gedichte für Robert und Jacob und andre Kindsköpfe, Berlin 1983, 31985; Wortland. Gedichte aus zwanzig Jahren, Leipzig 1984; Rymarej a dyrdomdej. Poł kopy basni a tři basnički dźěćom a dźědam, dźowkam a wowkam [Reimerei und Abenteuer. Ein halbes Schock Gedichte und drei Märlein, den Kindern und Opas, den Töchtern und Omas], Bautzen 1985; Ty porno mi. Tajke a wonajke basnje [Du mein Gegenüber], Bautzen 1988; Gegen den großen Popanz, Berlin/Weimar 1990; mit Johann P. Tammen (Hg.), Aus jenseitigen Dörfern. Zeitgenössische sorbische Literatur, Bremerhaven 1992; Kołbas [Wurst], Bautzen 1994 (UA 1988); Suki w zakach. Basnje, basnje-njebasnje, přebasnjenja [Knoten in den Taschen], Bautzen 1998; die unerheblichkeit berlins. Texte aus den Neunzigern, München 2002; Die wendische Schiffahrt. Tragikgroteske in fünf Bildern, mit zwei Zwischenspielen und einem Epilog, Bautzen 2004 (UA 1994); Kim Broiler, Bautzen 2004 (UA 1996); (Hg.), Das Meer. Die Insel. Das Schiff. Sorbische Dichtung von den Anfängen bis zur Gegenwart, Heidelberg 2004; Erinnerung an eine Nacht im Freien. Gedichte, Klagenfurt 2009; Podomk. Basnje a druha nadoba z dwanatka lět [Hausrat], Bautzen 2010; Nach Morau, nach Krokau. Gereimtes und Ungereimtes für Kinder und Enkel, Klagenfurt 2011; Gedichte, hrsg. von Peter Handke, Berlin 2013; Im Filter des Gedichts. Essays, Gespräche, Notate/Přez křidu basnje. Eseje, rozmołwy, nastawki, hrsg. von Ruth Thiemann/Franz Schön, Bautzen 2013; Der zweiseitige Beitrag. Prosastücke/Wěsty dwustronski přinošk. Pěše rěče, Bautzen 2015; Windei in der Wasserhose des Eisheiligen. Gedichte und Schmungks, Leipzig 2015; Zymny kut. Basnje a smorženki. Z dodawkom čěskeje poezije Kyrkonošow [Kaltes Eck], Bautzen 2016.
Literatur Michael Gratz, Sprachspiel gegen Bewußtseinsbesetzung. Eine andere politische Dichtung aus der DDR, in: Diskussion Deutsch 22/1991, H. 122, S. 606-618; Ewout van der Knaap, Die Produktivität der Sprachgrenze. Zur deutschsprachigen Lyrik von Kito L. in den siebziger und achtziger Jahren, in: Walter Koschmal (Hg.), Perspektiven sorbischer Literatur, Köln/Weimar/Wien 1993, S. 247-263; Christian Prunitsch, Sorbische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Untersuchungen zur Evolution der Gattung, Bautzen 2001; Franc Šěn, Kito L. Personalna bibliografija. Personalbibliographie, Bautzen 2018; Walter Koschmal, Der Dichter - Kito L. - dazwischen, Bautzen 2018; Walter Schmitz, Kito L. - Dichter eines kleinen Volkes?, in: Lětopis 66/2019, H. 2, S. 4-24. – DBA III.
Porträt Kito L., Klaus Morgenstern, 1991, Fotografie, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Abteilung Deutsche Fotothek (Bildquelle).
Juliane Rehnolt
16.11.2021
Empfohlene Zitierweise:
Juliane Rehnolt, Artikel: Kito Lorenc,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/28201 [Zugriff 2.11.2024].