Karl Eduard Vehse
V. war ein bedeutender Archivar, der wichtige konzeptionelle Vorschläge zur Entwicklung des sächsischen Archivwesens vorlegte. Als produktiver Historiker und Publizist fand er Anschluss an die demokratischen und emanzipatorischen Strömungen seiner Zeit. – V. wurde in Freiberg geboren, wo er das Gymnasium und für ein Jahr die Bergakademie besuchte. 1820 bis 1824 studierte er in Leipzig und Göttingen Rechtswissenschaft sowie Geschichte und wurde 1825 in Leipzig mit einer Abhandlung über die sächsisch-hessische Erbverbrüderung promoviert. V. strebte anfangs eine akademische Karriere an, entschied sich dann jedoch für die Archivlaufbahn, wurde 1825 Akzessist im sächsischen Geheimen Archiv und im folgenden Jahr Geheimer Archivsekretär. Als Archivar bewältigte V. ein erstaunliches Arbeitspensum. Beauftragt mit der Erschließung der Urkunden des Geheimen Archivs, fertigte er bis 1834 rund 10.000 Regesten an, die bis heute ihren Wert behalten haben. Dass er trotz herausragender fachlicher Leistungen nicht mit der Leitung des 1834 gegründeten Sächsischen Hauptstaatsarchivs betraut wurde, empfand V. als schwere Zurücksetzung. In einer persönlichen Krise nach dem Tod seiner zweiten Tochter (1834) und seiner Frau (1837) schloss er sich der Sekte um den Dresdner Prediger Martin Stephan an, verließ Ende 1838 seine Stelle im Hauptstaatsarchiv und wanderte mit Stephan und dessen Anhängern in die USA aus. Nach der Rückkehr nach Dresden Anfang 1840 bewarb sich V. mehrfach vergeblich um eine Wiedereinstellung im Hauptstaatsarchiv. Ende 1848 reichte er eine Denkschrift über dessen Reorganisation ein und schlug vor, das Archiv für historische und politische Forschungen im Interesse der Wissenschaft und der Aufklärung des Volks zu öffnen und als Ausbildungsstätte für angehende Staatsbeamte zu nutzen. Als Voraussetzung dafür forderte V. die lückenlose Zentralisierung der noch in den Behörden vorhandenen Archivbestände im Hauptstaatsarchiv. Ferner wies er auf wichtige Forschungsdesiderate zur neueren sächsischen Geschichte hin und betonte die Notwendigkeit, die Leitung des Hauptstaatsarchivs einem Historiker-Archivar anzuvertrauen. V.s von den Idealen des Vormärz und der Revolution von 1848 erfüllte Denkschrift stellt einen wegweisenden Vorschlag zur Reorganisation des sächsischen Archivwesens dar, von dem später vieles Wirklichkeit wurde. Als zukunftsorientiert erwiesen sich auch V.s Ansichten über die Ordnung von Archivbeständen. Im Unterschied zu vielen anderen Archivaren, die noch lange am Pertinenzprinzip als Ordnungssystem festhielten, erkannte V. bereits Mitte der 1830er-Jahre den Grundgedanken des Provenienzprinzips, das sich erst um 1900 im Archivwesen allgemein durchsetzen sollte. – Als Historiker und Literat war V. überaus produktiv. 1829 veröffentlichte er eine Geschichte Kaiser
Ottos I., die mehrere Auflagen erlebte. Fünf Jahre später legte er eine synchronoptische Darstellung der Weltgeschichte in 60 Tafeln vor, die Politik- und Kulturgeschichte gleichermaßen berücksichtigte. In den 1840er-Jahren fand V. Anschluss an die Opposition des Vormärz, unterhielt Kontakte zu Arnold Ruge und
Hermann Franck und begegnete später
Heinrich Heine und
Karl Marx. Mit Vorlesungen über die „Lage der Frau in England, den USA, Frankreich und Deutschland“ (die 1842 gedruckt wurden) und dem Plan, eine Bildungseinrichtung für Frauen zu gründen, übte er Einfluss auf die junge Frauenrechtlerin Louise Otto aus. Als V.s Hauptwerk gilt die 48-bändige „Geschichte der deutschen Höfe“, die ab 1851 im Verlag von Hoffmann und Campe in Hamburg erschien. Mit seiner demokratischen Grundposition, der kritischen Schilderung der Höfe und des Adels sowie dem reichen Stoff an Personalien und Ereignissen fand V.s Werk begeisterte Leser. Heinrich Heine sah in ihm sogar den „Anfang“ einer „ordentlichen Nationalgeschichte“ der Deutschen. Viel unfreundlicher war die Aufnahme von V.s Werk bei konservativen Historikern und den nachmärzlichen Regierungen. Mehrere Bände der „Geschichte der deutschen Höfe“ wurden verboten und V. 1856 in Berlin (wohin er 1853 von Dresden übergesiedelt war) zu einer halbjährigen Haftstrafe verurteilt. Nach seiner Ausweisung aus Preußen lebte er zunächst in der Schweiz, später in Italien, wo er weiter an seinem Hauptwerk arbeitete. Nach zwei Aufenthalten in Freiberg (1862/63, 1868) kehrte V. 1869 ganz nach Sachsen zurück und starb 1870 in Striesen.
Werke De pacto confraternitatis Saxo-Hassiacae, Leipzig 1825; Das Leben und die Zeiten Kaiser Otto’s des Großen aus dem alten Hause Sachsen. Ein historischer Versuch, Dresden 1829; Tafeln der Geschichte. Die Hauptmomente der äußern politischen Verhältnisse und des innern geistigen Entwicklungsgangs der Völker und Staaten alter und neuer Welt, Dresden 1834; Die Stephan’sche Auswanderung nach Amerika, Dresden 1840; Über die gesellige Stellung und die geistige Bildung der Frauen in England, Amerika, Frankreich und vornehmlich in Deutschland, Dresden 1842; Die Weltgeschichte aus dem Standpunkte der Cultur und der nationalen Charakteristik, 2 Bde., Dresden 1842; „Aus der Hölle heraus!“ Krieg oder Frieden mit Frankreich? Der Krieg der Armen und Reichen, die Geldmacht und ihr Sturz, Dresden/Leipzig 1848; Shakespeare als Protestant, Politiker, Psycholog und Dichter, 2 Bde., Hamburg 1851; Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation, 48 Bde., Hamburg 1851-1860; Die Türken vor Wien und die Unruhen in Ungarn unter Leopold I., 1657-1705, Leipzig [1852]; Rudolf II. zu Prag. Der 30jährige Krieg und der österreichische Adel 1576-1657, Leipzig [1860].
Literatur H. Beschorner, Eduard V., in: Archivalische Zeitschrift 45/1939, S. 290-304 (P); M. Kobuch, Begegnungen Eduard V.s mit Weerth, Heine und Marx im Jahre 1852 und die Datierung eines Marx-Briefes, in: Marx-Engels-Jahrbuch 8/1985, S. 268-286; ders., Eduard V. (1802-1870). Aspekte seines Wirkens als Demokrat, Historiker und Archivar, in: Archivmitteilungen 35/1985, S. 31-36; ders., Geschichte und Geschichtsschreibung Sachsens im Urteil Eduard V.s, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 13/1986, S. 188-219; K. Wensch, Die Abstammung des Archivars und Historikers Carl Eduard V. (1802-1870), in: Mitteldeutsche Familienkunde 29/1988, S. 145-148; E. Leisering, Die Entstehung der Zettelregesten für die Urkunden des Sächsischen Hauptstaatsarchivs Dresden, in: Archivmitteilungen 41/1991, S. 67-70; H. Kaden, Vom Hörer physikalischer, chemischer und mineralogischer Vorlesungen zum promovierten Juristen, Historiker und Archivar. Der ungewöhnliche Bildungsweg des Freiberger Bergakademisten Carl Eduard V. 1802-1870, Freiberg 2003. – ADB 39, S. 530f.; DBA I.
Porträt Karl Eduard V., L. Assing, 1854, Pastellgemälde, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Portr. Slg/Bildnisschrank/m 8420; Fotografie, um 1860, Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 10707 Sächsisches Hauptstaatsarchiv, Nr. 6445 (Bildquelle).
Jörg Ludwig
6.8.2015
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Ludwig, Artikel: Karl Eduard Vehse,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/3983 [Zugriff 21.11.2024].
Karl Eduard Vehse
Werke De pacto confraternitatis Saxo-Hassiacae, Leipzig 1825; Das Leben und die Zeiten Kaiser Otto’s des Großen aus dem alten Hause Sachsen. Ein historischer Versuch, Dresden 1829; Tafeln der Geschichte. Die Hauptmomente der äußern politischen Verhältnisse und des innern geistigen Entwicklungsgangs der Völker und Staaten alter und neuer Welt, Dresden 1834; Die Stephan’sche Auswanderung nach Amerika, Dresden 1840; Über die gesellige Stellung und die geistige Bildung der Frauen in England, Amerika, Frankreich und vornehmlich in Deutschland, Dresden 1842; Die Weltgeschichte aus dem Standpunkte der Cultur und der nationalen Charakteristik, 2 Bde., Dresden 1842; „Aus der Hölle heraus!“ Krieg oder Frieden mit Frankreich? Der Krieg der Armen und Reichen, die Geldmacht und ihr Sturz, Dresden/Leipzig 1848; Shakespeare als Protestant, Politiker, Psycholog und Dichter, 2 Bde., Hamburg 1851; Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation, 48 Bde., Hamburg 1851-1860; Die Türken vor Wien und die Unruhen in Ungarn unter Leopold I., 1657-1705, Leipzig [1852]; Rudolf II. zu Prag. Der 30jährige Krieg und der österreichische Adel 1576-1657, Leipzig [1860].
Literatur H. Beschorner, Eduard V., in: Archivalische Zeitschrift 45/1939, S. 290-304 (P); M. Kobuch, Begegnungen Eduard V.s mit Weerth, Heine und Marx im Jahre 1852 und die Datierung eines Marx-Briefes, in: Marx-Engels-Jahrbuch 8/1985, S. 268-286; ders., Eduard V. (1802-1870). Aspekte seines Wirkens als Demokrat, Historiker und Archivar, in: Archivmitteilungen 35/1985, S. 31-36; ders., Geschichte und Geschichtsschreibung Sachsens im Urteil Eduard V.s, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 13/1986, S. 188-219; K. Wensch, Die Abstammung des Archivars und Historikers Carl Eduard V. (1802-1870), in: Mitteldeutsche Familienkunde 29/1988, S. 145-148; E. Leisering, Die Entstehung der Zettelregesten für die Urkunden des Sächsischen Hauptstaatsarchivs Dresden, in: Archivmitteilungen 41/1991, S. 67-70; H. Kaden, Vom Hörer physikalischer, chemischer und mineralogischer Vorlesungen zum promovierten Juristen, Historiker und Archivar. Der ungewöhnliche Bildungsweg des Freiberger Bergakademisten Carl Eduard V. 1802-1870, Freiberg 2003. – ADB 39, S. 530f.; DBA I.
Porträt Karl Eduard V., L. Assing, 1854, Pastellgemälde, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Portr. Slg/Bildnisschrank/m 8420; Fotografie, um 1860, Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 10707 Sächsisches Hauptstaatsarchiv, Nr. 6445 (Bildquelle).
Jörg Ludwig
6.8.2015
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Ludwig, Artikel: Karl Eduard Vehse,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/3983 [Zugriff 21.11.2024].