Hugo Gaudig

G. avancierte zum prominentesten sächsischen Reformpädagogen am Anfang des 20. Jahrhunderts. – G. besuchte zunächst eine Dorfschule und dann bis 1879 das Gymnasium in Nordhausen. Anschließend studierte er Theologie, Altphilologie und neuere Sprachen in Halle/Saale, wo er 1883 mit einer Arbeit zu den „Grundprinzipien der Ästhetik Schopenhauers“ zum Dr. phil. promovierte. In Halle sammelte er auch erste pädagogische Erfahrungen als Hilfslehrer und Mitglied des Pädagogischen Seminars der Franckeschen Stiftungen. 1887 wurde G. Oberlehrer am Realgymnasium in Gera. Seine Ernennung zum Rektor der höheren Mädchenschule und des Lehrerinnenseminars der Franckeschen Stiftungen in Halle erfolgte 1896. Vier Jahre später übernahm er das Rektorat der Mädchenschule in Leipzig. Steigende Schülerinnenzahlen veranlassten die Stadt 1907, eine zweite höhere Mädchenschule einzurichten, deren Leitung G. anvertraut wurde. – Die durch das Berliner Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht während der Weimarer Republik initiierte und von G. 1921 in seiner Schule durchgeführte „Pädagogische Woche“ besuchten mehr als 500 reformpädagogisch Interessierte aus dem In- und Ausland. Dies brachte G. und der von ihm geleiteten Bildungseinrichtung hohe Anerkennung in internationalen Schulreformerkreisen ein. Infolgedessen kamen die Schülerinnen nicht nur aus der Leipziger Gegend, sondern auch aus den sächsischen Industriegebieten. Hinzu kamen Töchter mecklenburgischer, ostpreußischer und baltischer Gutsbesitzer sowie Schülerinnen aus Riga (lett. Rīga), Reval (est. Tallinn) und Petersburg (russ. Sankt-Peterburg). – G. und seine Mitarbeiter, darunter Otto Scheibner, Lotte Müller und Waldus Nestler, verstanden sich auf pädagogischem Gebiet als Vorreiter. In seinen Veröffentlichungen verbreitete G. neue Ideen zur Pädagogik, die er auch in die Praxis umsetzte und die als Persönlichkeitspädagogik bzw. als Pädagogik der „freien geistigen Tätigkeit“ und damit als Arbeitsschulbewegung der Gaudigschen Prägung in diesem Fachgebiet Eingang fand. Dabei wurde der Begriff „Arbeitsschulbewegung“ im deutschsprachigen Raum lange Zeit als Synonym für reformpädagogische Initiativen verstanden. – G.s Ansichten hatten bereits vor dem Ersten Weltkrieg die vielschichtigen reformpädagogischen Diskussionen nachhaltig geprägt. Nachdem er mit dem Münchner Schulrat und späteren Universitätsprofessor Georg Kerschensteiner auf dem ersten Kongress für Jugendbildung und Jugendkunde vom 6. bis 8.10.1911 in Dresden eine heftige Debatte um Begründung, Begriff und Inhalt der Arbeitsschule ausgetragen hatte, galt er als einer der Wegbereiter der Schulreformbewegung. – Die einzelnen Verfechter der Arbeitsschulrichtungen unterschieden sich hinsichtlich ihres pädagogischen Begriffs von Arbeit. G. zählte dabei zur sog. bürgerlichen Richtung, die den Bildungswert in der geistig-methodischen Arbeit betonte. In der reformpädagogischen Diskussion konnte sich G. bis 1912 mit seinem auf geistige Tätigkeit gerichteten Arbeitsschulverständnis durchsetzen. Doch blieb sein Einfluss auf die reformpädagogischen Aktivitäten der sächsischen Lehrervereine - abgesehen von nachweislichen didaktischen Impulsen - gering. Die Ursache dafür lag in G.s Überbetonung der systematischen Fachstruktur des Unterrichts, die ihn zu einer scharfen Ablehnung des Gesamtunterrichts - selbst für Grundschulen - veranlasste, indem er diese Unterrichtsform gar als „eine gefährliche Kulturwidrigkeit“ bezeichnete. Hinzu kam seine ablehnende Haltung zur Hochschulausbildung der Volksschullehrerschaft, für die in den basispädagogischen Initiativen in Sachsen gestritten wurde, was letztlich seit 1923 in Dresden und 1924 in Leipzig zum Erfolg führte. – Dessen ungeachtet erwarb sich G. unbestreitbare Verdienste als Unterrichtsreformer. Die Selbsttätigkeit der Lernenden war ihm stets, dem dialektischen Ziel-Inhalt-Mittel-Zusammenhang folgend, methodischer Grundsatz und Basis der didaktisch-methodischen Gestaltung des Unterrichts. Sie galt G. als Kernstück des reformerischen Unterrichtskonzepts der freien geistigen Tätigkeit, um die Selbsttätigkeit und Persönlichkeitsbildung der Schüler zu befördern. Sein zentrales Anliegen zur Überwindung des überwiegend auf den Lehrer zentrierten, von ihm dominierten Frageunterrichts und zur Durchsetzung des Unterrichtsgesprächs war die planmäßige Entwicklung und schrittweise Einführung der Schülerfrage. Im Ergebnis führten diese Bemühungen von G. zu einer dialektischen Wechselwirkung von Lehrer- und Schülertätigkeit. Verbunden mit einer pädagogisch fruchtbaren Atmosphäre resultierte daraus ein kommunikativ-kooperatives Zusammenwirken innerhalb der Schulklasse als Lerngemeinschaft und belegt so die pädagogische Potenz gruppenunterrichtlicher Verfahren im dialektischen Spannungsverhältnis von Individualität und sozialer wie individueller Kooperativität.

Quellen Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (BBF/DIPF), Berlin, Nachlass Hugo G.

Werke Grundprinzipien der Ästhetik Schopenhauers, Diss. Halle/Saale 1883; Didaktische Ketzereien, Leipzig/Berlin 1904, 61925; Didaktische Präludien, Leipzig/Berlin 1909, 31929; Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit, 2 Bde., Leipzig 1917, 31930; Schulreform, Leipzig 1920; Die Idee der Persönlichkeit und ihre Bedeutung für die Pädagogik, Leipzig 1923 (ND Heidelberg 1965); Die Idee der Persönlichkeit und ihre Bedeutung für die Pädagogik, Leipzig 1923.

Literatur S. Prüfer, Hugo G. Beiträge zum 150. Geburtstag des Leipziger Reformpädagogen, Halle 2010; J. Flöter/C. Ritzi (Hg.), Hugo G. Schule im Dienste der freien geistigen Arbeit. Darstellungen und Dokumente, Bad Heilbrunn 2012. – DBA II, III; DBE 3, S. 583f.; NDB 6, S. 94f.

Porträt Hugo G., 1911, Fotografie, Privatbesitz A. Pehnke (Bildquelle); C. Bellach, Hugo G., Fotografie, Digitales Portraitarchiv.

Andreas Pehnke
14.9.2016


Empfohlene Zitierweise:
Andreas Pehnke, Artikel: Hugo Gaudig,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1616 [Zugriff 24.11.2024].

Hugo Gaudig



Quellen Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (BBF/DIPF), Berlin, Nachlass Hugo G.

Werke Grundprinzipien der Ästhetik Schopenhauers, Diss. Halle/Saale 1883; Didaktische Ketzereien, Leipzig/Berlin 1904, 61925; Didaktische Präludien, Leipzig/Berlin 1909, 31929; Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit, 2 Bde., Leipzig 1917, 31930; Schulreform, Leipzig 1920; Die Idee der Persönlichkeit und ihre Bedeutung für die Pädagogik, Leipzig 1923 (ND Heidelberg 1965); Die Idee der Persönlichkeit und ihre Bedeutung für die Pädagogik, Leipzig 1923.

Literatur S. Prüfer, Hugo G. Beiträge zum 150. Geburtstag des Leipziger Reformpädagogen, Halle 2010; J. Flöter/C. Ritzi (Hg.), Hugo G. Schule im Dienste der freien geistigen Arbeit. Darstellungen und Dokumente, Bad Heilbrunn 2012. – DBA II, III; DBE 3, S. 583f.; NDB 6, S. 94f.

Porträt Hugo G., 1911, Fotografie, Privatbesitz A. Pehnke (Bildquelle); C. Bellach, Hugo G., Fotografie, Digitales Portraitarchiv.

Andreas Pehnke
14.9.2016


Empfohlene Zitierweise:
Andreas Pehnke, Artikel: Hugo Gaudig,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1616 [Zugriff 24.11.2024].