Herbert Wehner

W. wuchs - mit einer etwa vierjährigen Unterbrechung, welche die Familie ins Erzgebirge nach Schneeberg und Lößnitz führte - im Dresdner Stadtteil Striesen auf. Seine Eltern waren protestantische Christen und gleichzeitig aktive Sozialdemokraten. W. besuchte die Volksschule und die Realschule Dresden-Neustadt und absolvierte anschließend in der Maschinenfabrik Hille eine Ausbildung zum kaufmännischen Angestellten. Im Januar 1923 trat er der SPD-Jugendorganisation bei, die er jedoch im Herbst des gleichen Jahrs aus Protest gegen die Reichsexekution gegen die Regierung von Erich Zeigner wieder verließ. Statt dessen gründete er eine anarchistische Jugendgruppe. W. verkehrte in Dresden auch in Künstlerkreisen und schloss Bekanntschaften u.a. mit Otto Dix, Otto Griebel und Hans Grundig. Unter W.s Schriftleitung erschienen 1926 drei Ausgaben der Zeitschrift „Revolutionäre Tat“. Von Herbst 1926 bis Frühjahr 1927 lebte er in Berlin bei dem anarchistischen Schriftsteller Erich Mühsam. Er wirkte als Assistent in der Redaktion der Zeitschrift „Fanal“. Nach Dresden zurückgekehrt, war er im Herbst 1927 kurze Zeit als Kontorist bei den Zeiss-Ikon-Werken in Dresden-Striesen beschäftigt. Bereits im Juni 1927 war W. der KPD beigetreten und übernahm schnell wichtige Funktionen, u.a. ab 1928 als hauptamtlicher Bezirkssekretär Ostsachsen der Roten Hilfe; 1929 wurde er als Gewerkschaftssekretär in die Bezirksleitung der KPD Ostsachsen gewählt. 1930/31 war er stellvertretender KPD-Fraktionsvorsitzender im Sächsischen Landtag sowie stellvertretender Bezirksleiter der Partei. In dieser Eigenschaft präsidierte er 1930 dem Dresdner Landesparteitag und leitete in Dresden Kundgebungen, u.a. mit Ernst Thälmann. – Anfang 1931 wurde W. nach Berlin abkommandiert. Im Kampf gegen das NS-Regime wirkte er u.a. in Berlin, Saarbrücken, Paris und Prag. 1934 konnte er ein letztes Mal illegal seine Eltern in Dresden besuchen. 1937 bis 1941 hielt sich W. in Moskau auf, wo er in die stalinistischen Säuberungen verwickelt wurde. Dort übernahm W. den Auftrag, von Schweden aus die KPD in Deutschland wieder aufzubauen. Nach einem Jahr illegalen Aufenthalts in Stockholm wurde er 1942 verhaftet und wegen angeblicher Spionage für die Sowjetunion zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Die KPD schloss ihn unter dem Vorwurf des Verrats aus ihren Reihen aus. Während der Haft sowie bei einem späteren Aufenthalt in Schweden entstanden die Schrift „Selbstbesinnung und Selbstkritik“ (1942) sowie die „Notizen“ (1946), in denen er Rechenschaft ablegte. Hieraus wird deutlich, dass er mit dem Kommunismus gebrochen hatte. 1946 kehrte W. nach Deutschland zurück. In Hamburg trat er im Oktober 1946 der SPD bei und wurde Redakteur der Zeitung „Hamburger Echo“. 1949 kandidierte er erfolgreich für den Deutschen Bundestag (MdB bis 1983) und übernahm bis 1966 den Vorsitz im Bundestagsausschuss für gesamtdeutsche und (ab 1953) Berliner Fragen. 1966 bis 1969 war W. Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen. Als deutschlandpolitischer Spitzenpolitiker der SPD bemühte er sich darum, die Folgen der Teilung Deutschlands für die Menschen zu mildern. Er setzte sich für die Rückkehr der deutschen Kriegsgefangenen, Häftlingsfreikäufe und Familienzusammenführungen ein. In seiner Zeit als stellvertretender Parteivorsitzender (1958-1973) baute W. die Parteiorganisation um und bereitete die Partei auf die Regierungsverantwortung vor. Als SPD-Fraktionsvorsitzender 1969 bis 1983 sorgte der liebevoll bis respektvoll-distanziert „Onkel Herbert“ genannte Dresdner im Zusammenspiel mit seinem ebenfalls aus Dresden stammenden FDP-Kollegen Wolfgang Mischnick für Fraktionsdisziplin. W. war über 33 Jahre hinweg einer der engagiertesten Parlamentarier und ein gefürchteter, scharfzüngiger Debattenredner. Er setzte sich gerade angesichts seiner Erfahrungen mit diktatorischen Systemen für den demokratischen Aufbau seines Lands ein. – Nach seinem Rückzug aus der aktiven Politik 1983 machte sich bald eine Demenzerkrankung bemerkbar. Als er 1985/86 mit seiner Frau Greta auf Vermittlung des Rechtsanwalts Wolfgang Vogel privat letztmalig das Erzgebirge und seine Heimatstadt Dresden besuchte, gab es nur wenige lichte Momente der Erinnerung. W. war zeitlebens und nach seinem Tod scharfen Angriffen von politischen Gegnern und Sensationsjournalisten ausgesetzt. Hinzu kamen Nachstellungen und Verleumdungen des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit. – Nach W. sind u.a. in Hamburg und Dresden Straßen und Plätze benannt. Seit 1998 existiert in Dresden ein Denkmal W.s. Er erfuhr zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, darunter die Ehrendoktorwürde der Hebräischen Universität Jerusalem, die Ehrenbürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg sowie der Hans-Böckler-Preis des Deutschen Gewerkschaftsbunds. In Sachsen avancierte W. für kurze Zeit zu einem der Spitzenpolitiker der KPD. Nach Kurt Schumacher gehörte W. neben Willy Brandt und Helmut Schmidt zu den bedeutendsten SPD-Politikern der Nachkriegszeit. Seine Leitziele waren die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft sowie die Integration der Arbeitnehmerschaft in das demokratische Staatswesen. Sein Erbe wird in Dresden durch die von seiner Witwe Greta gegründete Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung und das Herbert-Wehner-Bildungswerk gepflegt.

Quellen Archiv der sozialen Demokratie, Bonn, Herbert-Wehner-Archiv; Herbert-Wehner-Bibliothek in der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung, Dresden (P).

Werke Selbstbesinnung und Selbstkritik, aufgeschrieben im Winter 1942/43 in der Haft in Schweden, hrsg. von A. H. Leugers-Scherzberg, Köln 1994; Zeugnis. Persönliche Notizen 1929-1942, hrsg. von G. Jahn, Bergisch Gladbach 21985; Wandel und Bewährung. Ausgewählte Reden und Schriften 1930-1967, hrsg. von H.-W. Graf Finckenstein/G. Jahn, Frankfurt/Main/Berlin 1968 (P); Bundestagsreden und Zeitdokumente, hrsg. von E. Selbmann, 2 Bde., Bonn 1970-1978 (P); Christentum und Demokratischer Sozialismus, Freiburg/Breisgau 1985.

Literatur H. Soell, Der junge W. Zwischen revolutionärem Mythos und praktischer Vernunft, Stuttgart 1991; W. C. Thompson, The Political Odyssey of Herbert W., Boulder 1993 (P); M. F. Scholz, Herbert W. in Schweden 1941-1946, Berlin 1997; A. H. Leugers-Scherzberg, Die Wandlungen des Herbert W., Berlin/München 2002; M. Rupps, Troika wider Willen. Wie Brandt, W. und Schmidt die Republik regierten, Berlin 2004 (P); G. Wehner, Erfahrungen. Aus einem Leben mitten in der Politik, hrsg. von C. Meyer für die Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung, Dresden 2004 (P); C. Meyer, Herbert W. Biographie, (im Druck) München 2006 (P). – DBA II, III; DBE 10, S. 376f.

Porträt Fotografie, J. Darchinger, 1958, Bonn, Herbert-Wehner-Bildungswerk e.V. (Bildquelle).

Christoph Meyer
19.12.2005


Empfohlene Zitierweise:
Christoph Meyer, Artikel: Herbert Wehner,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/4076 [Zugriff 22.12.2024].

Herbert Wehner



Quellen Archiv der sozialen Demokratie, Bonn, Herbert-Wehner-Archiv; Herbert-Wehner-Bibliothek in der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung, Dresden (P).

Werke Selbstbesinnung und Selbstkritik, aufgeschrieben im Winter 1942/43 in der Haft in Schweden, hrsg. von A. H. Leugers-Scherzberg, Köln 1994; Zeugnis. Persönliche Notizen 1929-1942, hrsg. von G. Jahn, Bergisch Gladbach 21985; Wandel und Bewährung. Ausgewählte Reden und Schriften 1930-1967, hrsg. von H.-W. Graf Finckenstein/G. Jahn, Frankfurt/Main/Berlin 1968 (P); Bundestagsreden und Zeitdokumente, hrsg. von E. Selbmann, 2 Bde., Bonn 1970-1978 (P); Christentum und Demokratischer Sozialismus, Freiburg/Breisgau 1985.

Literatur H. Soell, Der junge W. Zwischen revolutionärem Mythos und praktischer Vernunft, Stuttgart 1991; W. C. Thompson, The Political Odyssey of Herbert W., Boulder 1993 (P); M. F. Scholz, Herbert W. in Schweden 1941-1946, Berlin 1997; A. H. Leugers-Scherzberg, Die Wandlungen des Herbert W., Berlin/München 2002; M. Rupps, Troika wider Willen. Wie Brandt, W. und Schmidt die Republik regierten, Berlin 2004 (P); G. Wehner, Erfahrungen. Aus einem Leben mitten in der Politik, hrsg. von C. Meyer für die Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung, Dresden 2004 (P); C. Meyer, Herbert W. Biographie, (im Druck) München 2006 (P). – DBA II, III; DBE 10, S. 376f.

Porträt Fotografie, J. Darchinger, 1958, Bonn, Herbert-Wehner-Bildungswerk e.V. (Bildquelle).

Christoph Meyer
19.12.2005


Empfohlene Zitierweise:
Christoph Meyer, Artikel: Herbert Wehner,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/4076 [Zugriff 22.12.2024].