Gertrud Seltmann-Meentzen
S. wird gemeinsam mit ihrer Schwester Charlotte Meentzen zu den bemerkenswertesten und erfolgreichsten Unternehmerinnen des 20. Jahrhunderts in Deutschland gezählt. Beide revolutionierten mit ihrer gemeinsamen Vision die gesamte Kosmetikindustrie und schrieben als Pionierinnen und Wegbereiterinnen der modernen Naturkosmetik mit dem bis heute existierenden Unternehmen „Charlotte Meentzen“ Geschichte. Obgleich S. in der Unternehmensgeschichte weniger präsent ist, war sie es, die nach Charlotte Meentzens frühem Tod die weitere Entwicklung maßgeblich bestimmte. – Die Kenntnisse der beiden Meentzen-Schwestern über die Zusammenhänge der Wirkungen von Pflanzen sind bereits in ihrer Kindheit zu suchen. S.s Vater, der Schriftsteller Theodor Meentzen, verließ 1908 mit seiner Familie die Großstadt Leipzig und begab sich mit ihr in das ländlich gelegene Eisenberg bei Moritzburg, wo er mit seiner Familie auf dem „Eichenhof“, dem Bauernhof seiner Schwiegereltern, lebte. Die beiden Mädchen wuchsen naturnah auf. Ihre kräuterkundige Mutter und Großmutter vermittelten ihnen das Wissen über Heilpflanzen und die Kraft pflanzlicher Wirkstoffe und brachten ihnen auch die Herstellung natürlicher Rezepturen bei. Dieses Interesse an Kräutern und Pflanzen verband sich frühzeitig mit den Ideen der Lebensreformbewegung, die v.a. durch S.s Vater, der der Freidenkerbewegung angehörte, vermittelt wurden. Diese Reformbewegung propagierte Naturnähe, Einfachheit und eine gesunde Lebensweise. Der durch seine Publikationen und damit verbundenen Vortragsreisen in ganz Deutschland, der Schweiz und Österreich erfolgreiche und dadurch vermögend gewordene Vater ermöglichte S. den Besuch der „Hoffmannschen Lehranstalt“ in Radebeul, einer Privatschule für Töchter gebildeter Stände mit Mädchenpensionat. – Die Entwicklung von S. war von Anfang an äußerst zielstrebig. Sie erlernte in der Zeit des Ersten Weltkriegs den Kaufmannsberuf in der Seifen- und Parfümeriebranche, besuchte ein Jahr die Rackowsche Handelsschule in Dresden und legte 1919 ihr Abitur ab. Anschließend absolvierte sie 1920/1921 an der Universität
Innsbruck (Österreich) ein Studium an der Fakultät für Chemie und Pharmazie. – Die Zeit der Inflation und Massenarbeitslosigkeit, die eine große Auswanderungsbewegung der Deutschen nach Übersee zur Folge hatte, traf nach ihrer Eheschließung 1922 auch S. und ihren Ehemann, den Kaufmann
Felix Otto Seltmann. 1924 wanderten beide nach Timbó bei
Blumenau (Brasilien) aus. Ihr Mann leitete in Benedito-Timbó (Brasilien) das dortige Kreiskrankenhaus und die Kreisapotheke. S. arbeitete als Helferin an seiner Seite. 1926 wurde ihr Sohn
Sigismund Seltmann in Brasilien geboren. Zwei Jahre später kam die Familie zurück nach Eisenberg. Bald darauf begann S. eine Berufstätigkeit als Prokuristin bei der Farbenfabrik Otto Baer in Radebeul. Gleichzeitig wandte sie sich mit ihrer Schwester Charlotte wieder der Idee von der natürlichen Schönheit zu. So planten sie gemeinsam eine eigene Firma zu gründen, um aus Pflanzen und Heilkräutern kosmetische Schönheits- und Pflegeprodukte als Naturprodukte selbst herzustellen. Sie erkannten die günstigen Voraussetzungen, die eine Stadt wie Dresden ihnen bot, in der bereits umfassend Aufklärungsarbeit für gesundes Leben und Naturnähe zu verzeichnen war. Man kann davon ausgehen, dass S. von Anfang an gleichermaßen in die Ideenfindung und Verwirklichung der Pläne von Charlotte einbezogen war, ebenso S.s Ehemann. Sie blieb jedoch vorerst im Hintergrund und behielt in Zeiten der höchsten Arbeitslosigkeit ihren sicheren Arbeitsplatz in den Farbenfabriken. – „Unsichtbar“ blieb S. auch nach der Eröffnung des Kosmetiksalons „Charlotte Meentzen - Institut für Schönheitspflege“ am 15.6.1930 in Dresden auf der Prager Straße 44. S. unterstützte Charlotte mit ihrer Erfahrung als Kauffrau. Noch im gleichen Jahr wagten sie gemeinsam den nächsten Schritt mit der Vergrößerung des Unternehmens. Sie errichteten ein „Charlotte Meentzen - Laboratorium für natürliche Kosmetik“, einen ersten kleinen Produktionsbetrieb auf der Prager Straße 24, in einem Seitengebäude des Hinterhofs. Bereits 1931 wurde ein drittes Standbein des Unternehmens mit der Kosmetikschule „Charlotte Meentzen - Schule für natürliche Kosmetik“ in den Geschäftsräumen Prager Straße 44 gegründet. Es darf davon ausgegangen werden, dass S. in diese drei Unternehmungen von Anfang an mit einbezogen war. Sie ging mit der Schwester auch neue Wege der Öffentlichkeitsarbeit, indem sie in den Ferienmonaten gemeinsam Vortragsreisen zum Thema „Naturkosmetik, Schönheit und Gesundheit“ in Seebadeorte unternahmen, wo sie ihre Produkte und die praktische Anwendung durch kosmetische Behandlungen offerierten. Geschäftsfreunde in
Berlin und Chemnitz unterstützten in ihren Drogerien und Apotheken ebenfalls den Verkauf der Meentzen-Produkte, die zunehmend an Nachfrage und Popularität gewannen. – 1936 wurde eine Umstrukturierung des Unternehmens erforderlich, das sich durch den Erfolg vergrößert hatte. S. wurde offiziell Prokuristin in der Firma „Charlotte Meentzen“, außerdem verpachtete Charlotte an ihre Schwester und deren Ehemann die Produktionsfirma „Institut für natürliche Kosmetik“ mit dem Vertrieb auf der Prager Straße 24. S. verließ daraufhin 1936 samt Familie ihren bisherigen Wohnort Moritzburg und zog nach Dresden. Charlotte behielt für sich den Fachbereich mit Kosmetik-Institut und Schule. 1939 war der Produktionsbetrieb bereits so erfolgreich, dass sich Felix Otto Seltmann in Heidenau in einen Pharmazeutischen Betrieb als Teilhaber und Geschäftsführer einkaufen konnte, den er als „Seco-Kräuter-Laboratorium“ eintragen ließ. S. blieb mit ihren Anteilen im Unternehmen der Schwester. – Charlotte und S. zeigten neue, bisher unbekannte Wege in der Schönheitspflege auf, die weit über das bisherige Verständnis ihrer Zeit für dekorative Kosmetik hinausgingen. Sie erforschten eine wissenschaftlich fundierte Hauttypologie, auf deren Basis sie jeweils unterschiedliche Pflege- und Produktserien mit dem Einsatz unterschiedlicher Heilkräuterauszüge als individuelle Hautpflegesysteme entwickelten. Mit diesem bisher in der Kosmetikindustrie unbekannten Konzept erkannten sie jedoch auch die Ganzheitlichkeit für die Schönheitspflege, die weit mehr beinhaltete. Mit ihrem propagierten Grundsatz, sich in seiner eigenen Haut wohl zu fühlen, verbanden sie das Wohlfühlerlebnis einer schönen und gepflegten Haut auf Basis von Heilkräutern und Naturprodukten mit einer gesunden Lebensweise. Es gelang ihnen damit, ein neues Bewusstsein von der Einheit von Körper, Seele, Schönheit und Wohlbefinden in der Schönheitspflege herauszubilden. Eine eigens dafür entwickelte Strategie zur Verbreitung ihrer Ideen mit einem besonderen Behandlungskonzept und Schulungssystem für Kosmetikerinnen führte zu einer raschen Verbreitung ihrer Grundsätze und einem erfolgreichen Vertrieb der selbsthergestellten Produktpalette. Ihre revolutionäre Idee löste einen Trend des Naturbewusstseins in der Kosmetikbranche aus, der bis in die Gegenwart weiterreicht. – Nach Charlotte Meentzens frühem Tod 1940 übernahm S. sofort die Verantwortung für den Weiterbestand der Firma. Ihr Vater Theodor Meentzen trat die Vormundschaft für den Sohn Charlottes,
Geert-Dietrich Meentzen, an und regelte juristisch, dass S. alleinige Geschäftsführerin und je zur Hälfte, gemeinsam mit ihrem Neffen, Eigentümerin des Unternehmens „Charlotte Meentzen“ wurde. S. rettete damit die Firma und sorgte 1941 für die Publikation des bisher noch unveröffentlichten Buchs „Heilkräuter im Dienst der Schönheit“ von Charlotte Meentzen. Sie wandelte ebenfalls 1941 den Namen des „Charlotte Meentzen - Institut für Schönheitspflege“ in die neue Bezeichnung „Charlotte Meentzen - Institut für natürliche Kosmetik“ um, gleichlautend mit dem „Laboratorium für natürliche Kosmetik“. Auch das Ausbildungsprogramm der Fachschule für Kosmetik erweiterte sie durch Hinzunahme der Ausbildung ärztlicher Assistentinnen und Assistenten. 1942 erwarb das Familienunternehmen „Charlotte Meentzen“ von der Industrie- und Handelskammer Dresden die Villa auf der Wiener Straße 36 in Dresden. – Bei den Luftangriffen auf Dresden am 13./14.2.1945 wurden S.s Wohnung, die Villa auf der Wiener Straße sowie das Institut, das Laboratorium und die Schule auf der Prager Straße vollständig zerstört. Auch der Ehemann von S. kam ums Leben. Dennoch wagte sie den Neubeginn. Sie übernahm als Erbin und Geschäftsführerin ihres Ehemanns dessen Firma in Heidenau und sorgte sofort für die weitere Produktion von Ersatzstoffen, Gesundheits- und Arzneimitteln, die dringend benötigt wurden. Die Produktionsschienen von nachkriegswichtigen Erzeugnissen verlegte sie vorerst in diesen kleinen pharmazeutischen Betrieb, der ihre weitere Existenz absicherte. – Gleichzeitig rettete S. aus den Trümmerbergen des Kosmetik-Laboratoriums auf der Prager Straße noch Teile von Maschinen und plante den Neubeginn der Kosmetikherstellung. Ab 1948 begann der Versuch eines ersten kleinen Manufakturbetriebes (drei bis fünf Mitarbeiterinnen) in einem Kellerraum der im Wiederaufbau befindlichen Villa Wiener Straße 36. Ab Januar 1949 verlagerte S. die Bestände der Meentzen-Heilkräuterkosmetik aus dem Betrieb in Heidenau in die noch im Wiederaufbau befindliche Villa Wiener Straße 36 und gründete an diesem Standort erneut eine Kosmetik-Firma unter dem neuen Firmennamen „Charlotte Meentzen KG, Kräuter-Vital-Kosmetik Dresden“. Mit dem weiteren Ausbau der Villa und dem Nebengebäude verblieb die Produktion des Handelsunternehmens auf der Wiener Straße 36 und konnte in den Folgejahren erweitert werden. Gleichzeitig begann S. 1949/1950 auch die Privatschule wieder aufzubauen, vorerst ebenfalls in einem Raum der Villa, später verlegte sie die Privatschule „Charlotte Meentzen - Schule für natürliche Kosmetik“ auf den Weißen Hirsch. S. selbst legte nochmals eine zertifizierte Ausbildung als Kosmetikerin ab, als fachlichen Berechtigungsnachweis für das Führen von Privatschule und Betrieb, aber auch, um der immer wieder drohenden Verstaatlichung des Unternehmens entgegenzuwirken. Als 1964 eine staatliche Direktive mit dem Verbot aller Privatschulen in der DDR erlassen wurde, musste auch ihre Privatschule schließen. – Unter der Leitung von S. entwickelte sich die Produktionsfirma auf der Wiener Straße 36 in der DDR als privates mittelständisches Unternehmen erfolgreich zum Marktführer in der Kosmetikbranche. Ab Mitte der 1960er-Jahre erfolgte der nächste staatliche Eingriff in die erfolgreiche Unternehmensführung. Das bisher durch S. als Komplementärin geführte Unternehmen wurde gezwungen, seine Eigenständigkeit aufzugeben. Das Unternehmen wurde vom Staat in einen „Betrieb mit staatlicher Beteiligung“ umgewandelt. Die Entscheidungsmöglichkeiten von S. wurden mit dieser halbstaatlichen Betriebsform eingeschränkt, der Staat nahm durch den Wirtschaftsrat des Bezirks Dresden verstärkt Einfluss auf Planung und Leitung der Unternehmensführung. Als 1972 fast alle in Privatbesitz verbliebenen Unternehmen in der DDR verstaatlicht wurden, traf die damit verbundene Zwangsenteignung auch S. und ihr Unternehmen. Die bisherige Markenführung unter dem Label „Charlotte Meentzen“ wurde verboten. Der Firmenname des Volkseigenen Betriebes wurde in „VEB Kräutervital-Kosmetik Dresden“ geändert. Nur die zwei Söhne der beiden einstigen Gründerinnen durften weiterarbeiten. Geert-Dietrich Meentzen als Betriebsleiter, Sigismund Seltmann als Repräsentant im Außendienst. Die bisherige Firmeninhaberin S. musste aus dem Betriebsgeschehen ausscheiden. Sie verließ, zutiefst enttäuscht, Sachsen und siedelte aus der DDR in die BRD über, zuerst zur Familie ihrer Tochter
Felizitas nach
Hannover und später nach
Betzigau, wo sie 1985 starb. – Nach der politischen Wende 1989/1990 wurde das Unternehmen von Geert-Dietrich Meentzen, Sigismund Seltmann sowie einem Enkel von S. reprivatisiert. Unter dem Namen „Charlotte Meentzen Kräuter-Vital-Kosmetik-GmbH“ lebt somit - seit 2002 mit dem Produktionsstandort Radeberg - die Philosophie und das Vermächtnis von S. und ihrer Schwester Charlotte weiter.
Quellen Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Historische Adressbücher Leipzig 1890-1930, Dresden und Moritzburg 1909-1944; Privatarchive und Sammlungen der Familien Meentzen und Seltmann; Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 11821 Industrie und Handelsbank der DDR, Bezirksdirektion Dresden, 3.04.1. Firmenakten, Nr. 1170f. Charlotte Meentzen KG Dresden, Kräuter und Vitalkosmetik, 11384 Landesregierung Sachsen, Ministerium für Wirtschaft, Nr. 4524 Anfrage der Fa. Seltmann & Co. in Heidenau zur Registrierung und Zulassung als Arzneimittelbetrieb.
Literatur Theodor Meentzen, Aus dem Leben eines Sozialisten und Freidenkers, Moritzburg 1963 [Ms., Privatbesitz]; Hanns Henning Herzog, Hörfunkinterview Gertrud Seltmann-Meentzen, 1975; Renate Schönfuß-Krause, Dresden wurde zur Wiege der Naturkosmetik - Charlotte Meentzen und Gertrude S., in: die Radeberger 30/2020, Nr. 8, S. 9, ebd. Nr. 9, S. 8.
Porträt Gertrud S., undatierte Fotografie, Privatarchiv der Familien Meentzen/Seltmann (Bildquelle).
Renate Schönfuß-Krause
9.3.2020
Empfohlene Zitierweise:
Renate Schönfuß-Krause, Artikel: Gertrud Seltmann-Meentzen,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/29156 [Zugriff 2.11.2024].
Gertrud Seltmann-Meentzen
Quellen Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Historische Adressbücher Leipzig 1890-1930, Dresden und Moritzburg 1909-1944; Privatarchive und Sammlungen der Familien Meentzen und Seltmann; Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 11821 Industrie und Handelsbank der DDR, Bezirksdirektion Dresden, 3.04.1. Firmenakten, Nr. 1170f. Charlotte Meentzen KG Dresden, Kräuter und Vitalkosmetik, 11384 Landesregierung Sachsen, Ministerium für Wirtschaft, Nr. 4524 Anfrage der Fa. Seltmann & Co. in Heidenau zur Registrierung und Zulassung als Arzneimittelbetrieb.
Literatur Theodor Meentzen, Aus dem Leben eines Sozialisten und Freidenkers, Moritzburg 1963 [Ms., Privatbesitz]; Hanns Henning Herzog, Hörfunkinterview Gertrud Seltmann-Meentzen, 1975; Renate Schönfuß-Krause, Dresden wurde zur Wiege der Naturkosmetik - Charlotte Meentzen und Gertrude S., in: die Radeberger 30/2020, Nr. 8, S. 9, ebd. Nr. 9, S. 8.
Porträt Gertrud S., undatierte Fotografie, Privatarchiv der Familien Meentzen/Seltmann (Bildquelle).
Renate Schönfuß-Krause
9.3.2020
Empfohlene Zitierweise:
Renate Schönfuß-Krause, Artikel: Gertrud Seltmann-Meentzen,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/29156 [Zugriff 2.11.2024].