Georg Gradnauer
Georg Gradnauer gilt als Begründer des Freistaats Sachsen 1918/1919 und damit als maßgeblicher Befürworter und Initiator einer parlamentarischen Demokratie auf föderaler Grundlage. – Gradnauer stammte aus einer kulturell assimilierten jüdischen Kaufmannsfamilie in Magdeburg. Väterlicherseits war die Familie Ende des 18. Jahrhunderts aus
Grodno (Russland) nach Preußen eingewandert. Der „ostjüdische“ Flüchtling
Levi Grodno (der Familienname orientierte sich am Herkunftsort) ließ sich in der preußischen Provinz Sachsen nieder und nannte sich später in „Grattenauer“ bzw. „Gradnauer“ um. Seine schulische Prägung erhielt Levis Enkelsohn Gradnauer auf dem Magdeburger Klostergymnasium, das er wegen des sozialen Aufstiegs der Eltern 1876 bis 1885 besuchen konnte. Bereits als Gymnasiast gründete der literarisch Begabte mit den später bekannt gewordenen Schriftstellern Johannes Schlaf und Hermann Conradi den Schülerklub „Bund der Lebendigen“, der sich gegen „Philistertum“ und die Beschränkung „freien Denkens“ in der Schule wandte. In diesem Geiste veröffentlichte Gradnauer seit 1884 erste Artikel in der Freidenker-Zeitschrift „Menschenthum“. Macht und Würde des Individuums standen auch im Zentrum erster Gedichte, die in dem von Carl Henckell und Hermann Conradi 1885 herausgegebenen Band „Jungdeutschland“ erschienen. Sein Judentum begriff Gradnauer bis zur evangelischen Taufe (ca. 1888) nur mehr als kulturelle Tradition, nicht aber als Glaubenslehre. – Gradnauers literarische Interessen traten auch noch mit der Auswahl der Studienfächer zu Tage: Nach dem Abitur begann er 1885 das Studium der Geschichte, Literatur und Philosophie zuerst in
Genf (Schweiz), dann in
Berlin,
Marburg und
Halle/Saale. In Halle wurde er 1889 bei Gustav Droysen, dem Sohn Johann Gustav Droysens, mit einer staatsrechtlich orientierten Arbeit über den französischen Revolutionspolitiker Honoré Gabriel de Riqueti comte de Mirabeau zum Dr. phil. promoviert. Seine literarischen Neigungen waren jetzt endgültig hinter politischen und staatsrechtlichen Interessen zurückgetreten. In seiner Dissertation kennzeichnete und würdigte Gradnauer das von Mirabeau entworfene System der konstitutionellen Monarchie, das ein Gleichgewicht von Legislative und Exekutive beinhaltete und in dem der König gegenüber der Nationalversammlung ein Vetorecht besaß. Wie Mirabeau betrachtete auch Gradnauer noch zu dieser Zeit das Privateigentum als unantastbar. – Gradnauers Bruch mit dem Liberalismus und die Hinwendung zur Sozialdemokratie als sozialistischer Bewegung erfolgte im Zuge der Ableistung seiner Militärdienstzeit als Einjährig-Freiwilliger 1889/1890 und des spektakulären Endes des Sozialistengesetzes 1890. Wie andere junge idealistisch gesinnte Akademiker auch wandte er sich noch im selben Jahr der wieder legalisierten Sozialdemokratie zu, für die er ab 1.10.1890 beim Riesaer „Volksfreund“ eine erste Redaktionsstelle übernahm. In Dresden avancierte er bereits zwei Monate später zum leitenden Redakteur der „Sozialistischen Arbeiterzeitung“ (SAZ) und zum einflussreichen Lokalpolitiker. Als er 1893 erstmals in Dresden (erfolglos) für den Reichstag kandidierte, wurde er mit antisemitischer Hetze konfrontiert und physisch angegriffen, zudem in dieser Zeit in Dresden mehrfach juristisch verfolgt. Konnte 1893 der Kandidat der antisemitischen Reformpartei den Wahlkreis Dresden links der Elbe direkt gewinnen, erwarb Gradnauer 1898 und trotz erneuter massiver antisemitischer Hetze das Dresdner Reichstagsmandat, das er 1903 mit großer Mehrheit verteidigen konnte. – Die 1901 mit der Protestantin und sozialdemokratischen Frauenrechtlerin
Anna Vogel eingegangene Ehe war eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Anna Gradnauer engagierte sich auch nach der Trauung politisch und avancierte 1919 zu einer der ersten (unbesoldeten) Stadträtinnen in Dresden. Gradnauer selbst löste sich nach der Hochzeit von jeglicher Religion und wurde konfessionslos. – Bereits 1897 hatte Wilhelm Liebknecht, der Chefredakteur des SPD-Zentralorgans „Vorwärts“, den begabten Dresdner Journalisten Gradnauer als politischen Redakteur nach Berlin geholt. Hier wirkte er gemeinsam mit Kurt Eisner im reformsozialistischen Sinne und bot u.a. Eduard Bernstein eine publizistische Plattform. Weder die SPD-Linke, hier v.a. Rosa Luxemburg, mit der er sich 1898 politisch überworfen hatte (sie war damals Chefredakteurin an der Dresdner SAZ), noch das marxistische Zentrum der Partei, wollten Gradnauers und Eisners Kurs länger akzeptieren. Im dadurch ausgelösten „Vorwärts-Konflikt“ wurde er 1905 mit der Redaktionsmehrheit vom SPD-Parteivorstand unter August Bebels Führung aus der Redaktion gedrängt. – Gradnauer kehrte anschließend nach Dresden zurück und übernahm im April 1906 die Chefredaktion des SAZ-Nachfolgers, der „Dresdner Volkszeitung“ (DVZ), die er gemeinsam mit gleichgesinnten Redakteuren wie Emil Nitzsche, Edgar Hahnewald oder Robert Grötzsch in reformsozialistische Bahnen lenken konnte. Nachdem er Anfang 1907 im Ergebnis der Reichstagswahlen sein Dresdner Mandat an den Nationalliberalen Rudolf Heinze verloren hatte, widmete er sich verstärkt der publizistischen Arbeit und der Vortragstätigkeit. In kurzer Zeit entstanden so die Werke „Verfassungswesen und Verfassungskämpfe“ und „Wahlkampf! Die Sozialdemokratie und ihre Gegner“. Vornehmlich in seinem Buch über das deutsche Verfassungswesen trat Gradnauer entschieden für eine Demokratisierung und Parlamentarisierung ein. Bei den Reichstagswahlen 1912 konnte er den Dresdner Wahlkreis erneut gewinnen. Im Reichstag selbst trat er für seine Fraktion als Außenpolitiker, Etatredner und Wahlrechtsexperte hervor, und bereits 1902 warnte er im Plenum vor einem (künftigen) Genozid an den Armeniern im damaligen Osmanischen Reich. – Im Ersten Weltkrieg gehörte der Dresdner SPD-Politiker Gradnauer zu den Befürwortern der „Burgfriedenspolitik“ der SPD-Mehrheit. In der Folge lieferte er sich mit Gegnern dieses Kurses, wie dem Pirnaer Reichstagsabgeordneten Otto Rühle, auch heftige öffentliche Auseinandersetzungen. Im Zuge der Fraktionsspaltung rückte er im Januar 1916 als begabter Redner in den Vorstand der SPD-Reichstagsfraktion auf. Im Plenum trat er für eine Kriegskreditbewilligung, aber gegen Annexionen und für eine Vermittlung durch den US-Präsidenten Woodrow Wilson auf. In Dresden und Sachsen engagierte er sich weiterhin und mit Nachdruck für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Bekannten Vertretern des rechten Parteiflügels (z.B. Ernst Heilmann und Heinrich Cunow), die das System der parlamentarischen Demokratie jetzt als Ausfluss britisch-plutokratischen Geists denunzierten, widersprach er öffentlich. Mit seiner Wahl in den dreiköpfigen Landesvorstand der MSPD Sachsen im Februar 1917 galt er nunmehr als einer der bekanntesten und einflussreichsten sächsischen SPD-Politiker und als entscheidender Verbindungsmann zwischen Berlin und Dresden. – Von der Anfang November 1918 ausbrechenden Revolution zeigte Gradnauer sich anfangs überrascht. Abgesehen von einem kurzen Intermezzo als Mitglied eines Dresdner Arbeiter- und Soldatenrats (9./10.11.1918) trat er vorerst in den Hintergrund. Erst in der am 15.11.1918 gemeinsam mit der USPD gebildeten sächsischen Revolutionsregierung - dem Rat der Volksbeauftragten - übernahm Gradnauer mit dem Justizressort maßgeblich Verantwortung. In den entscheidenden Revolutionswochen plädierte er - anders als die USPD und Teile seiner eigenen Partei - für den Fortbestand Sachsens als Glied eines unitarischen Bundesstaats. Im Gegensatz zu Richard Lipinski (USPD), seinem einflussreichen Gegenspieler in der Regierung, trat er für eine rasche Einberufung einer deutschen und einer sächsischen „Nationalversammlung“ ein. In beiden Fragen vermochte Gradnauer Mehrheiten zu organisieren. – Als Listenführer der MSPD für den neuen Wahlkreis Dresden-Ostsachsen zu den Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung am 19.1.1919 erzielte Gradnauer die absolute Mehrheit der Stimmen und damit eines der besten Ergebnisse reichsweit. Jedoch gehörte der Dresdner Abgeordnete nur bis April 1919 dem deutschen Parlament an. Die Entscheidung gegen das Mandat hing ganz wesentlich mit der Entwicklung in Sachsen zusammen: Nach dem Ausscheiden der USPD aus der sächsischen Regierung im Januar 1919 hatte Gradnauer dort als Minister für Inneres und Äußeres und als Vorsitzender der Revolutionsregierung die Führungsrolle übernommen. – Stärker noch als auf Reichsebene prägte Gradnauer das Verfassungsleben in Sachsen: An der Gestaltung des „Vorläufigen Grundgesetzes für den Freistaat Sachsen“ Ende Februar 1919 war er maßgeblich beteiligt. Der Prozess der Parlamentarisierung und Demokratisierung Sachsens, für den er jahrzehntelang gestritten hatte, konnte mit diesem Gesetz als verwirklicht gelten; die Annahme der sächsischen Landesverfassung (1920) bestätigte diese Entwicklung. Als „selbstbewusster Föderalist“ (Klaus Schönhoven, Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik) hat Gradnauer die Neugestaltung Deutschlands von einem fürstlichen zu einem unitarischen Bundesstaat mitgetragen - und das hieß Abgabe von Landeskompetenzen auf den Gebieten der Verteidigung, der Außenpolitik und des Verkehrs. Gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der süddeutschen Länder wehrte er sich jedoch gegen eine zu starke „Verreichlichung“ in der Steuergesetzgebung. In territorialer Hinsicht gingen seine Vorstellungen dahin, von einem möglichen Zerfall Preußens und der Thüringer Kleinstaaterei zu profitieren und Sachsen tendenziell in den Grenzen von vor 1815 wiederherzustellen. Diese Überlegungen waren jedoch aufgrund der Weiterexistenz Preußens und der Bildung eines Thüringer Staats (1920) zum Scheitern verurteilt. Selbst die Inkorporation des neuen Freistaats Sachsen-Altenburg misslang. – Am 14.3.1919 wählte die sächsische Volkskammer Gradnauer zum ersten Ministerpräsidenten des Freistaats Sachsen. Obwohl die vorangegangenen Volkskammerwahlen vom 2.2.1919 eine Mehrheit für die Sozialdemokratie (MSPD und USPD) von ca. 58 Prozent der Stimmen erbracht hatten, kam eine Koalitionsregierung nicht zustande. Die Verhandlungen scheiterten v.a. an der Forderung der USPD, den Arbeiter- und Soldatenräten legislative Kompetenzen zuzusprechen. Weite Teile der MSPD mit Gradnauer an der Spitze plädierten hingegen für die Durchsetzung eines rein parlamentarischen Systems. So führte Gradnauer zuerst eine MSPD-Minderheitsregierung, die mit der Verabschiedung des Volksschulgesetzes und der Einrichtung einer „Landesstelle für Gemeinwirtschaft“ Gestaltungswillen bewies. Im Oktober 1919 setzte er in der MSPD-Fraktion eine sozialliberale Koalition mit der DDP durch. Dieses favorisierte Bündnis betrachtete er als historischen Brückenschlag zwischen demokratischer Arbeiterschaft und demokratischem Bürgertum. – In der sächsischen Volkskammer warb Gradnauer als Ministerpräsident im Laufe des Jahrs 1919 immer wieder für die Regierungsform der parlamentarischen Demokratie. Hier wandte er sich gegen jede Form von diktatorischer Herrschaft, worunter er v.a. die Durchsetzung einer „Diktatur des Proletariats“ verstand. Der „Demokratielehrer“ (Mike Schmeitzner) setzte sich insbesondere mit der Verächtlichmachung der parlamentarischen Demokratie als bloßer „bürgerlicher Demokratie“ auseinander. Demgegenüber betonte Gradnauer die Chancen einer „modernen Demokratie“ auf der Grundlage eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts, in der Kompromisse und Mehrheitsbeschlüsse zwingend notwendig seien. Gradnauer zufolge war jeder Absolutheitsanspruch abwegig. – Politische Unruhen bekam die Regierung Gradnauer letztlich nur mit militärischen Mitteln in den Griff: Dem politisch motivierten Generalstreik der USPD in Leipzig konnte die Regierung Anfang März 1919 noch mit Verhandlungsgeschick erfolgreich entgegentreten. Die Ermordung seines Weggefährten und Militärministers Gustav Neuring (MSPD) durch Kriegsinvaliden und Linksradikale am 12.4.1919 in Dresden und die dadurch entstandene Bedrohungslage glaubte Gradnauer nicht mehr anders als durch die Verhängung des Belagerungszustands über Dresden und Sachsen bewältigen zu können. Die „Politik der harten Hand“ vermochte jedoch auch in Chemnitz im August 1919 blutige Auseinandersetzungen mit dem Militär nicht zu vermeiden. – Im Zuge des rechtsgerichteten Kapp-Lüttwitz-Putschs, der in Sachsen Hunderte Tote forderte, trat Gradnauer im April 1920 vom Amt des Ministerpräsidenten zurück. Sein unberechtigtes Vertrauen in führende Militärs des Wehrkreiskommandos IV (Dresden) und die Unterschätzung des Umsturzversuchs hatten seine eigene Integrität erschüttert. Hinzu kam der durchaus berechtigte parteiinterne Vorwurf, in der Verwaltung des Freistaats zu wenige aus der Monarchie überkommene Spitzenbeamte ausgewechselt zu haben. So erschien der Rücktritt - auch aus gesundheitlichen Gründen - unvermeidlich. – Gradnauers Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten, Wilhelm Buck (MSPD), ernannte ihn zum Ministerialrat im sächsischen Arbeitsministerium mit dem Dienstsitz in Berlin, wo er zugleich einer der Stellvertreter der Bevollmächtigten zum Reichsrat war. Überdies zog Gradnauer - diesmal auf der Reichsvorschlagsliste der Partei - als Abgeordneter erneut in den Reichstag ein. Der 1920 eingesetzten Kommission zur Erarbeitung eines neuen Parteiprogramms der MSPD gehörte er als Mitglied an. Seinem Einfluss war es mit zuzuschreiben, dass das 1921 verabschiedete „Görlitzer Programm“ eindeutig reformsozialistische Züge trug und sich klar zur demokratischen Republik bekannte. Zugleich warb er hier für eine Weiterentwicklung der MSPD von der Klassen- zur Volkspartei. Dass er immer noch zum MSPD-Spitzenpersonal zählte, zeigte sich im Frühjahr 1921: Für ein halbes Jahr, von Mai bis Oktober 1921, gehörte er als Reichsminister des Innern dem ersten Kabinett Joseph Wirths an. In diesem Amt konnte er jedoch nur wenige politische Akzente setzen. Entschlossenheit bewies Gradnauer bei der Handhabung des Republikschutzgesetzes, das infolge rechtsterroristischer Anschläge auf bekannte demokratische Politiker verabschiedet worden war: Er versuchte, rechtsradikales Schrifttum zu unterbinden, wurde aber im Gegenzug mit antisemitischer Hetze vornehmlich aus Bayern überzogen. Die Teilung Oberschlesiens durch die Entente zwang die Reichsregierung zu einem vorzeitigen Rücktritt. – Gradnauer wechselte anschließend zurück in den sächsischen Staatsdienst und war bis zum Eintritt in den Ruhestand im Februar 1932 als Gesandter und stimmführender Bevollmächtigter der sächsischen Regierung in Berlin und als Mitglied des Reichsrats tätig. In dieser Stellung setzte er sich mit einigem Erfolg für die Durchsetzung spezifischer sächsischer Interessen ein, so v.a. bei der Vorbereitung von Zollgesetzen und Handelsverträgen des Reichs und bei der Einflussnahme auf industrielle Aufträge des Reichs. Seinem diplomatischen Geschick war es mit zu verdanken, dass der im Zuge der Reichsexekution gegen den Freistaat 1923 bestellte Reichskommissar Rudolf Heinze innerhalb weniger Tage durch den neu gewählten Ministerpräsidenten Alfred Fellisch ersetzt werden konnte. Die breite Anerkennung, die Gradnauer als Gesandter selbst in der bürgerlichen Mitte erfuhr, korrespondierte mit einer Ablehnung durch die Flügelparteien KPD und NSDAP, die besonders ab 1930 versuchten, ihn per Landtagsbeschluss aus dem Amt zu drängen. Ungeachtet eines Scheiterns dieser Bemühungen beschädigten die populistischen wie antisemitischen Kampagnen der NSDAP sowohl das Amt als auch die Person des Gesandten. – Im Zuge der nationalsozialistischen Machtübernahme erfuhr Gradnauer besonders aus rasseideologischen Gründen Ausgrenzung und Verfolgung. Eine in der Forschung (z.B. Schumacher, S. 242) häufig behauptete Verhaftung 1933 wurde von ihm selbst 1945/1946 nicht bestätigt. Noch 1933 erfolgte jedoch die Kürzung seiner Ruhestandsbezüge; deren komplette Sperrung scheiterte, da er nach einem Frankreich-Aufenthalt bei seinen emigrierten Söhnen 1934 nach Deutschland zurückkehrte. Ausgrenzung und Demütigung führten 1940 zum frühen Tod seiner Frau. 1941 musste er sein 1933 erworbenes Haus im brandenburgischen
Kleinmachnow zwangsweise verkaufen. Anschließend wurde er in Kleinmachnow in ein sog. Judenhaus einquartiert. Gemildert werden konnten die NS-Schikanen der frühen 1940er-Jahre nur dank der Hilfsbereitschaft und menschlichen Zuwendung des mit ihm befreundeten vormaligen Reichstagspräsidenten Paul Löbe (SPD). Die im Januar 1944 erfolgte Deportation in das
Konzentrationslager Theresienstadt überlebte er - anders als seine Schwester
Jenny - dank des dort für ihn geltenden „Prominentenstatus“. – Im Mai 1945 befreit, siedelte Gradnauer zuerst nach Berlin über, kehrte aber nach der Rückgabe seines Hauses Anfang 1946 nach Kleinmachnow zurück, das jetzt in der SBZ lag. Seine erneute parteipolitische Bindung ist vor diesem Hintergrund einzuordnen: Noch 1945 war Gradnauer der SPD in Berlin beigetreten und wurde - im Gefolge der Vereinigung von SPD und KPD - im April 1946 in Kleinmachnow in die SED übernommen. Mit wichtigen Vertretern der Berliner SPD blieb er gleichwohl bis zu seinem Tod am 18.11.1946 eng verbunden. – Da Gradnauer kurz vor seinem Ableben in das nahe gelegene Krankenhaus St. Hubertus (
Berlin-Zehlendorf) verbracht worden war, nahm sich die Berliner SPD des Toten an und organisierte am 26.11.1946 eine große öffentliche Trauerfeier in
Berlin-Wilmersdorf. Dort wurde auch die Grabstätte eingerichtet. SPD und SED beriefen sich in Nachrufen gleichermaßen auf den Toten. Während die SED kurz nach ihrer Gründung dem „Veteranen der Arbeiterbewegung“, der noch dazu ihr nominelles Mitglied war, die Ehrerbietung nicht verweigern wollte, vermochte sich die SPD mit deutlich größerem Recht auf die Lebensleistung Gradnauers zu berufen. – Nach seinem Tod wurde in Kleinmachnow eine Straße nach ihm benannt, eine Würdigung, die in Dresden bzw. Sachsen bislang nicht erfolgte. Zum 76. Todestag des Politikers, am 18.11.2022, würdigten jedoch der sächsische Ministerpräsident, Michael Kretschmer, und sein Stellvertreter, Staatsminister Martin Dulig, den Freistaat-Gründer und entschiedenen Verfechter der parlamentarischen Demokratie mit der Widmung eines „Gradnauer-Saals“ in der Sächsischen Staatskanzlei in Dresden. Vor und in dem Saal wurden Porträts von Gradnauer angebracht. Eine kleine Ausstellung, die in Kooperation mit dem Sächsischen Staatsarchiv entstand, zeigte im Rahmen der Festveranstaltung Dokumente zum Wirken des Freistaat-Gründers Gradnauer.
Quellen Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 10717 Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, Nr. 712 Personalakten Dr. Georg Gradnauer; Bundesarchiv Berlin, R 1501 Reichsministerium des Inneren, Nr. 206727 Personalakte Dr. Georg Gradnauer; Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Rep. 36 A 3 Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg, Devisenstelle Berlin, Nr. F 600 Akte Gradnauer; ancestry.de.
Werke Mirabeau’s Gedanken über die Erneuerung des französischen Staatswesens, Diss. phil. Halle/Saale 1889; Sozialpolitische Seifenblasen, in: Die Neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens 15/1896/1897, Bd. 1, H. 18, S. 566-570; Die sächsische Probe. Bemerkungen zum Wahlrechtsschutz, in: Die Neue Zeit. Wochenschrift der Deutschen Sozialdemokratie 23/1904/1905, Bd. 1, H. 4, S. 112-118; Das Elend des Strafvollzugs, Berlin 1905; Gegen das neue Wahlunrecht!, Dresden 1905; Ein Vorstoß, in: Die Neue Zeit. Wochenschrift der Deutschen Sozialdemokratie 24/1905/1906, Bd. 1, Nr. 11, S. 360-364; Die Wahlrechtsbewegung, in: Sozialistische Monatshefte 1908, H. 18/19, S. 1143-1149; Verfassungswesen und Verfassungskämpfe in Deutschland, Berlin 1909; Die sächsischen Wahlen und die Reichspolitik, in: Sozialistische Monatshefte 1909, H. 21, S. 1342-1346; Die neue Situation in Sachsen, in: ebd. 1910, H. 8, S. 497-504; Wahlkampf! Die Sozialdemokratie und ihre Gegner, Dresden 1911; Für das parlamentarische Regierungssystem, in: Die Neue Zeit. Wochenschrift der Deutschen Sozialdemokratie 36/1918, Bd. 1, H. 15, S. 337-344; Die kleine Wahlrechtsreform, in: ebd., Bd. 2, H. 17, S. 385-389; Die deutsche Revolution, in: Die Glocke 4/1918, H. 32, S. 1001-1003; Gegen Elend und Zerstörung! Für demokratisch-sozialistischen Aufbau! Rede des Ministerpräsidenten Dr. Gradnauer über die Zustände in Leipzig, Dresden 1919; Sicherung und Ausbau der Demokratie, in: Adolf Braun (Hg.), Das Programm der Sozialdemokratie. Vorschläge für seine Erneuerung, Berlin 1920, S. 61-75; mit Robert Schmidt, Die deutsche Volkswirtschaft. Eine Einführung, Berlin 1921; Die Sächsische Gesandtschaft in Berlin, in: Jahrbuch Sachsen 1928, S. 36-45; mit Rudolf Breitscheid (Hg.), Die Vorgeschichte des Weltkrieges, Bd. 5, 2: Deutschland auf den Haager Friedenskonferenzen. Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages, Berlin 1929.
Literatur Ernest Hamburger, Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit 1848-1918, Tübingen 1968, S. 486-490; Wilhelm Heinz Schröder, Georg Gradnauer, in: ders. (Hg.), Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867-1933, Düsseldorf 1996, S. 469; Mike Schmeitzner, Georg Gradnauer und die Begründung des Freistaats Sachsen 1918-1920. Parlamentarisierung und Demokratisierung der sächsischen Revolution, in: Rainer Aurig/Steffen Herzog/Simone Lässig (Hg.), Landesgeschichte in Sachsen. Tradition und Innovation, Bielefeld 1997, S. 249-270; ders., Georg Gradnauer - Der Begründer des Freistaates (1918-20), in: ders./Andreas Wagner (Hg.), Von Macht und Ohnmacht. Sächsische Ministerpräsidenten im Zeitalter der Extreme 1919-1952, Beucha 2006, S. 52-88; ders., Georg Gradnauer - Demokratielehrer ohne Mandat, in: Landtagskurier 2021, Ausgabe 3, S. 22f.; ders., Georg Gradnauer (1866-1946). Ein Ministerpräsident als Demokratielehrer, in: Justus H. Ulbricht (Hg.), Auf Spurensuche. Demokratie-Geschichte in Dresden, Dresden 2022, S. 84-89. – DBA II, III; DBE II 4, S. 82; NDB-online; Paul Herre (Hg.), Politisches Handwörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1923, S. 724; Salomon Wininger, Große Jüdische National-Biographie, Bd. 2, Cernăuţi 1927, S. 512; Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft. Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort und Bild, Bd. 1, Berlin 1930, S. 578; Franz Osterroth, Biographisches Lexikon des Sozialismus, Bd. 1: Verstorbene Persönlichkeiten, Hannover 1966, S. 101; Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Biographisches Lexikon, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin 1970, S. 162f.; Wilhelm Heinz Schröder (Hg.), Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Reichstagskandidaten 1898-1918. Biographisch-Statistisches Handbuch, Düsseldorf 1986, S. 117; Wolfgang Benz/Hermann Graml (Hg.), Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, München 1988, S. 109; Martin Schumacher (Hg.), M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933-1945, Düsseldorf 1991, S. 242; Datenbank der deutschen Parlamentsabgeordneten; Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik.
Porträt Gradnauer, ca. 1918, Fotografie, Stadtmuseum Dresden, Inventar-Nr. SMD_Ph_2003.00434 (Bildquelle); Handbuch der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung. Weimar 1919. Biographische Notizen und Bilder, hrsg. vom Bureau des Reichstags, Berlin [1919], S. 301; Reichstags-Handbuch. I. Wahlperiode 1920, hrsg. vom Bureau des Reichstags, Berlin 1920, S. 405.
Mike Schmeitzner
25.1.2024
Empfohlene Zitierweise:
Mike Schmeitzner, Artikel: Georg Gradnauer,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1785 [Zugriff 21.11.2024].
Georg Gradnauer
Quellen Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 10717 Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, Nr. 712 Personalakten Dr. Georg Gradnauer; Bundesarchiv Berlin, R 1501 Reichsministerium des Inneren, Nr. 206727 Personalakte Dr. Georg Gradnauer; Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Rep. 36 A 3 Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg, Devisenstelle Berlin, Nr. F 600 Akte Gradnauer; ancestry.de.
Werke Mirabeau’s Gedanken über die Erneuerung des französischen Staatswesens, Diss. phil. Halle/Saale 1889; Sozialpolitische Seifenblasen, in: Die Neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens 15/1896/1897, Bd. 1, H. 18, S. 566-570; Die sächsische Probe. Bemerkungen zum Wahlrechtsschutz, in: Die Neue Zeit. Wochenschrift der Deutschen Sozialdemokratie 23/1904/1905, Bd. 1, H. 4, S. 112-118; Das Elend des Strafvollzugs, Berlin 1905; Gegen das neue Wahlunrecht!, Dresden 1905; Ein Vorstoß, in: Die Neue Zeit. Wochenschrift der Deutschen Sozialdemokratie 24/1905/1906, Bd. 1, Nr. 11, S. 360-364; Die Wahlrechtsbewegung, in: Sozialistische Monatshefte 1908, H. 18/19, S. 1143-1149; Verfassungswesen und Verfassungskämpfe in Deutschland, Berlin 1909; Die sächsischen Wahlen und die Reichspolitik, in: Sozialistische Monatshefte 1909, H. 21, S. 1342-1346; Die neue Situation in Sachsen, in: ebd. 1910, H. 8, S. 497-504; Wahlkampf! Die Sozialdemokratie und ihre Gegner, Dresden 1911; Für das parlamentarische Regierungssystem, in: Die Neue Zeit. Wochenschrift der Deutschen Sozialdemokratie 36/1918, Bd. 1, H. 15, S. 337-344; Die kleine Wahlrechtsreform, in: ebd., Bd. 2, H. 17, S. 385-389; Die deutsche Revolution, in: Die Glocke 4/1918, H. 32, S. 1001-1003; Gegen Elend und Zerstörung! Für demokratisch-sozialistischen Aufbau! Rede des Ministerpräsidenten Dr. Gradnauer über die Zustände in Leipzig, Dresden 1919; Sicherung und Ausbau der Demokratie, in: Adolf Braun (Hg.), Das Programm der Sozialdemokratie. Vorschläge für seine Erneuerung, Berlin 1920, S. 61-75; mit Robert Schmidt, Die deutsche Volkswirtschaft. Eine Einführung, Berlin 1921; Die Sächsische Gesandtschaft in Berlin, in: Jahrbuch Sachsen 1928, S. 36-45; mit Rudolf Breitscheid (Hg.), Die Vorgeschichte des Weltkrieges, Bd. 5, 2: Deutschland auf den Haager Friedenskonferenzen. Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages, Berlin 1929.
Literatur Ernest Hamburger, Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit 1848-1918, Tübingen 1968, S. 486-490; Wilhelm Heinz Schröder, Georg Gradnauer, in: ders. (Hg.), Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867-1933, Düsseldorf 1996, S. 469; Mike Schmeitzner, Georg Gradnauer und die Begründung des Freistaats Sachsen 1918-1920. Parlamentarisierung und Demokratisierung der sächsischen Revolution, in: Rainer Aurig/Steffen Herzog/Simone Lässig (Hg.), Landesgeschichte in Sachsen. Tradition und Innovation, Bielefeld 1997, S. 249-270; ders., Georg Gradnauer - Der Begründer des Freistaates (1918-20), in: ders./Andreas Wagner (Hg.), Von Macht und Ohnmacht. Sächsische Ministerpräsidenten im Zeitalter der Extreme 1919-1952, Beucha 2006, S. 52-88; ders., Georg Gradnauer - Demokratielehrer ohne Mandat, in: Landtagskurier 2021, Ausgabe 3, S. 22f.; ders., Georg Gradnauer (1866-1946). Ein Ministerpräsident als Demokratielehrer, in: Justus H. Ulbricht (Hg.), Auf Spurensuche. Demokratie-Geschichte in Dresden, Dresden 2022, S. 84-89. – DBA II, III; DBE II 4, S. 82; NDB-online; Paul Herre (Hg.), Politisches Handwörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1923, S. 724; Salomon Wininger, Große Jüdische National-Biographie, Bd. 2, Cernăuţi 1927, S. 512; Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft. Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort und Bild, Bd. 1, Berlin 1930, S. 578; Franz Osterroth, Biographisches Lexikon des Sozialismus, Bd. 1: Verstorbene Persönlichkeiten, Hannover 1966, S. 101; Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Biographisches Lexikon, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin 1970, S. 162f.; Wilhelm Heinz Schröder (Hg.), Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Reichstagskandidaten 1898-1918. Biographisch-Statistisches Handbuch, Düsseldorf 1986, S. 117; Wolfgang Benz/Hermann Graml (Hg.), Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, München 1988, S. 109; Martin Schumacher (Hg.), M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933-1945, Düsseldorf 1991, S. 242; Datenbank der deutschen Parlamentsabgeordneten; Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik.
Porträt Gradnauer, ca. 1918, Fotografie, Stadtmuseum Dresden, Inventar-Nr. SMD_Ph_2003.00434 (Bildquelle); Handbuch der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung. Weimar 1919. Biographische Notizen und Bilder, hrsg. vom Bureau des Reichstags, Berlin [1919], S. 301; Reichstags-Handbuch. I. Wahlperiode 1920, hrsg. vom Bureau des Reichstags, Berlin 1920, S. 405.
Mike Schmeitzner
25.1.2024
Empfohlene Zitierweise:
Mike Schmeitzner, Artikel: Georg Gradnauer,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1785 [Zugriff 21.11.2024].