Fritz Wiessner
W. zählt zu den bedeutendsten Vertretern des sächsischen Bergsteigens und des internationalen Alpinismus. Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf W.s herausragende alpinistische Leistungen in vielen Mittel- und Hochgebirgen der Erde und besonders für seinen Einfluss auf die globale Entwicklung des Bergsports.
Reinhold Messner hat ihn als „den bahnbrechendsten, am stärksten als Angelpunkt wirkenden Bergsteiger des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. – W.s aus dem Erzgebirgsvorland stammende Familie, eine Dynastie von Bauhandwerkern, war Ende des 19. Jahrhunderts nach Dresden gezogen. Hier war W.s Vater zunächst erfolgreich als Dekorationsmalermeister, später als Kaufmann tätig. Über W.s Schul- und Lehrzeit ist nichts Näheres bekannt. Erste, gleich auf hohem Niveau unternommene Klettertouren im Elbsandsteingebirge sind durch Gipfelbucheinträge für das Jahr 1916 belegt. W. wurde demzufolge schon in jungen Jahren mit Spitzenleistungen des sächsischen Bergsteigens vertraut, das damals weltweit unangefochten führend war. Schon um 1900 hatte sich in Sachsen der völlige Verzicht auf künstliche Hilfsmittel bei der Fortbewegung am Fels durchgesetzt. Nicht zuletzt aufgrund dieser hohen kletterethischen Standards eröffnete man im Elbsandsteingebirge bereits 1921 Schwierigkeitsbereiche (sächsisch VIIIb, UIAA VII), die in anderen Mittelgebirgen und insbesondere in den Alpen erst ein halbes Jahrhundert später erreicht wurden, als sich auch hier der Freiklettergedanke zu etablieren begann. – In den 1920er-Jahren gelangen W. in der Sächsischen Schweiz einige bedeutende Erstbegehungen, insbesondere schwere Rissklettereien (z.B. 1921 Nordriss am Großen Spitzen Horn VIIc; 1924 Wiessnerriss am Frienstein VIIc). Dazu kamen mehrere Neutouren in den Alpen sowie frühe Wiederholungen schwerster Routen (z.B. 1922 2. Begehung Watzmann Ostwand; 1925 Erstbegehung Fleischbank-Südostwand sowie Furchetta-Nordwand). – Eine entscheidende Zäsur bedeutete 1932 W.s Übersiedlung in die USA. W., der in Dresden seit 1924 eine Drogerie besaß und als Kaufmann firmierte, absolvierte in den USA zunächst ein Chemiestudium und baute dann schnell ein erfolgreiches Chemieunternehmen auf, das u.a. nach norwegischen Mustern Skiwachse herstellte. Als Unternehmer erwarb W. ein großes Vermögen und finanzierte seinen Lebensunterhalt und seine ausgedehnten Bergreisen in späterer Zeit v.a. mit Aktiengeschäften. Im Zweiten Weltkrieg versorgte W.s Firma die 10. Gebirgsdivision der US-Army. W., der seit 1939 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besaß, wirkte während des Kriegs auch als technischer Berater und gehörte der Kommission „Ausrüstung für kalte Klimagebiete“ des Generalquartiermeisters der US-amerikanischen Armee an. – Der Klettersport hatte in den USA um 1930 noch kaum Fuß gefasst. W. repräsentierte ein alpinistisches Leistungsniveau, das in Amerika einmalig war und zwei Jahrzehnte lang unerreicht blieb. Bezeugt wird dies eindrucksvoll durch seine Expedition zum K2 im Karakorum, dem mit 8611 m zweithöchsten und alpinistisch schwierigsten Berg der Erde. W. nahm diesen Besteigungsversuch 1939 „by fair means“, also ohne künstlichen Sauerstoff und unter Verzicht auf Funkgeräte in Angriff, was in dieser Zeit sehr ungewöhnlich war. Die Erstbesteigung des K2 scheiterte - elf Jahre bevor mit dem Annapurna I zum ersten Mal der Gipfel eines 8000ers erreicht wurde - nur um Haaresbreite. W. wurde nach Überwindung der Hauptschwierigkeiten auf einer Höhe von 8390 m von seinem Sherpa
Pasang Dawa Lama aufgehalten, der sich wohl aus Furcht vor den Dämonen des Gipfels trotz bester Bedingungen weigerte, weiterzugehen. Da W. seinen Sherpa nicht allein zum Hochlager absteigen lassen wollte, brach er den eigentlich schon gelungenen Besteigungsversuch ab und kehrte gemeinsam mit Pasang Dawa Lama um. Aufgrund einer Verkettung unglücklicher Umstände endete die anfangs so vielversprechende Expedition im weiteren Verlauf in einer Katastrophe, bei der vier Menschen ums Leben kamen und für die der amerikanische Alpinistenverband AAC (American Alpine Club) W. verantwortlich machte. W., der aufgrund des tragischen Verlaufs der K2-Expedition auf weitere Versuche an 8000ern verzichtete, trat daraufhin aus dem AAC aus. 1966 nahm der Verband die 1940 erhobenen Vorwürfe zurück und ernannte W. zum Ehrenmitglied. Die Erstbesteigung des K2 gelang erst 1954, als eine italienische Großexpedition den Gipfel erreichte. – In Nordamerika gelang W. eine Vielzahl von z.T. spektakulären Erstbegehungen an bedeutenden Gipfeln, etwa am Devils Tower (erste freie Besteigung 1937) und am Grand Teton (4196 m). 1936 glückte ihm die Erstbesteigung des Mt. Waddington (4019 m) in Kanada, der damals als größte alpinistische Herausforderung Nordamerikas galt. Am Mt. Waddington waren zuvor 16 amerikanische und kanadische Expeditionen gescheitert und auch die auf W. folgenden zwölf Wiederholungsversuche blieben erfolglos. Seit 1935 erschloss W. mit den Shawangunk Mountains in den nördlichen Appalachen (nördlich von New York) ein ausgedehntes Klettergebiet, was gelegentlich als „der bedeutendste Beitrag W.s zur amerikanischen Klettergeschichte“ gedeutet wird (
Russ Clune). Auf lange Sicht besonders wirkungsvoll war aber, dass W. in die Entwicklung des Bergsports in den USA, die er bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte, den sächsischen Freiklettergedanken einbrachte. Die Idee des „Freeclimbing“, die in den 1970er-Jahren von den USA ausgehend den weltweiten Alpinismus umgestaltete, geht direkt auf den von W. in Amerika praktizierten und auch öffentlich propagierten sächsischen Stil zurück. Die durch W.s Vorbild geprägte amerikanische Kletterelite entwickelte diesen Stil weiter, indem sie den Gedanken der sportlichen Fairness noch konsequenter verfolgte und etwa auf das Ruhen an künstlichen Sicherungspunkten nach Möglichkeit verzichtete („Rotpunkt“-Stil). In den 1980er-Jahren setzte sich der Freiklettergedanke weltweit durch. Der von W.s Übersiedlung in die USA ausgelöste Transfer der sächsischen Kletterethik nach Amerika ist der wohl folgenreichste Einzelvorgang in dieser Entwicklung, die W. außerdem als Mitglied des internationalen Alpinistenverbands UIAA (Union Internationale des Associations d’Alpinisme) und als langjähriger Vorsitzender der UIAA-Kommission für Schwierigkeitsbewertung und Routenbeschreibung förderte. 1987 wurde er zum Ehrenmitglied der UIAA ernannt. – W. pflegte nach der Übersiedlung in die USA anfangs sehr regelmäßig seine Kontakte nach Sachsen, die allerdings nach 1945 zunächst stark erschwert wurden und sich auf den Briefwechsel beschränkten. Nachdem er 1964 auf Einladung des Deutschen Verbands für Wandern, Bergsteigen und Orientierungslauf - des Bergsteigerverbands der DDR - als Ehrengast am Jubiläum „100 Jahre Klettern in der Sächsischen Schweiz“ teilgenommen hatte, knüpfte er jedoch wieder enge persönliche Beziehungen zum sächsischen Kletternachwuchs und besuchte seither jährlich die Sächsische Schweiz. Im globalen Alpinismus außerordentlich gut vernetzt, stellte W. für die sächsischen Bergsteiger in der DDR eine wichtige Verbindung zu Entwicklungen im internationalen Alpinsport dar. Seit Ende der 1970er-Jahre brachte er mehrfach amerikanische Spitzenkletterer nach Sachsen mit. So wirkte durch W.s Vermittlung der mit ihm nach Amerika gelangte und dort weiterentwickelte Freiklettergedanke auch auf die seit 1945 isolierte sächsische Kletterszene zurück. – W. war bis ins hohe Alter als Bergsteiger aktiv. Noch mit über 80 Jahren führte er Touren des sächsischen Schwierigkeitsgrads V und bewältigte im Nachstieg Wege im VII. sächsischen Grad. 1987 erlitt er mehrere Schlaganfälle. Seinem letzten Willen folgend erhielt der nach der Friedlichen Revolution wiedergegründete Sächsische Bergsteigerbund 1990 W.s Bergsteigerbibliothek.
Werke K2. Tragödien und Sieg am zweithöchsten Berg der Erde, München 1955.
Literatur D. Hasse/H. L. Stutte, Felsenheimat Elbsandsteingebirge. Ein Jahrhundert sächsisches Bergsteigen, Wolfratshausen 1979; A. Kauffmann/W. L. Putnam, K2. The 1939 tragedy, Seattle/Washington 1993; D. Hasse, Wiege des Freikletterns. Sächsische Marksteine im weltweiten Alpinsport bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 2000, S. 240-286; G. Andreas (Bearb.), Fritz W. (1900-1988), hrsg. vom Sächsischen Bergsteigerbund e.V., Dresden 2000 (WV).
Marek Wejwoda
3.4.2013
Empfohlene Zitierweise:
Marek Wejwoda, Artikel: Fritz Wiessner,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/10348 [Zugriff 23.11.2024].
Fritz Wiessner
Werke K2. Tragödien und Sieg am zweithöchsten Berg der Erde, München 1955.
Literatur D. Hasse/H. L. Stutte, Felsenheimat Elbsandsteingebirge. Ein Jahrhundert sächsisches Bergsteigen, Wolfratshausen 1979; A. Kauffmann/W. L. Putnam, K2. The 1939 tragedy, Seattle/Washington 1993; D. Hasse, Wiege des Freikletterns. Sächsische Marksteine im weltweiten Alpinsport bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 2000, S. 240-286; G. Andreas (Bearb.), Fritz W. (1900-1988), hrsg. vom Sächsischen Bergsteigerbund e.V., Dresden 2000 (WV).
Marek Wejwoda
3.4.2013
Empfohlene Zitierweise:
Marek Wejwoda, Artikel: Fritz Wiessner,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/10348 [Zugriff 23.11.2024].