Friedrich Naumann

N. war einer der bedeutendsten Vertreter des Liberalismus des Deutschen Kaiserreichs. Er vertrat die Interessen der sozial schwachen Schichten und setzte sich darüber hinaus im Ersten Weltkrieg zusammen mit Max Weber für eine moderate Kriegszielpolitik ein. N.s Bedeutung zeigt sich noch heute im Namen einer politischen Stiftung. – N. wuchs als Pfarrersohn in einem politisch konservativen Elternhaus auf. 1868 zog die Familie nach Lichtenstein im Erzgebirge. In Leipzig besuchte N. das Nikolai-Gymnasium. 1876 wurde er in die Fürstenschule St. Afra in Meißen aufgenommen, wo er 1879 das Abitur ablegte. Anschließend studierte er in Leipzig und Erlangen Theologie und trat dort 1881 dem Verein Deutscher Studenten bei. Das Erste Theologische Examen bestand er 1882 und ging daraufhin als „Oberhelfer“ an das „Rauhe Haus“ in Hamburg, einer Heimstätte für verwaiste und verwahrloste Kinder. Im Herbst 1885 verließ N. Hamburg, um in Dresden das Kandidatenexamen (die zweite theologische Prüfung) abzulegen. Daran schloss sich 1886 eine Stelle als Landpfarrer im sächsischen Langenberg an. Ab 1890 wirkte N. als Vereinsgeistlicher in Frankfurt/Main. Hier setzte er sich mit sozialen Aufgaben auseinander, gelangte in den geschäftsführenden Vorstand des Gesamtverbands evangelischer Arbeitervereine und wurde Mittelpunkt der „jüngeren Christlich-Sozialen“. In dieser Zeit beschäftigte er sich aber auch mit Fragen wie Genossenschaftsgründung, Wohnungsfürsorge, Altenstifte, soziale Arbeit durch Armenpflege, soziale Einrichtungen für Kinder und Jugendliche und christliches Vereinsleben. Hier entwickelte er seine Thesen von einer Verbindung von Staat und Sozialismus, die durch das Evangelium gelenkt werden sollte, und brachte zu diesem Thema mehrere Schriften heraus: 1888 „Die Zukunft der Inneren Mission“, „Arbeiter-Katechismus oder der wahre Sozialismus“, 1889/90 „Das soziale Programm der evangelischen Kirche“, 1894 „Christlich-Sozial“, „ Jesus als Volksmann“ und 1895 „Konservatives Christentum“. Seit 1890 nahm N. am Forum des „Evangelisch-Sozialen Kongresses“ teil, was es ihm ermöglichte, Bekanntschaften mit Theologen, Nationalökonomen und „Männern der Praxis“ zu schließen. Ende 1894 gründete er die „Hilfe“, ein christlich-soziales Wochenblatt, wo er zugleich als Redakteur tätig war. Dadurch wurde er angehalten, sich regelmäßig mit aktuellen politischen Problemen und Tagesfragen zu befassen, was ihm auch seine politische Betätigung erleichterte. 1896 gründete N. in Erfurt den „Nationalsozialen Verein“ und wurde zu dessen erstem Vorsitzenden. Auf der Gründungsveranstaltung sprach er sich für eine Verbindung von „Demokratie und Kaisertum“ aus. 1897 schied er aus dem Pfarrdienst aus, um sich ganz der Politik und dem Verein widmen zu können. Mit der Gesellschaft Palmer-Kappus & Co. ging er 1898 auf Asienreise, als „politischer Pastor“, wie er selbst im Reisebericht „Asia“ schrieb. In dieser Schrift entfaltete er aber auch seine geopolitischen Anschauungen. Angesichts einer Übermacht des britischen Empire sah er nur zwei Alternativen: entweder eine Verbrüderung mit diesem oder einen bewaffneten Konflikt. Als natürlichen Verbündeten betrachtete N. Österreich-Ungarn, was er in seiner 1900 erschienenen Schrift „Deutschland und Österreich“ ausführlich darlegte. In dieser führte er aus, dass ein Zollbündnis mit Österreich-Ungarn und eine mögliche militärische Allianz eine tiefe Verbindung der beiden Länder schaffen würde, welche notwendig wäre, um das Deutschtum in Österreich-Ungarn zu erhalten. – Aufgrund mangelnder Erfolge bei der Reichstagswahl löste sich der Nationalsoziale Verein bereits 1903 wieder auf. Zwar war es dem Verein nicht gelungen, sozialdemokratische Wähler an sich zu binden, doch konnte er immerhin linke bürgerliche Wähler mobilisieren. N. und die Mehrheit der Mitglieder des Nationalsozialen Vereins schlossen sich daraufhin der Freisinnigen Vereinigung an. Durch diese konnte er seine Ansichten einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen. Zudem unterstützte die Gruppierung als einzige der drei linksliberalen Zusammenschlüsse die Militärpolitik der Regierung. Für die Freisinnige Vereinigung gewann N. 1907 das Mandat für den Reichstag. Im selben Jahr erfolgte durch seine Initiative die Gründung des „Deutschen Werkbunds“, eine Vereinigung von Industriellen und Künstlern, die neue Maßstäbe für die gewerbliche Produktion entwickeln sollte. Die linksliberalen Parteien schlossen sich 1910 zur Fortschrittlichen Volkspartei zusammen, für die sich N. ebenfalls engagierte. Gegen einen sozialdemokratischen Herausforderer unterlag er zwar 1912, kehrte aber bereits im Juni 1913 durch eine Nachwahl in den Reichstag zurück. Hierbei unterstützte ihn Gustav Stresemann, der auf eine Kandidatur verzichtete und zur Wahl N.s aufrief. Im Ersten Weltkrieg arbeitete N. fast unermüdlich, hielt Vorträge im In- und Ausland, engagierte sich verstärkt für die „Hilfe“ und war auch im Reichstag ständig präsent. In dieser Zeit entstand sein wohl wichtigstes und bedeutendstes Werk „Mitteleuropa“, worin er sich fest überzeugt zeigte von der Schaffung eines mitteleuropäischen Staatenbunds, der aus der Not des Kriegs erwachsen werde. Außerdem hielt er darin an einer durch Demokratisierung und Sozialisierung von Eigentum geprägten deutschen Weltpolitik fest. Um diese Ideen zu realisieren, rief N. Ende 1915 den „Arbeitsausschuss für Mitteleuropa“ ins Leben, der eine private, regierungsunabhängige Vereinigung von Wirtschaftsführern, Politikern sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern darstellte. Die konstituierende Sitzung fand am 22.2.1916 in Berlin statt. Zu den prominentesten Mitgliedern gehörte der Soziologe Max Weber, einer von N.s langjährigen Freunden und Wegbegleitern. Mit dem Kriegsende war das Projekt „Mitteleuropa“ hinfällig geworden und der Arbeitsausschuss löste sich auf. 1917 gründete N. die „Staatsbürgerschule“, aus welcher 1920 die Hochschule für Politik und 1959 das Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin hervorgingen. Nach 1918 engagierte sich N. für die DDP, deren Vorsitzender er ab dem 22.7.1919 werden sollte. Außerdem wurde er am 19.1.1919 als Spitzenkandidat der Partei in die Nationalversammlung gewählt. Hier setzte er sich für das Mehrheitswahlsystem ein, denn durch die Einführung des Verhältniswahlrechts sah er nicht nur die Gefahr der Parteienzersplitterung, sondern auch des zu starken Einflusses von Wirtschaftsinteressen auf staatspolitische Entscheidungen. Weiterhin war N. im Verfassungsausschuss tätig. Zudem sprach er sich gegen den Versailler Vertrag aus, da dieser u.a. einen Zusammenschluss Deutschlands mit Österreich untersagte. Während einer Erholungsreise an die Ostsee erlitt N. einen Schlaganfall, an dessen Folgen er wenige Stunden später verstarb.

Werke Arbeiter-Katechismus oder der wahre Sozialismus, Calw 1889; Das soziale Programm der evangelischen Kirche, Erlangen 1891; Was heißt christlich-sozial, Leipzig 1894, 21896; (Hg.), Die Hilfe, Berlin 1894-1919; Jesus als Volksmann, Göttingen 1894, 31898; Nationale Sozialpolitik, Göttingen 1898; Asia. Eine Orientreise über Athen, Konstantinopel, Baalbek, Damaskus, Nazaret, Jerusalem, Kairo, Neapel, Berlin 1899, 81911; Demokratie und Kaisertum, Berlin 1900, 41905; Deutschland und Österreich, Berlin 1900; (Hg.), Patria. Bücher für Kultur und Freiheit, Berlin 1901-1913; Neudeutsche Wirtschaftspolitik, Berlin 1906, 31911; Reichskanzler und Wahlrecht, Berlin 1908; Das Ideal der Freiheit, Berlin 1908, 21908; Ausstellungsbriefe, Berlin 1909 (ND Gütersloh u.a. 2007); Das Volk der Denker, Berlin 1909, 21910; Form und Farbe, Berlin 1909, 31919; Die politischen Parteien, Berlin 1910, 31913; Freiheitskämpfe, Berlin 1911; Geist und Glaube, Berlin 1911; Das blaue Buch von Vaterland und Freiheit, Königstein/Leipzig 1913; Sonnenfahrten, Berlin 1913, 21914; Mitteleuropa, Berlin 1915; Bulgarien und Mitteleuropa, Berlin 1916; Briefe über Religion, Berlin 1903, 71917; Der Weg zum Volksstaat, Berlin 1918; Das Christentum, Langensalza 1919.

Literatur H. Barge, Friedrich N. Seine Persönlichkeit und sein Lebenswerk, Leipzig 1920; H. Bousset, Friedrich N. Der deutsche Glaube in seinem Lebenswerk, Berlin 1919; W. Conze, Friedrich N. Grundlagen und Ansatz seiner Politik in der nationalsozialen Zeit (1895 bis 1903), in: W. Hubatsch (Hg.), Schicksalswege deutscher Vergangenheit, Düsseldorf 1993, S. 355-386; D. Düding, Der Nationalsoziale Verein 1896-1903, München/Wien 1972; W. Göggelmann, Christliche Weltverantwortung zwischen Sozialer Frage und Nationalstaat. Zur Entwicklung Friedrich N.s 1860-1903, Baden-Baden 1987; T. Heuss, Friedrich N. Der Mann, das Werk, die Zeit, Stuttgart/Tübingen ²1949; ders., Friedrich N.s Erbe, Tübingen 1959; P. Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich N. im Wilhelminischen Deutschland (1860-1919), Baden-Baden 1983; M. Panzer, Der Einfluß Max Webers auf Friedrich N., Würzburg 1986; O. Lewerenz, Zwischen Reich Gottes und Weltreich. Friedrich N. in seiner Frankfurter Zeit, Sinzheim 1994; A. Peschel, Friedrich N.s und Max Webers „Mitteleuropa“, Dresden 2005. – DBA II, III; DBE 7, S. 344; NDB 18, S. 767-769.

Porträt M. Liebermann, 1909, Gemälde, Kunsthalle Hamburg; Friedrich N., K. Wahl, Fotografie, Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Archiv des Liberalismus (Bildquelle).

Andreas Peschel
12.5.2014


Empfohlene Zitierweise:
Andreas Peschel, Artikel: Friedrich Naumann,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/2981 [Zugriff 19.11.2024].

Friedrich Naumann



Werke Arbeiter-Katechismus oder der wahre Sozialismus, Calw 1889; Das soziale Programm der evangelischen Kirche, Erlangen 1891; Was heißt christlich-sozial, Leipzig 1894, 21896; (Hg.), Die Hilfe, Berlin 1894-1919; Jesus als Volksmann, Göttingen 1894, 31898; Nationale Sozialpolitik, Göttingen 1898; Asia. Eine Orientreise über Athen, Konstantinopel, Baalbek, Damaskus, Nazaret, Jerusalem, Kairo, Neapel, Berlin 1899, 81911; Demokratie und Kaisertum, Berlin 1900, 41905; Deutschland und Österreich, Berlin 1900; (Hg.), Patria. Bücher für Kultur und Freiheit, Berlin 1901-1913; Neudeutsche Wirtschaftspolitik, Berlin 1906, 31911; Reichskanzler und Wahlrecht, Berlin 1908; Das Ideal der Freiheit, Berlin 1908, 21908; Ausstellungsbriefe, Berlin 1909 (ND Gütersloh u.a. 2007); Das Volk der Denker, Berlin 1909, 21910; Form und Farbe, Berlin 1909, 31919; Die politischen Parteien, Berlin 1910, 31913; Freiheitskämpfe, Berlin 1911; Geist und Glaube, Berlin 1911; Das blaue Buch von Vaterland und Freiheit, Königstein/Leipzig 1913; Sonnenfahrten, Berlin 1913, 21914; Mitteleuropa, Berlin 1915; Bulgarien und Mitteleuropa, Berlin 1916; Briefe über Religion, Berlin 1903, 71917; Der Weg zum Volksstaat, Berlin 1918; Das Christentum, Langensalza 1919.

Literatur H. Barge, Friedrich N. Seine Persönlichkeit und sein Lebenswerk, Leipzig 1920; H. Bousset, Friedrich N. Der deutsche Glaube in seinem Lebenswerk, Berlin 1919; W. Conze, Friedrich N. Grundlagen und Ansatz seiner Politik in der nationalsozialen Zeit (1895 bis 1903), in: W. Hubatsch (Hg.), Schicksalswege deutscher Vergangenheit, Düsseldorf 1993, S. 355-386; D. Düding, Der Nationalsoziale Verein 1896-1903, München/Wien 1972; W. Göggelmann, Christliche Weltverantwortung zwischen Sozialer Frage und Nationalstaat. Zur Entwicklung Friedrich N.s 1860-1903, Baden-Baden 1987; T. Heuss, Friedrich N. Der Mann, das Werk, die Zeit, Stuttgart/Tübingen ²1949; ders., Friedrich N.s Erbe, Tübingen 1959; P. Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich N. im Wilhelminischen Deutschland (1860-1919), Baden-Baden 1983; M. Panzer, Der Einfluß Max Webers auf Friedrich N., Würzburg 1986; O. Lewerenz, Zwischen Reich Gottes und Weltreich. Friedrich N. in seiner Frankfurter Zeit, Sinzheim 1994; A. Peschel, Friedrich N.s und Max Webers „Mitteleuropa“, Dresden 2005. – DBA II, III; DBE 7, S. 344; NDB 18, S. 767-769.

Porträt M. Liebermann, 1909, Gemälde, Kunsthalle Hamburg; Friedrich N., K. Wahl, Fotografie, Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Archiv des Liberalismus (Bildquelle).

Andreas Peschel
12.5.2014


Empfohlene Zitierweise:
Andreas Peschel, Artikel: Friedrich Naumann,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/2981 [Zugriff 19.11.2024].