Ernst Gottlob Pienitz

Als erster Direktor der Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein zählt P. zu den Pionieren der deutschen Anstaltspsychiatrie. P.s therapeutische Erfolge beruhten auf Humanität, Nächstenliebe und Achtsamkeit sowie den institutionellen Möglichkeiten der Heilstätte. Seine große Fürsorge für psychisch erkrankte Menschen zeigte sich auch in seiner Betreuung von Privatpatienten innerhalb seiner Familie und seines Haushalts. – Aus einer Chirurgenfamilie stammend wusste P. bereits mit 15 Jahren, dass er eine medizinische Karriere einschlagen wollte und wurde 1795 für ein Jahr Schüler am Dresdner Collegium Medico-Chirurgicum. 1797 trat er nach bestandenem Examen eine Stelle als Militärchirurg beim Artillerie-Corps unter Ober-Regiments-Chirurgus Christian Ernst Samuel Schreibner an. Schreibner erkannte nicht nur P.s besondere Begabung und drängte ihn, ein Studium anzuschließen, sondern unterstützte ihn auch finanziell. Bevor P. 1801 bis Ende 1803 in Leipzig Medizin studierte, vertiefte er 1799 seine theoretischen Kenntnisse am Collegium und beendete Ende 1800 seinen Militärdienst in Dresden. In Leipzig machte er die Bekanntschaft von Christian Erhard Kapp, der dort als praktischer Arzt tätig war und P. und seine weitere Laufbahn nachhaltig prägte. Kapp schickte P. Anfang 1804 zu Studienaufenthalten nach Wien und Paris. In Wien besuchte er u.a. den ,,Narrenturm“, wo er sog. Geisteskranke und deren Behandlung durch den ärztlichen Leiter Franz Nord beobachten konnte. Ein Jahr später traf er in Paris auf Philippe Pinel, der als leitender Arzt des Hôpital Salpétrière für eine menschenwürdigere Behandlung der „Geisteskranken“ sorgte, indem er durchsetzte, dass einem Großteil der Patienten Zwangsmaßnahmen wie Kerker und Ketten erspart blieben. Gleichzeitig konzentrierte er sich sehr auf die Beobachtung der Kranken und Krankheiten. Zusammen mit dem ebenfalls sächsischen Arzt Christian August Fürchtegott Hayner besuchte P. die Pariser Versorgungshäuser, Armeninstitute, Gefängnisse sowie medizinische Anstalten. Bleibende Eindrücke für P.s berufliche Laufbahn hinterließ auch die Behandlung von Patienten in Jean-Étienne-Dominique Esquirols Privatklinik. – 1806 kehrte P. nach Leipzig zurück, um dort Anfang Mai sein medizinisches Examen zu absolvieren. Im September 1806 heiratete er Julie Baudon, die er während seiner Zeit in Paris kennengelernt hatte. Im selben Monat trat er in der Armen- und Strafanstalt Torgau eine Assistenzstelle an und reichte kurz darauf seine Dissertation zu einem psychiatrischen Thema ein. – P. war 1807, als er in Torgau als selbstständiger Hausarzt für alle rund 300 Insassen die Verantwortung übernahm, erstmals in der Lage, eigenständig psychisch Kranke zu behandeln und dabei seine erworbenen Fähigkeiten anzuwenden. Trotz der ungünstigen Betreuungsverhältnisse erzielte er überraschend gute Ergebnisse. 1807 eröffnete er eine „Privat-Irrenanstalt“, wo er meist wohlhabende Pensionäre behandelte. Diese brachten ihm ein ordentliches Zusatzeinkommen ein. Er praktizierte in Torgau aber auch als Privatarzt. – Im Februar 1811 wurde P. aufgrund seines erfolgreichen Wirkens in Torgau die Stelle als Hausarzt in der Heilanstalt Sonnenstein angeboten. Nach der Eröffnung der Anstalt im Juli 1811 war P. dort für ein Jahrzehnt der einzige Arzt. – P.s Familie bezog eine Wohnung im Elbflügelgebäude auf dem Sonnenstein. Herbe Schicksalsschläge trafen das Ehepaar durch den Tod von fünf ihrer sieben Kinder. – Der Einfluss Pinels auf P.s Behandlungsmethoden zeigte sich besonders stark in dem Ansatz der individuellen Beobachtung der Patienten und der Krankheitsbilder. Für P. nahm die humane Behandlung der Patienten einen hohen Stellenwert ein, und diese Haltung brachte er auch dem Personal nahe. Das führte dazu, dass er einige Methoden, wie etwa Zwangsmaßnahmen, Sturzbäder oder ableitende Mittel, die in der zeitgenössischen Psychiatrie häufig zur Anwendung kamen, deutlich sparsamer oder in gemäßigter Form einsetzte. P. ging davon aus, dass psychische Leiden von entweder zu viel oder auch zu wenig „Reizbarkeit“ verursacht werden. Somit wurde gegen Krankheiten wie Manie oder Tobsucht mit schwächenden Methoden wie Abführmitteln, Zwangsmitteln oder kalten Sturzbädern vorgegangen, während bei „Reizmangelerscheinungen“ wie melancholischen Störungen z.B. warme Bäder, frische Luft und eine nahrhafte Diät zum Einsatz kamen. P. legte großen Wert auf geregelte Tagesabläufe und Beschäftigungsangebote. So wurden viele Patienten ihren Fähigkeiten und Neigungen entsprechend einer Arbeit zugeteilt, die zusammen mit einem straffen, individuell anpassbaren Tagesablauf auch die innere Ordnung wiederherstellen sollte. Dabei wurden den Patienten nur solche Arbeiten übertragen, die zu erledigen sie sich auch als gesunde Menschen nicht geschämt hätten. Die bereits beurlaubten oder entlassenen Patienten betreute P. noch bis zu drei Jahre weiter. Hierbei entschied P. je nach persönlichem Umfeld der Person, ob eine Rückkehr in selbiges sinnvoll schien, ansonsten suchte er nach einer alternativen Unterbringung. 1825/26 entstand unter wesentlicher Mitwirkung von P. im Pirnaer Stadtzentrum eine Genesungsanstalt, in der Patienten auf ihre Rückkehr in die Gesellschaft vorbereitet wurden. Durch diese vielfältige Versorgung und Behandlung waren beachtliche Heilerfolge zu verzeichnen. Gleichzeitig wurde die Heil- und Pflegeanstalt zu einer bedeutenden Aus- und Weiterbildungsstätte, die Ärzte aus Europa und Nordamerika anzog. – Für die Unterbringung und Behandlung seiner Privatpatienten erwarb P. 1833 ein Haus in Pirna. Diese Privatanstalt leitete er mit großem Erfolg. Für die Bürger Pirnas stand er auch für die allgemeine medizinische Versorgung zur Verfügung. Seine Tätigkeit auf dem Sonnenstein wurde zunehmend administrativer, da er sich von der klinischen Behandlung der Patienten zurückzog. Nach dem Tod seiner Frau bat P. um Versetzung in den Ruhestand, die Anfang 1851 erfolgte. Als Direktor der unter seiner Leitung europäische Bedeutung erlangenden Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein wurde P. vom sächsischen Königshaus mit der Verleihung des Ritterkreuzes des Zivilverdienstordens (1828), der Ernennung zum Hofrat (1841) und zum Geheimen Medizinalrat (1851) geehrt.

Quellen Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 10026 Geheimes Kabinett, Loc. 528/16, Briefe des Dr. med. E. G. P. (1814-1831); Ev.-luth. Pfarramt Radeberg, Registerbuch I, Taufbücher 1774-1788, Registerbuch II, Traubücher 1806 und 1807; Stadtarchiv Radeberg, 2209 Testament-Buch, S. 338-341; Kirchenarchiv St. Marien Pirna, Totenbuch des Jahres 1853; Recherchen und Auskünfte von Lena Grünberg und Joana Starck.

Werke Resultate der Heil- und Verpflegungsanstalt auf dem Sonnenstein im Verlaufe dreier Jahre 1814 bis Ende 1816, in: Zeitschrift für psychische Ärzte 1/1818, S. 117-127; Fortgesetzte Anzeige der vom 1. Januar 1818 bis zum 31. December 1826 in der Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein gewonnenen Ergebnisse, in: G. A. E. v. Nostitz und Jänckendorf, Beschreibung der Königl. Sächsischen Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein, 1. Teil, 2. Abteilung, Dresden 1829, S. 175-182; Kurze Andeutung der in der Heilanstalt Sonnenstein vom Endunterzeichneten befolgten psychischen (moralischen) und somatischen (physischen) Behandlungsweise der Seelenkranken, in: ebd., S. 109-120; Einige Worte über die Notwendigkeit der Irrenanstalten und der Behandlung der Seelenkranken von Versetzung in dieselben, Leipzig 1839.

Literatur A. Dietrich, Nekrolog zu Dr. Ernst Gottlob P., in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 11/1854, S. 468-476; M. Pienitz, Aus meinen Jugenderinnerungen, in: Pirnaer Anzeiger 1888, Nr. 104, 126, 133, 150, 165; H. Eichhorn, Ernst Gottlob P. und die Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein, in: Zeitschrift für Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 34/1982, S. 60-63; P. K. Brdiczka, Ernst Gottlob P. (1777-1853) und seine Verdienste für die Gründung und Ausformung der Heilanstalt Pirna-Sonnenstein, Med. Diss. Dresden 2002; B. Böhm, Ernst Gottlob P. (1777-1853) - der erste Direktor der Heilanstalt Sonnenstein, in: Pirnaer Hefte 5/2003, S. 135-149; P. K. Brdiczka, Ernst Gottlob P. (1777-1853), Biografie, Wirken und therapeutisches Konzept des ersten Direktors der Heilanstalt Sonnenstein, in: Die Heilanstalt Sonnenstein und die sächsische Psychiatrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hrsg. vom Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V., Pirna 2004, S. 55-72. – ADB; DBA I, II, III; DBE 7, S. 666; T. Kirchhoff (Hg.), Deutsche Irrenärzte, Bd. 1, Berlin 1921, S. 99-103.

Porträt Dr. med. Ernst P., Arzt an der Kgl. Sächs. Heilanstalt zu Sonnenstein, E. Resch, ca. 1820, Lithografie, Stadtmuseum Pirna, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Abteilung Deutsche Fotothek (Bildquelle).

Boris Böhm
5.9.2017


Empfohlene Zitierweise:
Boris Böhm, Artikel: Ernst Gottlob Pienitz,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/3149 [Zugriff 2.11.2024].

Ernst Gottlob Pienitz



Quellen Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 10026 Geheimes Kabinett, Loc. 528/16, Briefe des Dr. med. E. G. P. (1814-1831); Ev.-luth. Pfarramt Radeberg, Registerbuch I, Taufbücher 1774-1788, Registerbuch II, Traubücher 1806 und 1807; Stadtarchiv Radeberg, 2209 Testament-Buch, S. 338-341; Kirchenarchiv St. Marien Pirna, Totenbuch des Jahres 1853; Recherchen und Auskünfte von Lena Grünberg und Joana Starck.

Werke Resultate der Heil- und Verpflegungsanstalt auf dem Sonnenstein im Verlaufe dreier Jahre 1814 bis Ende 1816, in: Zeitschrift für psychische Ärzte 1/1818, S. 117-127; Fortgesetzte Anzeige der vom 1. Januar 1818 bis zum 31. December 1826 in der Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein gewonnenen Ergebnisse, in: G. A. E. v. Nostitz und Jänckendorf, Beschreibung der Königl. Sächsischen Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein, 1. Teil, 2. Abteilung, Dresden 1829, S. 175-182; Kurze Andeutung der in der Heilanstalt Sonnenstein vom Endunterzeichneten befolgten psychischen (moralischen) und somatischen (physischen) Behandlungsweise der Seelenkranken, in: ebd., S. 109-120; Einige Worte über die Notwendigkeit der Irrenanstalten und der Behandlung der Seelenkranken von Versetzung in dieselben, Leipzig 1839.

Literatur A. Dietrich, Nekrolog zu Dr. Ernst Gottlob P., in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 11/1854, S. 468-476; M. Pienitz, Aus meinen Jugenderinnerungen, in: Pirnaer Anzeiger 1888, Nr. 104, 126, 133, 150, 165; H. Eichhorn, Ernst Gottlob P. und die Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein, in: Zeitschrift für Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 34/1982, S. 60-63; P. K. Brdiczka, Ernst Gottlob P. (1777-1853) und seine Verdienste für die Gründung und Ausformung der Heilanstalt Pirna-Sonnenstein, Med. Diss. Dresden 2002; B. Böhm, Ernst Gottlob P. (1777-1853) - der erste Direktor der Heilanstalt Sonnenstein, in: Pirnaer Hefte 5/2003, S. 135-149; P. K. Brdiczka, Ernst Gottlob P. (1777-1853), Biografie, Wirken und therapeutisches Konzept des ersten Direktors der Heilanstalt Sonnenstein, in: Die Heilanstalt Sonnenstein und die sächsische Psychiatrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hrsg. vom Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V., Pirna 2004, S. 55-72. – ADB; DBA I, II, III; DBE 7, S. 666; T. Kirchhoff (Hg.), Deutsche Irrenärzte, Bd. 1, Berlin 1921, S. 99-103.

Porträt Dr. med. Ernst P., Arzt an der Kgl. Sächs. Heilanstalt zu Sonnenstein, E. Resch, ca. 1820, Lithografie, Stadtmuseum Pirna, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Abteilung Deutsche Fotothek (Bildquelle).

Boris Böhm
5.9.2017


Empfohlene Zitierweise:
Boris Böhm, Artikel: Ernst Gottlob Pienitz,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/3149 [Zugriff 2.11.2024].