Elisabeth Boer
Elisabeth Boer gehörte zu den ersten Frauen, die bereits Mitte der 1920er-Jahre im deutschen Archivwesen Fuß fassten. Als langjährige Mitarbeiterin und spätere Leiterin des Dresdner Stadtarchivs war sie wesentlich an der Rettung des Archivguts 1945 und danach am Wiederaufbau des Stadtarchivs beteiligt. Im Ruhestand engagierte sich Boer bis ins hohe Alter an der Erschließung mittelalterlicher Quellen. Für ihre Lebensleistung wurde sie 1986 mit der Leibniz-Medaille geehrt, der höchsten Auszeichnung der Akademie der Wissenschaften der DDR. Die Straße am neu gebauten Stadtarchiv in Dresden erhielt 2000 in ehrendem Gedenken den Namen Elisabeth-Boer-Straße. In der Biografie Boers spiegeln sich zum einen die sich eröffnenden Berufswege einer Frau im damals männerdominierten Archivwesen und zum anderen die deutsche und sächsische Geschichte von der Weimarer Republik bis zur Wiedervereinigung. – Boer wurde 1896 als zweite Tochter von
Reinhold und
Elisabeth Boer in
Bochum geboren. Die Mutter stammte aus Dresden und zog nach der Hochzeit 1893 mit ihrem Mann ins Ruhrgebiet, wo dieser als Fabrikdirektor tätig war. 1911 musste die Familie aufgrund einer Krankheit Reinhold Boers nach
Hannover umziehen, ehe sie 1914 zurück nach Dresden übersiedelte. Der Vater übernahm die Firma seines Onkels
Carl Hugo Haußhälter, die Geschwindigkeitsmesser für Lokomotiven herstellte und an der später Boer und ihre Schwester Emilie als stille Teilhaber Gesellschafterinnen wurden. – Boers schulische Ausbildung begann 1902 mit dem Eintritt in eine Töchterschule in Bochum. Nach den beiden Umzügen besuchte sie ab 1911 die realgymnasiale Studienanstalt Hannover und danach das Reformrealgymnasium an der Dreikönigsschule, ehe sie 1917 die Reifeprüfung am Städtischen Mädchengymnasium Dresden-Neustadt ablegte. 1917 bis 1919 studierte Boer an der Universität
Heidelberg und setzte danach ihre akademische Ausbildung an der Philipps-Universität
Marburg u.a. bei ihrem akademischen Lehrer, dem Historiker und Diplomatiker Edmund Ernst Stengel, fort, unterbrochen vom Studium in
München im Sommersemester 1921. Ihre Fächer waren Geschichte, Historische Hilfswissenschaften, Archivkunde, Deutsch und Latein. 1924 legte sie das Staatsexamen ab und erlangte im gleichen Jahr mit ihrer Arbeit über das Augustiner-Chorherrenstift
Volkhardinghausen den Doktorgrad. – Boers Versuch, einen Kurs für die archivische Staatsprüfung am Preußischen Geheimen Staatsarchiv in
Berlin-Dahlem zu belegen, scheiterte, da Frauen von einer Teilnahme ausgeschlossen waren. Stattdessen begann Boer im Dezember 1923 ein Volontariat am Sächsischen Hauptstaatsarchiv in Dresden. Am 1.10.1925 trat sie die Stelle einer wissenschaftlichen Hilfsarbeiterin beim Dresdner Ratsarchiv an und war damit eine der ersten Frauen im Archivdienst in Deutschland. Zu ihren Aufgaben zählten die Einarbeitung der Aktenbestände aus den 1921 zu Dresden eingemeindeten Vororten sowie die Erschließung des mittelalterlichen Urkundenbestands durch zusammenfassende Regesten und Register. Aus ihrer Arbeit mit den Akten entstanden mehrere stadtgeschichtliche Beiträge von unterschiedlichem Umfang, u.a. zum Stadtschreiber Michael Weiße und zum Kurort Weißer Hirsch. Ein weiteres Arbeitsfeld im Archiv bestand in der Beantwortung von Anfragen zu genealogischen Nachforschungen, insbesondere wegen des Ahnennachweises zur NS-Zeit. Die 1936 vom Reichspropagandaministerium geforderte Erstellung von Stadtchroniken mündete in der Darstellung über Dresden im zweiten Band des Deutschen Städtebuchs, an der Boer gemeinsam mit dem Archivdirektor Georg Hermann Müller-Benedict und dem Ratsarchivar Heinrich Butte gearbeitet hatte. Boer war hier für die Auflistung biografischer Daten einer Reihe berühmter Dresdner Persönlichkeiten verantwortlich. Seit 1943 führte sie die Sammlung von Informationen zur Erstellung einer Stadtchronik fort. Neben diesen schriftlichen Ausarbeitungen gestaltete sie gemeinsam mit Butte zahlreiche Ausstellungen. – Boer werden große Verdienste bei der Rettung der Archivbestände in der Nacht vom 13. zum 14.2.1945 zugeschrieben. So konnten wertvolle Archivalien und Bücher, insgesamt ca. Dreiviertel des Bestands, erhalten werden, deren Zahl aber in der Folgezeit aufgrund der gezielten Zerstörung durch die Nationalsozialisten, durch Diebstahl und später wegen Schimmelbefalls erheblich schrumpfte. Boer rettete 1945 gemeinsam mit Butte wichtige Drucksachen und die zeitgeschichtliche Sammlung vor der von Reichsstatthalter Martin Mutschmann befohlenen Vernichtung und ein Jahr später einen umfassenden Zeitungsbestand von 1933 bis 1945, der auf Befehl der SMAD ebenfalls zerstört werden sollte. – Im Februar 1945 wurde Boer Stellvertreterin Buttes, der die Leitung des Stadtarchivs allerdings bereits im Herbst aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft wieder abgeben musste. 1948 kam es zu einer Zusammenlegung von Städtischen Büchereien, Stadtbibliothek und Stadtarchiv unter der Leitung des Büchereidirektors Jan Pepino. Boer agierte hierbei als verantwortliche Archivarin. Nach Auflösung der Stadtbibliothek im September 1951 wurde sie einen Monat später zur Leiterin des nunmehr eigenständigen Stadtarchivs ernannt. Bis zu ihrem Ausscheiden 1956 war sie mit dem Wiederaufbau des Stadtarchivs beschäftigt, indem sie neue Räume einrichten ließ, verschlepptes Archivmaterial zurückführte und geeignetes Personal einstellte. Sie verankerte das Stadtarchiv durch Vorträge und Führungen im öffentlichen Bewusstsein der Stadtgesellschaft und unterstützte die wissenschaftliche Forschung. 1955 wurde Boer ins „Komitee zur 750-Jahr-Feier der Stadt Dresden“ berufen und beteiligte sich u.a. an der Konzeption der Ausstellung und der Festschrift zu diesem Jubiläum. – Mit dem Eintritt in den Ruhestand nahm Boer quellenkundliche Arbeiten auf. Zunächst widmete sie sich dem städtischen Schriftgut. Sie bearbeitete mit Alfred Hahn ein bis heute ungedrucktes Regestenwerk zur Dresdner Baugeschichte der Frühen Neuzeit und legte 1963 die Edition des ältesten Dresdner Stadtbuchs (1404-1436) vor. Im Anschluss bearbeitete sie auf Anregung des Landesarchivars Manfred Kobuch das Register des dritten Bands aus dem Hauptteil I, Abteilung A des Codex diplomaticus Saxoniae der älteren Land- und Markgrafenurkunden. Zunächst ehrenamtlich, ab 1971/1972 im Auftrag der Historischen Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig erstellte Boer das Register und das Glossar für den bereits von Otto Posse vor der Jahrhundertwende registerlos publizierten Band. Selbst im hohen Alter zeigte sich Boer als engagierte, leidenschaftliche und höchst aktive Wissenschaftlerin. Obwohl sie ihre Arbeit 1986 im Manuskript abschließen konnte, gelangte der Band aufgrund der fehlenden Abschlussredaktion und der Umbruchssituation bei der Akademie nicht mehr zum Druck, sondern wurde erst 2009 nach einer Überarbeitung durch Susanne Baudisch und Markus Cottin der Öffentlichkeit vorgelegt. Die Drucklegung des Bands erlebte Boer, die 1991 verstarb, nicht mehr.
Quellen Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 12657 Nachlass Elisabeth Boer, 12824 Nachlass Emilie Boer, Nr. 07, 35, 37, 42, 61, 12815 Nachlass Gerhard Schmidt, Nr. 213, 12772 Nachlass Horst Schlechte, Nr. 170, 246, 318, 347; Stadtarchiv Dresden, 17.5, Elisabeth Boer (1896-1991) - eine der ersten Frauen im deutschen Archivwesen, 4.1.5 Dezernat Innere Verwaltung, Nr. 243: Personalakte Boer.
Werke Reformbestrebungen in dem Waldecker Kloster Volkardinghausen 1465 bis 1576, in: Geschichtsblätter für Waldeck und Pyrmont 24/1927, S. 1-78, 25/1928, S. 1-92; Der Stadtschreiber Michael Weiße und seine Bedeutung für das Dresdner Ratsarchiv (1549-1566), in: Hans Beschorner (Hg.), Archivstudien. Zum 70. Geburtstag von Woldemar Lippert, Dresden 1931, S. 42-49; D. Pöppelmann und seine Nachkommen in Dresden, in: Mitteilungen des Roland 16/1931, S. 29-31; Chronik des Kurortes Weißer Hirsch-Dresden. Von den Anfängen bis zur Eingemeindung (Arbeiten aus dem Ratsarchiv und der Stadtbibliothek zu Dresden 6), Dresden 1932; mit Oskar Pusch/Otto Koepert, Die Dresdner Heide und ihre Umgebung, Dresden 1932; Dresdner Auswanderer 1852-1857, in: Mitteilungen des Roland 18/1933, S. 3-5; Dresdner Bürgerrechtsvorbehalte 1750-1840, in: ebd. 19/1934, S. 23f.; Dresdner Kunstleben um 1890 und die Gründung des „Kunstwarts“, in: Dresdner Geschichtsblätter 44/1936, S. 200-206; Rückblick auf die Geschichte des Vereinigten Frauenheims zu Dresden bei seinem 100jährigen Bestehen 1838-1938, Dresden 1938; Dresden, in: Erich Keyser (Hg.), Deutsches Städtebuch, Bd. 2: Mitteldeutschland, Stuttgart 1941, S. 47-61, hier S. 51-55; Art. Arnold, Johann Christoph, in: NDB 1 (1953), S. 386f.; Das älteste Stadtbuch von Dresden 1404-1436 (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 1), Dresden 1963; Susanne Baudisch/Markus Cottin (Bearb.), Codex diplomaticus Saxoniae regia, I. Hauptteil, Abteilung A, Bd. 3: Urkunden der Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen 1196-1234. Register, auf der Grundlage der Vorarbeiten von Elisabeth Boer, Hannover 2009.
Literatur Manfred Kobuch, Bibliographie Elisabeth Boer, Dresden 1986; ders., Elisabeth Boer †, in: Der Archivar 44/1991, H. 4, S. 677-679; Carola Schauer, Elisabeth Boer. Archivarin zwischen den Welten, in: Dresdner Hefte 85/2006, S. 23-30; dies., Elisabeth Boer - die Bearbeiterin der Edition von 1963, in: Jens Klingner/Robert Mund (Bearb.), Die drei ältesten Stadtbücher Dresdens (1404-1476), Leipzig 2007, S. 76-78; Matthias Werner, Vorwort, in: Susanne Baudisch/Markus Cottin (Bearb.), Codex diplomaticus Saxoniae regia, I. Hauptteil, Abteilung A, Bd. 3: Urkunden der Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen 1196-1234. Register, auf der Grundlage der Vorarbeiten von Elisabeth Boer, Hannover 2009, S. VIII; Susanne Baudisch/Markus Cottin, Zur Entstehung des Registerbandes zu Band I/3 des Codex diplomaticus Saxoniae regiae, in: ebd., S. XI.
Porträt Elisabeth Boer, 1946, Fotografie, Stadtarchiv Dresden, 4.1.5 Dezernat Innere Verwaltung, Nr. 242-1, Bl. 1 (Bildquelle).
Jens Klingner
21.8.2025
Empfohlene Zitierweise:
Jens Klingner, Artikel: Elisabeth Boer,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/10856 [Zugriff 30.10.2025].
Elisabeth Boer
Quellen Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 12657 Nachlass Elisabeth Boer, 12824 Nachlass Emilie Boer, Nr. 07, 35, 37, 42, 61, 12815 Nachlass Gerhard Schmidt, Nr. 213, 12772 Nachlass Horst Schlechte, Nr. 170, 246, 318, 347; Stadtarchiv Dresden, 17.5, Elisabeth Boer (1896-1991) - eine der ersten Frauen im deutschen Archivwesen, 4.1.5 Dezernat Innere Verwaltung, Nr. 243: Personalakte Boer.
Werke Reformbestrebungen in dem Waldecker Kloster Volkardinghausen 1465 bis 1576, in: Geschichtsblätter für Waldeck und Pyrmont 24/1927, S. 1-78, 25/1928, S. 1-92; Der Stadtschreiber Michael Weiße und seine Bedeutung für das Dresdner Ratsarchiv (1549-1566), in: Hans Beschorner (Hg.), Archivstudien. Zum 70. Geburtstag von Woldemar Lippert, Dresden 1931, S. 42-49; D. Pöppelmann und seine Nachkommen in Dresden, in: Mitteilungen des Roland 16/1931, S. 29-31; Chronik des Kurortes Weißer Hirsch-Dresden. Von den Anfängen bis zur Eingemeindung (Arbeiten aus dem Ratsarchiv und der Stadtbibliothek zu Dresden 6), Dresden 1932; mit Oskar Pusch/Otto Koepert, Die Dresdner Heide und ihre Umgebung, Dresden 1932; Dresdner Auswanderer 1852-1857, in: Mitteilungen des Roland 18/1933, S. 3-5; Dresdner Bürgerrechtsvorbehalte 1750-1840, in: ebd. 19/1934, S. 23f.; Dresdner Kunstleben um 1890 und die Gründung des „Kunstwarts“, in: Dresdner Geschichtsblätter 44/1936, S. 200-206; Rückblick auf die Geschichte des Vereinigten Frauenheims zu Dresden bei seinem 100jährigen Bestehen 1838-1938, Dresden 1938; Dresden, in: Erich Keyser (Hg.), Deutsches Städtebuch, Bd. 2: Mitteldeutschland, Stuttgart 1941, S. 47-61, hier S. 51-55; Art. Arnold, Johann Christoph, in: NDB 1 (1953), S. 386f.; Das älteste Stadtbuch von Dresden 1404-1436 (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 1), Dresden 1963; Susanne Baudisch/Markus Cottin (Bearb.), Codex diplomaticus Saxoniae regia, I. Hauptteil, Abteilung A, Bd. 3: Urkunden der Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen 1196-1234. Register, auf der Grundlage der Vorarbeiten von Elisabeth Boer, Hannover 2009.
Literatur Manfred Kobuch, Bibliographie Elisabeth Boer, Dresden 1986; ders., Elisabeth Boer †, in: Der Archivar 44/1991, H. 4, S. 677-679; Carola Schauer, Elisabeth Boer. Archivarin zwischen den Welten, in: Dresdner Hefte 85/2006, S. 23-30; dies., Elisabeth Boer - die Bearbeiterin der Edition von 1963, in: Jens Klingner/Robert Mund (Bearb.), Die drei ältesten Stadtbücher Dresdens (1404-1476), Leipzig 2007, S. 76-78; Matthias Werner, Vorwort, in: Susanne Baudisch/Markus Cottin (Bearb.), Codex diplomaticus Saxoniae regia, I. Hauptteil, Abteilung A, Bd. 3: Urkunden der Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen 1196-1234. Register, auf der Grundlage der Vorarbeiten von Elisabeth Boer, Hannover 2009, S. VIII; Susanne Baudisch/Markus Cottin, Zur Entstehung des Registerbandes zu Band I/3 des Codex diplomaticus Saxoniae regiae, in: ebd., S. XI.
Porträt Elisabeth Boer, 1946, Fotografie, Stadtarchiv Dresden, 4.1.5 Dezernat Innere Verwaltung, Nr. 242-1, Bl. 1 (Bildquelle).
Jens Klingner
21.8.2025
Empfohlene Zitierweise:
Jens Klingner, Artikel: Elisabeth Boer,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/10856 [Zugriff 30.10.2025].