Elfriede Lohse-Wächtler
L. war als Malerin und Grafikerin im Umfeld der avantgardistischen Künstler- und Künstlerinnengruppe der „Dresdner Sezession 1919“ tätig und ist eine bedeutende Vertreterin der Neuen Sachlichkeit. 1940 wurde L. nach mehreren Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken in
Hamburg und Arnsdorf bei Dresden nach
Pirna-Sonnenstein deportiert und in der dortigen NS-Tötungsanstalt ermordet. Ihr Schicksal sowie ihr künstlerisches Werk gerieten daraufhin in Vergessenheit und erfuhren erst seit den 1980er-Jahren erneut Beachtung. – L. wurde als erstes Kind von
Adolf Wächtler, einem aus Dresden stammenden Kaufmann, und seiner aus
Husinetz (tschech. Husinec) in Südböhmen stammenden Frau
Zdenka Wächtler im Dresdner Vorort Löbtau (in der Plauenschen Straße 64) geboren. Die ersten Lebensjahre verbrachte L. in Löbtau und ab 1904 im Dresdner Stadtteil Striesen. Da sie ihren eigenen Vornamen Anna Frieda ablehnte, gab sie sich selbst den Namen Elfriede. Bereits früh zeigte sich ihre künstlerische und musikalische Begabung, die ihr Vater zwar erkannte, jedoch nicht förderte. Im Herbst 1915 besuchte sie - vermutlich auf Wunsch des Vaters - zunächst die Fachklasse „Mode und weibliche Handarbeiten“ von Margarete Junge an der Dresdner Königlichen Kunstgewerbeschule, wechselte aber bereits 1916 zum Maler und Grafiker Georg Oskar Erler und schuf künstlerische wie handwerkliche Arbeiten. Mit der neu gewonnenen Unabhängigkeit des selbstgewählten Studiums und nach dem Bruch mit ihrem Vater zog L. mit 16 Jahren aus dem konservativ geprägten Elternhaus aus und begann ein für die Zeit äußerst unkonventionelles Leben in der Pillnitzer Straße 28, wo sie gemeinsam mit ihrer Freundin
Londa Freiin von Berg wohnte. Der radikale Wandel im Lebensstil zeigte sich auch in ihrem betont androgynen Auftreten, das mit den normierten Vorstellungen von Weiblichkeit kollidierte: Sie schnitt sich die Haare ab, trug selbst geschneiderte, ausgefallene Kleidung, zeigte sich rauchend in der Öffentlichkeit und nannte sich selbst Nikolaus Wächtler. Durch den künstlerischen Austausch mit der sozialkritischen „Dresdner Sezession 1919“, in der u.a. die befreundeten Maler Conrad Felixmüller, Otto Griebel und Otto Dix wirkten, lernte sie auch den Maler und Opernsänger
Kurt Lohse kennen, den sie 1921 heiratete. Nach einer kurzen gemeinsamen, aber für L. künstlerisch produktiven Zeit in Wehlen in der Sächsischen Schweiz trennte sich das Paar 1923 zum ersten Mal. 1925 folgte L. dennoch ihrem an Tuberkulose erkrankten Mann nach Hamburg, wo dieser eine Anstellung am Stadttheater angetreten hatte. Aufgrund der endgültigen Trennung von Lohse 1926 und der sich zuspitzenden finanziellen Situation geriet die Künstlerin in eine schwere Lebenskrise, die 1929 einen ersten Aufenthalt in der psychiatrischen Einrichtung in Hamburg-Friedrichsberg nach sich zog. Hier entstand die in Auszügen bereits zu Lebzeiten museal präsentierte Serie von Alltagsstudien ihrer Mitpatientinnen, die sog. Friedrichsberger Köpfe, die in empathischer und keineswegs pathologisierender Manier Psychiatrieerfahrungen thematisierten. Die anhaltende finanzielle Notlage der Künstlerin nach der Entlassung aus der Klinik hatte zur Folge, dass L. bis 1931 als Obdachlose in
St. Pauli lebte. Die in Hamburg entstandenen bildnerischen Erzählungen des dortigen Nachtlebens, in denen die Künstlerin meist Randgestalten der Gesellschaft wie Bettlerinnen und Bettler oder Prostituierte zu den Protagonistinnen und Protagonisten ihrer Milieudarstellungen machte, gehören ebenso zu ihren Hauptwerken. – Nach der Rückkehr in das Elternhaus 1931 hielt die psychisch schlechte Verfassung der Künstlerin an, weshalb L. auf Anraten ihres Vaters im Juni 1932 in die geschlossene Abteilung der Heil- und Pflegeanstalt Arnsdorf eingewiesen wurde. Den dortigen Psychiatriealltag sowie ihre eigenen Gemütszustände hielt sie in Form von zahlreichen Studien und schonungslosen Selbstporträts fest. Neben den eindrücklichen Porträtdarstellungen anderer psychisch erkrankter Menschen schuf L. auch handwerkliche Arbeiten, entwarf und fertigte ihre eigene Kleidung. Aufgrund ihrer psychischen Erkrankung, die von den Ärzten der Anstalt als Schizophrenie diagnostiziert und als unheilbar eingestuft wurde, konnte Lohse 1935 eine Scheidung von L. erwirken, worauf sie erst entmündigt und am 20.12.1935 mit der Berufung auf das sog. Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses zwangssterilisiert wurde. Dieses einschneidende Erlebnis des Entzugs jeglicher Persönlichkeits- und Menschenrechte sowie die unerfüllte Hoffnung, Mutter zu werden, ließen die künstlerische Tätigkeit von L. vollends zum Erliegen kommen. Trotz hartnäckiger Versuche der Eltern, ihre Tochter zu besuchen und vor einer drohenden Verlegung zu schützen, wurde L. am 31.7.1940 in die Landes- und Heilanstalt Pirna-Sonnenstein deportiert und dort unter dem Vorwand der nationalsozialistischen Rassenhygiene im Zuge der „Aktion T4“ vergast. – Die eigene, von Schicksalsschlägen und psychischer Krankheit bestimmte Lebensgeschichte L.s spiegelt sich in den von großer Direktheit geprägten Selbstbildnissen bzw. gemalten „Selbstbefragungen“ der Künstlerin wider: 1931 malte sie sich im nüchternen Stil der Neuen Sachlichkeit mit nackten Schultern und mondän-burschikosem Kurzhaarschnitt vor einem schwarzen Hintergrund. Die expressiven, locker angebrachten, kontrastreichen Pinselstriche in der rechten oberen Bildhälfte zeugen von ihrer selbstbewussten Inszenierung als Malerin, während ihr durchdringender, ernster Blick sowie die Schlichtheit der Darstellung die seelischen Abgründe ihrer menschlichen Existenz in den Mittelpunkt rücken. – Seit 2012 erinnert ein Stolperstein in der Voglerstraße 15 in Dresden-Striesen an das Schicksal der Künstlerin.
Quellen Stadtarchiv Dresden, 6.4.25-1.3.2.-104 Standesamt/Urkundenstelle, Standesamt I, Personenstandsbuch, Eheregister 1921, Nr. 622, 6.4.25-3.32.53 Standesamt III, Personenstandsbuch, Eheregister 1899, Nr. 555 (Ancestry.com), 6.4.25-17.4.2-6 Standesamt I, Personenstandsbuch, Sterberegister 1946, Nr. 1190/46 (Ancestry.com).
Werke Die Nachtwandlerin, 1919, Holzschnitt, verschollen; Umarmung, 1921/1922, aquarellierte Federlithografie, Nachlass Elfriede L., Hamburg; Liebespaar, 1922/1923, Aquarell, Privatsammlung Hamburg; Schmerzhaft-Ruhende (Teil der Serie der sog. Friedrichsberger Köpfe), 1929, Pastellkreiden, Kunsthalle Hamburg, Kupferstichkabinett; Eine alte Patientin (Teil der Serie der sog. Friedrichsberger Köpfe), 1929, Pastellkreiden über Bleistift, Nachlass Elfriede L., Hamburg; Kombinierte Portraitstudien von Patienten (Teil der Serie der sog. Friedrichsberger Köpfe), 1929, Bleistift auf Karton, Nachlass Elfriede L., Hamburg; Das Vergnügen von St. Pauli, 1930, Pastellkreiden, Privatsammlung Hamburg; Über den Leib, 1930, Pastellkreiden, Privatbesitz; Lissy, 1931, Aquarell über Bleistift, Privatsammlung, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Frankfurt/Main; Aufschreiende Gruppe, 1931, Pastellkreiden über Aquarell, Nachlass Elfriede L., Hamburg; Selbstporträt und Schatten, 1931, Pastellkreiden, Privatbesitz; Die Zigarettenpause (Selbstporträt), 1931, Aquarell über Bleistift, Privatsammlung Hamburg; Selbstbildnis, 1931, Öl auf Sperrholz, Hamburger Kunsthalle, Leihgabe aus einer Privatsammlung; Selbstbildnis, 1931, Öl auf Leinwand, Hamburger Kunsthalle, Leihgabe aus einer Privatsammlung (P); Der Bruder, 1931, Aquarell, Privatbesitz; Eine Kranke, 1932, Bleistift und rote Wasserfarbe, Nachlass Elfriede L., Hamburg; In der Krankenstube, um 1933, Farbstifte auf Papier, Nachlass Elfriede L., Hamburg.
Literatur Hildegard Reinhardt, „… fort muß ich, nur fort!“ Elfriede L. 1899-1940, in: Bernd Küster (Hg.), Malerinnen des XX. Jahrhunderts, Bremen 1995, S. 45-64; Georg Reinhardt (Hg.), Im Malstrom des Lebens versunken… Elfriede L. 1899-1940. Leben und Werk, Köln 1996; „…das oft aufsteigende Gefühl des Verlassenseins“. Arbeiten der Malerin Elfriede L. in den Psychiatrien von Hamburg-Friedrichsberg (1929) und Arnsdorf (1932-1940), hrsg. von der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft, Dresden 2000; „Ich allein weiß, wer ich bin“. Elfriede L. 1899-1940. Ein biografisches Porträt, hrsg. vom Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V. und dem Stadtmuseum Pirna, Pirna 2003; Carolin Quermann, Elfriede L. „ein einzigartiges, schon fast nicht mehr weiblich anmutendes Talent“, in: Künstlerinnen der Avantgarde in Hamburg zwischen 1890 und 1933, Bd. 2, hrsg. von der Hamburger Kunsthalle, Bremen 2006, S. 66-99; Regine Sondermann, Kunst ohne Kompromiss. Die Malerin Elfriede L. 1899-1940, Berlin 2008; Dirk Blübaum/Rainer Stamm/Ursula Zeller (Hg.), Elfriede L. 1899-1940, Tübingen/Berlin 2008; Maren Waike-Koormann, Elfriede L. und Grethe Jürgens. Ich-Bildungen und Rezeptionsverläufe zweier Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden 2019; Daniela Weinstock, Elfriede L. (1899-1940). Geschätzt - geächtet - verfolgt. Mit einem Katalog ihrer Werke, Mainz 2020 .
Porträt Selbstbildnis, Elfriede L., 1931, Öl auf Leinwand, Hamburger Kunsthalle, Privatsammlung / bpk, Inventar-Nr. HK-200606, Foto: Elke Walford (Bildquelle) .
Christina Bergemann
3.12.2021
Empfohlene Zitierweise:
Christina Bergemann, Artikel: Elfriede Lohse-Wächtler,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/10566 [Zugriff 21.11.2024].
Elfriede Lohse-Wächtler
Quellen Stadtarchiv Dresden, 6.4.25-1.3.2.-104 Standesamt/Urkundenstelle, Standesamt I, Personenstandsbuch, Eheregister 1921, Nr. 622, 6.4.25-3.32.53 Standesamt III, Personenstandsbuch, Eheregister 1899, Nr. 555 (Ancestry.com), 6.4.25-17.4.2-6 Standesamt I, Personenstandsbuch, Sterberegister 1946, Nr. 1190/46 (Ancestry.com).
Werke Die Nachtwandlerin, 1919, Holzschnitt, verschollen; Umarmung, 1921/1922, aquarellierte Federlithografie, Nachlass Elfriede L., Hamburg; Liebespaar, 1922/1923, Aquarell, Privatsammlung Hamburg; Schmerzhaft-Ruhende (Teil der Serie der sog. Friedrichsberger Köpfe), 1929, Pastellkreiden, Kunsthalle Hamburg, Kupferstichkabinett; Eine alte Patientin (Teil der Serie der sog. Friedrichsberger Köpfe), 1929, Pastellkreiden über Bleistift, Nachlass Elfriede L., Hamburg; Kombinierte Portraitstudien von Patienten (Teil der Serie der sog. Friedrichsberger Köpfe), 1929, Bleistift auf Karton, Nachlass Elfriede L., Hamburg; Das Vergnügen von St. Pauli, 1930, Pastellkreiden, Privatsammlung Hamburg; Über den Leib, 1930, Pastellkreiden, Privatbesitz; Lissy, 1931, Aquarell über Bleistift, Privatsammlung, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Frankfurt/Main; Aufschreiende Gruppe, 1931, Pastellkreiden über Aquarell, Nachlass Elfriede L., Hamburg; Selbstporträt und Schatten, 1931, Pastellkreiden, Privatbesitz; Die Zigarettenpause (Selbstporträt), 1931, Aquarell über Bleistift, Privatsammlung Hamburg; Selbstbildnis, 1931, Öl auf Sperrholz, Hamburger Kunsthalle, Leihgabe aus einer Privatsammlung; Selbstbildnis, 1931, Öl auf Leinwand, Hamburger Kunsthalle, Leihgabe aus einer Privatsammlung (P); Der Bruder, 1931, Aquarell, Privatbesitz; Eine Kranke, 1932, Bleistift und rote Wasserfarbe, Nachlass Elfriede L., Hamburg; In der Krankenstube, um 1933, Farbstifte auf Papier, Nachlass Elfriede L., Hamburg.
Literatur Hildegard Reinhardt, „… fort muß ich, nur fort!“ Elfriede L. 1899-1940, in: Bernd Küster (Hg.), Malerinnen des XX. Jahrhunderts, Bremen 1995, S. 45-64; Georg Reinhardt (Hg.), Im Malstrom des Lebens versunken… Elfriede L. 1899-1940. Leben und Werk, Köln 1996; „…das oft aufsteigende Gefühl des Verlassenseins“. Arbeiten der Malerin Elfriede L. in den Psychiatrien von Hamburg-Friedrichsberg (1929) und Arnsdorf (1932-1940), hrsg. von der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft, Dresden 2000; „Ich allein weiß, wer ich bin“. Elfriede L. 1899-1940. Ein biografisches Porträt, hrsg. vom Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V. und dem Stadtmuseum Pirna, Pirna 2003; Carolin Quermann, Elfriede L. „ein einzigartiges, schon fast nicht mehr weiblich anmutendes Talent“, in: Künstlerinnen der Avantgarde in Hamburg zwischen 1890 und 1933, Bd. 2, hrsg. von der Hamburger Kunsthalle, Bremen 2006, S. 66-99; Regine Sondermann, Kunst ohne Kompromiss. Die Malerin Elfriede L. 1899-1940, Berlin 2008; Dirk Blübaum/Rainer Stamm/Ursula Zeller (Hg.), Elfriede L. 1899-1940, Tübingen/Berlin 2008; Maren Waike-Koormann, Elfriede L. und Grethe Jürgens. Ich-Bildungen und Rezeptionsverläufe zweier Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden 2019; Daniela Weinstock, Elfriede L. (1899-1940). Geschätzt - geächtet - verfolgt. Mit einem Katalog ihrer Werke, Mainz 2020 .
Porträt Selbstbildnis, Elfriede L., 1931, Öl auf Leinwand, Hamburger Kunsthalle, Privatsammlung / bpk, Inventar-Nr. HK-200606, Foto: Elke Walford (Bildquelle) .
Christina Bergemann
3.12.2021
Empfohlene Zitierweise:
Christina Bergemann, Artikel: Elfriede Lohse-Wächtler,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/10566 [Zugriff 21.11.2024].