Anton Günther

G., der sich mit Rekurs auf den Geburtsort des Vaters ( St. Joachimsthal) auch „Tolerhans-Tonl“ (Tonl des Hans aus Joachimsthal) nannte, ist eine Figur der erzgebirgischen Folklore. Als Deutscher von der böhmischen Seite des Erzgebirgskamms wurzelt die Popularität des Volkssängers v.a. in Sachsen, wo er seine meisten Auftritte hatte. Etliche der fast 200 Lieder, die er in einer am Westerzgebirgischen orientierten Sprachform verfasste, zählen bis heute zum Repertoire volksmusikalischer Gruppen der Region. Als gelernter Lithograf produzierte G. im Selbstverlag zu zahlreichen Liedern sog. „Liedpostkarten“, die neben Text und Melodie oft auch eine selbst verfertigte kleine Genrezeichnung aufweisen. Dergestalt fanden die Lieder mit ihren schlichten, eher verhaltenen Melodien massenhafte Verbreitung. G. trug seine Lieder zur Gitarre vor. Inhaltlich spannt sich ihr Bogen vom Lob des Erzgebirges, der Natur und bodenständiger Berufe über die Thematisierung menschlicher Schwächen und Tugenden bis zu Appellen zur Bewahrung des Deutschtums. – Früh erlernte G. das Gitarren- und Geigenspiel. Als 1888 die Mutter starb, hinterließ sie sieben Kinder. G. machte im sächsischen Buchholz eine Lithografenlehre und wurde 1895 Geselle bei der Hoflithographie Haase in Prag. Hier schloss er sich einem Kreis Erzgebirgler an, die sich der Pflege des Deutschtums und ihrer Mundart verschrieben hatten. Heimatliebe ist Thema von G.s erstem Lied („Derham is derham“), das 1895 in Prag entstand. Der Erstling und auch die folgenden Lieder fanden Beifall nicht nur in Zirkeln heimattreuer Erzgebirgler in der böhmischen Metropole, sondern auch in der besungenen Heimat selbst, wo sie bald von Gesangsgruppen ins Repertoire übernommen wurden. Nach dem Tod des Vaters kehrte der 25-jährige G. 1901 nach Gottesgab zurück, um für die verwaisten jüngeren Geschwister zu sorgen. Seinen erlernten Beruf übte er seither nicht mehr aus. Gesangsdarbietungen in Wirtshäusern, zunächst gemeinsam mit seinem Bruder Julius, erbrachten ein willkommenes Zubrot zum Einkommen aus der kleinen Landwirtschaft. Professionellen Charakter erhielten G.s Auftritte seit 1902, nachdem der Erzgebirgsverein ihn „entdeckt“ hatte und fortan für zahlreiche Veranstaltungen in seinen Ortsvereinen verpflichtete. G.s Texte harmonierten bestens mit dem idyllisch-kantigen Erzgebirgsbild, wie es der Erzgebirgsverein im Kontext des sich entwickelnden Fremdenverkehrs propagierte. Ein weiterer Förderer G.s war der Landesverein Sächsischer Heimatschutz. Bei Veranstaltungen von Erzgebirgs- und Landesverein absolvierte er Hunderte von Auftritten in Sachsen und Böhmen. Neben den Liedkarten vertrieb G. auch Bildpostkarten mit seinem Konterfei und Namenszug – mit Joppe, Hut, Pfeife und Gitarre war er im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts populärer Bestandteil der erzgebirgischen Ikonografie. G.s produktivste Periode währte bis Mitte der 1920er-Jahre. Allein 1903 legte er nicht weniger als 14 neue Lieder vor, darunter mit „Feierobnd“ sein bekanntestes. Ein Auftritt vor dem sächsischen König Friedrich August III. im Jahre 1906 auf dem Fichtelberg und einer 1908 vor dem österreichischen Erzherzog Karl Franz Joseph auf dem Keilberg steigerten die Popularität des Volkssängers. 1917 übertrug er die Nutzungsrechte an seinen Liedern dem Musikverlag Hofmeister in Leipzig, der diverse Bearbeitungen herausbrachte. Besondere Resonanz fand im sich verschärfenden Nationalitätenkonflikt nach Gründung der Tschechoslowakei das 1908 entstandene „Deitsch on frei wolln mer sei!“: Das Lied wurde in völkischen Gruppen, in der sudetendeutschen Henlein-Bewegung wie von den Nationalsozialisten gleichermaßen geschätzt. Einige von G.s Liedern, die zuvor gleichsam „naiv“ die Heimat thematisiert hatten, mutierten im Dienste demonstrativ völkischer und nationalistischer Rezeption zum aggressiven Bekenntnis, zu politisch-agitatorischen Gebrauchs-Texten. Ein möglicher Erklärungsansatz für G.s Freitod, über dessen Gründe die Familie stets Stillschweigen bewahrt hat, wäre, dass sich der im Grunde apolitische G. der gesellschaftlichen und politischen Radikalisierung seit 1933 nicht gewachsen gefühlt haben könnte. – In der DDR stieß G.s Werk auf Vorbehalte sowohl mit Blick auf die Volkstumsideologie als auch auf die kleinbürgerliche Zufriedenheitslehre, an deren Koordinaten viele seiner Texte ausgerichtet sind. Gleichwohl blieben G.s Lieder im Erzgebirge stets präsent. In der alten Bundesrepublik waren sie bei Treffen sudetendeutscher Landsmannschaften Teil der ritualisierten Traditionspflege und sind es im wiedervereinigten Deutschland bis heute. Seit 1989 ist im Erzgebirge eine durchweg unpolitische Günther-Rezeption im Dienst des Tourismus zu verzeichnen. Einer solchen befleißigt sich auch das tschechische Boží Dar (ehemals Gottesgab), wo sich sein früheres Wohnhaus, sein Grab und ein Gedenkstein für G. befinden.

Werke G. Heilfurth (Hg.), Anton G., Gesamtausgabe der Liedertexte, Gedichte, Sprüche und Erzählungen, Schwarzenberg 1937 (P); G. Hermann (Hg.), Anton G. Eine Auswahl seiner Gedichte, Lieder, Sprüche und Geschichten, Leipzig 1955 (P).

Literatur G. Heilfurth, Herkunft und Dasein, in: ders. (Hg.), Anton G., Gesamtausgabe der Liedertexte, Gedichte, Sprüche und Erzählungen, Schwarzenberg 1937, S. 7-24; M. Wenzel, Anton G., der Sänger des Erzgebirges, Dresden 1937; M. Blechschmidt, Anton G. - aus seinem Leben und Werk, Schneeberg 21989; E. Werner, Das Erbe Anton G.s - zur Rezeption seines Werkes, in: Sächsische Heimatblätter 41/1995, H. 4, S. 224-236; V. Günther, Zwiegespräch mit meinem Großvater Anton G., Altenburg 1996; D. Herz, „Su aafach, wie mei Haamit is, su aafach is mei Gemüt“. Annäherungen an Anton G. im Lichte einiger Rezeptionsstrategien, in: M. Simon/M. Kania-Schütz/S. Löden (Hg.), Zur Geschichte der Volkskunde, Dresden 2002, S. 179-201. – DBA II, III; DBE 4, S. 238.

Porträt Porträt Anton G., in: G. Hermann (Hg.), Anton G. Eine Auswahl seiner Gedichte, Lieder, Sprüche und Geschichten, Leipzig 1955 (Bildquelle).

Dieter Herz
27.8.2004


Empfohlene Zitierweise:
Dieter Herz, Artikel: Anton Günther,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/9415 [Zugriff 6.11.2024].

Anton Günther



Werke G. Heilfurth (Hg.), Anton G., Gesamtausgabe der Liedertexte, Gedichte, Sprüche und Erzählungen, Schwarzenberg 1937 (P); G. Hermann (Hg.), Anton G. Eine Auswahl seiner Gedichte, Lieder, Sprüche und Geschichten, Leipzig 1955 (P).

Literatur G. Heilfurth, Herkunft und Dasein, in: ders. (Hg.), Anton G., Gesamtausgabe der Liedertexte, Gedichte, Sprüche und Erzählungen, Schwarzenberg 1937, S. 7-24; M. Wenzel, Anton G., der Sänger des Erzgebirges, Dresden 1937; M. Blechschmidt, Anton G. - aus seinem Leben und Werk, Schneeberg 21989; E. Werner, Das Erbe Anton G.s - zur Rezeption seines Werkes, in: Sächsische Heimatblätter 41/1995, H. 4, S. 224-236; V. Günther, Zwiegespräch mit meinem Großvater Anton G., Altenburg 1996; D. Herz, „Su aafach, wie mei Haamit is, su aafach is mei Gemüt“. Annäherungen an Anton G. im Lichte einiger Rezeptionsstrategien, in: M. Simon/M. Kania-Schütz/S. Löden (Hg.), Zur Geschichte der Volkskunde, Dresden 2002, S. 179-201. – DBA II, III; DBE 4, S. 238.

Porträt Porträt Anton G., in: G. Hermann (Hg.), Anton G. Eine Auswahl seiner Gedichte, Lieder, Sprüche und Geschichten, Leipzig 1955 (Bildquelle).

Dieter Herz
27.8.2004


Empfohlene Zitierweise:
Dieter Herz, Artikel: Anton Günther,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/9415 [Zugriff 6.11.2024].