Adolf Jellinek

Adolf Jellinek genoss bereits zu Lebzeiten den Ruf eines herausragenden jüdischen Gelehrten und Kanzelredners. Im Entstehungsprozess der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig und beim Bau der ersten Leipziger Synagoge spielte er eine wichtige Rolle. Mit seinem Wechsel nach Wien wurde er für das österreichische und besonders das Wiener Judentum zu einer zentralen Figur und darüber hinaus zu einem Vordenker eines gemäßigt-liberalen Judentums. – Geboren wurde Jellinek in einem mährischen Dorf unweit der Stadt Ungarisch Brod (tschech. Uherský Brod) als ältester von drei Brüdern, die jeder auf eigene Weise auf sich aufmerksam machen sollten. Er durchlief eine Erziehung nach traditionell jüdischem Brauch, für die nach dem frühen Tod der Mutter Sarah Jellineks Großmutter Rebekka Back verantwortlich war. Als 6-Jähriger besuchte er den Cheder in Ungarisch Brod und erhielt ersten Unterricht bei einem Synagogendiener. Im Alter von 11 bis 13 Jahren ging Jellinek dann zum Talmudstudium bei dem Rabbiner David Buchheim und in die deutsche Schule in Ungarisch Brod, um anschließend an die Jeschiwa von Moses Katz Wanefried in Prossnitz (tschech. Prostějov) zu wechseln. Dort bildete er sich bei dem Arzt und Privatgelehrten Gideon Brecher in Französisch, Italienisch und den Wissenschaften. Mit 18 Jahren wechselte Jellinek 1838 nach Prag an die Jeschiwa bei Eisig Radisch, besuchte zugleich als Gasthörer die Universität und war als Hauslehrer tätig. – Als richtungsweisend für Jellineks religiöses Grundverständnis sollte sich sein Umzug nach Leipzig erweisen, das als Messestadt ein internationaler Anziehungspunkt für jüdische Menschen verschiedener Denkrichtungen war. Spätestens hier dürfte Jellinek auch mit Reformbestrebungen des Judentums in Kontakt gekommen sein. Nach dem Abitur an der Thomasschule ging Adolf, wie auch sein jüngerer Bruder Hermann, an die Leipziger Universität, wo er ab dem 17.10.1842 unter der Matrikelnummer 230 eingeschrieben war. Adolf studierte Philosophie und Philologie, befasste sich mit orientalischen Sprachen und schrieb erste Beiträge für die von seinem Dozenten Julius Fürst herausgegebene Zeitschrift „Der Orient“. Dabei sprach er sich für ein liberales und modernes Judentum aus, ohne einem vollständigen Bruch mit der jüdischen Tradition das Wort zu reden. 1844 bis 1846 trat Jellinek als Mitarbeiter des Leipziger „Sabbath-Blattes für Belehrung, Unterhaltung und Erkenntnis jüdischer Zustände“ auf. Ab 1845 begann Jellinek in Leipzig mit Unterstützung seines Mentors Fürst in der als liberal geltenden Leipzig-Berliner Synagoge zu predigen, im gleichen Jahr wurde er auch bereits als Religionslehrer bezeichnet. Wenige Monate nach der offiziellen Gründung der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig im Juni 1847 wählte ihn diese per Stimmenmehrheit zu ihrem Religionslehrer. Mangels eigener Synagoge bildete Jellinek ab dem 5.4.1848 gemeinsam mit Veit Meyer ein Komitee zur Einrichtung einer Betstätte und im August bestimmte ihn die Gemeinde in Leipzig zu ihrem angestellten Prediger. Als großer Erfolg seiner Leipziger Zeit kann der Bau der am 10.9.1855 durch ihn eingeweihten Gemeindesynagoge an der Ecke Gottschedstraße/Zentralstraße gesehen werden, wo er sich zuletzt noch erfolgreich für die Einführung deutscher Gesänge im Gottesdienst stark machte. Kurze Zeit später folgte er einem Ruf als Prediger nach Wien, während in Leipzig Abraham Meyer Goldschmidt sein Nachfolger als Prediger wurde. – Noch in Leipzig zählte Jellinek im April 1848 zu den Initiatoren eines kirchlichen Vereins zur interkonfessionellen Verständigung. Auch in Wien setzte er seine Linie moderater Reformbestrebungen fort, indem er sich dafür aussprach, Juden angemessen in Staat und Gesellschaft zu integrieren, ohne dass es zu einer Preisgabe religiöser, ethischer und sozialer Ideale kommen sollte. Jellinek kritisierte das konservative Judentum ebenso wie radikale Reformbestrebungen. In einer großen Artikelreihe für die Zeitschrift „Der Orient“ äußerte er sich über das österreichische Judentum, seinen inneren Zustand und dessen Aussichten für die Zukunft. Jellinek trat in Wien als Gründer des säkularen Lehrhauses Beth Hamidrasch hervor, mahnte immer wieder Änderungen in der traditionellen Liturgie an und setzte diese durch. Trotz scharfer Kritik durch die jüdische Orthodoxie blieb er lebenslang von seinem Ansatz eines jüdischen Universalismus überzeugt. Dem aufkommenden Zionismus Ende des 19. Jahrhunderts, der in seiner Wahrnehmung die „Andersartigkeit“ der Juden zementierte statt aufhob, stand er ablehnend gegenüber. Zum Zeitpunkt seines Tods galt Jellinek als eines der wichtigsten Sprachrohre des in religiöser und politischer Hinsicht liberalen Judentums in Österreich. Er erhielt ein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof. – Jellineks Suche nach einem Mittelweg im Spannungsfeld von jüdischer Tradition und dem Bekenntnis zur deutschen Kulturnation sowie seine schon in Leipzig begonnene Laufbahn als Prediger hatten frühzeitig zu einer Entfremdung von seinem jüngeren Bruder Hermann geführt. Adolf verfolgte eine grundsätzlich gesellschafts- wie auch religionspolitisch gemäßigte Strategie, wenn er eine Akkulturation und Anpassung der Juden an die Gesellschaft forderte, die mit einer Zurückdrängung von Diskriminierung, Feindseligkeit und Vorurteilen gegen diese einhergehen sollte. Mögliche Umbrüche in der bisherigen Rechts- und Gesellschaftsordnung begrüßte er als Wegbereiter für eine komplette Gleichstellung der Juden in sozialer und staatsbürgerlicher Hinsicht. Adolfs Bruder Hermann hingegen radikalisierte sich politisch und veröffentlichte als linker Journalist in Wien prorevolutionäre Artikel. Wegen seiner aktiven Rolle bei der Revolution wurde er im November 1848 durch ein Militärgericht zum Tod verurteilt und erschossen. Auch der dritte Bruder Moritz stand zunächst politisch links und flüchtete nach der 1848er-Revolution aus Österreich nach Ungarn, wo er in Budapest später wirtschaftlich sehr erfolgreiche und zukunftsweisende Projekte initiierte. – In der heutigen Rezeption gilt Jellinek als bedeutsamer Vordenker für die Vision eines reformierten Judentums mit Anpassungsfähigkeit an die vielseitigen Umbrüche der Moderne. Er hinterließ ein äußerst umfangreiches Werk an Beiträgen zur jüdischen Religionsgeschichte und Religionsphilosophie, der Kabbala, Mystik und Homiletik. – 1850 hatte Adolf Jellinek in Leipzig im Alter von etwa 30 Jahren geheiratet, aus der Ehe gingen neben zwei Töchtern drei Söhne hervor, die, jeder auf seine Weise, eine nachhaltige Wirkung entfaltet haben. Georg Jellinek war einer der bedeutendsten Staatsrechtler und -theoretiker des frühen 20. Jahrhunderts. Die Tochter seines Sohns Emil, Mércèdes Jellinek, wurde zur Namensgeberin des gleichnamigen Automobils.

Quellen Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem, D/Le1/9-11; Universitätsarchiv Leipzig, Rep. M 22 1842, Rep. M. 23 1848.

Werke Śefat ḥakāmim oder Erklärung der in den Talmuden etc. vorkommenden persischen und arabischen Wörter, Leipzig 1846; Kleine Schriften zur Geschichte der Kabbala, Leipzig 1851-1854 (ND Hildesheim/Zürich/New York 1988); Philosophie und Kabbala, Leipzig 1854; Predigten, 3 Bde. Norderstedt 1862 (ND 2017); Gesammelte Predigten, 3 Bde., Wien 1862-1866; Gedächtnissrede: Auf die im letzten Kriege gefallenen Soldaten israelitischer Religion, Norderstedt 1867 (ND 2022); Der jüdische Stamm. Ethnographische Studien, Wien 1869.

Literatur Gustav Cohn, Die Entwicklung der gottesdienstlichen Verhältnisse bis zur Einrichtung der Synagoge, in: Geschichte und Leben der Juden in Leipzig. Festschrift zum 75jährigen Bestehen der Leipziger Gemeindesynagoge, hrsg. von der Ephraim Carlebach Stiftung, Berlin 1994, S. 43-55; Klaus Kempter, Adolf Jellinek und die jüdische Emanzipation. Der Prediger der Leipziger jüdischen Gemeinde in der Revolution 1848/49, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 8/1998, H. 1, S. 179-191; ders., Die Jellineks 1820-1955. Eine familienbiographische Studie zum deutschjüdischen Bildungsbürgertum, Düsseldorf 1998; Josef Reinhold, Zwischen Aufbruch und Beharrung. Juden und jüdische Gemeinde in Leipzig während des 19. Jahrhunderts, Dresden 1999; Björn Siegel, Facing Tradition. Adolf Jellinek and the emergence of modern Habsburg Jewry, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 8/2009, S. 319-344; Katrin Löffler, Gründung der jüdischen Gemeinde, in: Susanne Schötz (Hg.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 3: Vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg, Leipzig 2018, S. 354-358; Hans-Martin Moderow, Schulwesen, in: ebd., S. 330-338; Henner Kotte, Jüdisches Sachsen. 99 besondere Geschichten, Halle/Saale 2021; Tina Walzer, Dem Prediger Adolf Jellinek zum 200. Geburtstag, in: David. Jüdische Kulturzeitschrift 129/2021; Samuel Joseph Kessler, The Formation of a Modern Rabbi. The Life and Times of the Viennese Scholar and Preacher Adolf Jellinek, Providence 2022 – ADB 50, S. 647-649; DBE II 5, S. 331; NDB 10, S. 391.

Porträt Adolf Jellinek, Artist. Lithogr. Kunst-Anstalt Schilling & Weber in Wien, 1891, Kupferstich, Österreichische Nationalbibliothek Wien, Porträtsammlung, Inventar-Nr. PORT_00137027_01 POR MAG (Bildquelle).

Lucas Böhme
22.7.2025


Empfohlene Zitierweise:
Lucas Böhme, Artikel: Adolf Jellinek,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27891 [Zugriff 9.8.2025].

Adolf Jellinek



Quellen Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem, D/Le1/9-11; Universitätsarchiv Leipzig, Rep. M 22 1842, Rep. M. 23 1848.

Werke Śefat ḥakāmim oder Erklärung der in den Talmuden etc. vorkommenden persischen und arabischen Wörter, Leipzig 1846; Kleine Schriften zur Geschichte der Kabbala, Leipzig 1851-1854 (ND Hildesheim/Zürich/New York 1988); Philosophie und Kabbala, Leipzig 1854; Predigten, 3 Bde. Norderstedt 1862 (ND 2017); Gesammelte Predigten, 3 Bde., Wien 1862-1866; Gedächtnissrede: Auf die im letzten Kriege gefallenen Soldaten israelitischer Religion, Norderstedt 1867 (ND 2022); Der jüdische Stamm. Ethnographische Studien, Wien 1869.

Literatur Gustav Cohn, Die Entwicklung der gottesdienstlichen Verhältnisse bis zur Einrichtung der Synagoge, in: Geschichte und Leben der Juden in Leipzig. Festschrift zum 75jährigen Bestehen der Leipziger Gemeindesynagoge, hrsg. von der Ephraim Carlebach Stiftung, Berlin 1994, S. 43-55; Klaus Kempter, Adolf Jellinek und die jüdische Emanzipation. Der Prediger der Leipziger jüdischen Gemeinde in der Revolution 1848/49, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 8/1998, H. 1, S. 179-191; ders., Die Jellineks 1820-1955. Eine familienbiographische Studie zum deutschjüdischen Bildungsbürgertum, Düsseldorf 1998; Josef Reinhold, Zwischen Aufbruch und Beharrung. Juden und jüdische Gemeinde in Leipzig während des 19. Jahrhunderts, Dresden 1999; Björn Siegel, Facing Tradition. Adolf Jellinek and the emergence of modern Habsburg Jewry, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 8/2009, S. 319-344; Katrin Löffler, Gründung der jüdischen Gemeinde, in: Susanne Schötz (Hg.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 3: Vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg, Leipzig 2018, S. 354-358; Hans-Martin Moderow, Schulwesen, in: ebd., S. 330-338; Henner Kotte, Jüdisches Sachsen. 99 besondere Geschichten, Halle/Saale 2021; Tina Walzer, Dem Prediger Adolf Jellinek zum 200. Geburtstag, in: David. Jüdische Kulturzeitschrift 129/2021; Samuel Joseph Kessler, The Formation of a Modern Rabbi. The Life and Times of the Viennese Scholar and Preacher Adolf Jellinek, Providence 2022 – ADB 50, S. 647-649; DBE II 5, S. 331; NDB 10, S. 391.

Porträt Adolf Jellinek, Artist. Lithogr. Kunst-Anstalt Schilling & Weber in Wien, 1891, Kupferstich, Österreichische Nationalbibliothek Wien, Porträtsammlung, Inventar-Nr. PORT_00137027_01 POR MAG (Bildquelle).

Lucas Böhme
22.7.2025


Empfohlene Zitierweise:
Lucas Böhme, Artikel: Adolf Jellinek,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27891 [Zugriff 9.8.2025].