Henriette Ephraim

Henriette Ephraim gehörte durch ihre Ehe mit dem Eisenhändler und Görlitzer Mäzen Lesser Ephraim zu den angesehensten Mitgliedern sowohl der jüdischen Gemeinde als auch der Stadtgesellschaft von Görlitz. Sie trat v.a. als Wohltäterin und Unterstützerin der jüdischen Frauenorganisation auf. – Ephraim wurde 1826 im schlesischen Grünberg (poln. Zielona Góra) geboren. Die Familie ihres Vaters, Louis Philippson, engagierte sich in der Haskala-Bewegung. Die Haskala entstand Ende des 18. Jahrhunderts und war Teil der europäischen Aufklärungsbewegung, die sich gegen die kulturelle und gesellschaftliche Isolation der jüdischen Gemeinschaft wendete. Ein Cousin ersten Grads ihres Vaters war der bekannte Magdeburger Rabbiner und Autor Ludwig Philippson - eine Person, mit der Ephraim ihr ganzes Leben lang verbunden bleiben sollte. – Ephraims 1838 verfasstes Tagebuch gibt einen einzigartigen Einblick in das Leben eines jüdischen Mädchens im preußischen Königreich - insbesondere in ihre Bildungsbemühungen. Aus dem Tagebuch ist zu entnehmen, dass Ephraim mit ihrer Mutter und ihren Schwestern in Grünberg lebte, während ihr Vater und ihr Bruder Louis Zacharias Philippson in Magdeburg lebten; die seltenen Gelegenheiten, bei denen die Familie wieder vereint war, wurden als Wiedersehen gefeiert. Ephraim und ihre Schwestern Jeanette und Ulrike wurden auf eine Mädchenschule in der Stadt geschickt, wo sie eine allgemeine Bildung erhielten, von Naturstudien mit Ausflügen in die schlesische Landschaft über Religionsunterricht, Philosophie, Handarbeit bis hin zu Geschichte (der Anfang ihres Tagebuchs beginnt mit einem sehr detaillierten Aufsatz über das Leben des deutschen Philosophen und Dramatikers Gotthold Ephraim Lessing). In ihrem Tagebuch berichtet Ephraim auch über zeitgenössische historische Ereignisse, darunter die Auswanderung vieler, sich als verfolgt bezeichneten Christen (vermutlich ist hier die Emigration der Altlutheraner gemeint) aus der Region Grünberg nach Amerika oder den Besuch der russischen Zarin Alexandra Fjodorwna in Grünberg im Juni 1838. Darüber hinaus diskutierte sie in vielen Einträgen die soziale Situation der damaligen Zeit. Diese sind von besonderer Bedeutung, da Ephraim in ihrem späteren Leben selbst als eine große Philanthropin hervortrat. So schrieb Ephraim u.a. am 25.6.1838 über den Nutzen der Erfindung der Eisenbahn, wobei sie gleichzeitig die Bedeutung von Sicherheitsstandards betonte, nachdem sie von einem Unfall mit einem Dampfwagen gehört hatte, bei dem mehrere Arbeiter verletzt oder gar getötet wurden. Aufgrund solcher Kindheitserfahrungen nahm Ephraim später zweifellos Einfluss auf ihren Ehemann Lesser Ephraim, der als erfolgreicher Eisenhändler eng mit dem deutschen Eisenbahnbau verbunden war. In ihrem Tagebuch behandelte sie auch andere soziale Themen, darunter den Brandschutz in Städten und Strategien zur Verbesserung der Sicherheit im Bauwesen, medizinische Probleme der damaligen Zeit, einschließlich der zeitgenössischen Krankheitsepidemien, den weit verbreiteten Hunger und die negativen Auswirkungen des Alkoholmissbrauchs auf die Gesellschaft. – Am 25.3.1851 heiratete Ephraim den Kaufmann Lesser Ephraim. Nicht lange nach ihrer Hochzeit zog das Ehepaar 1852 nach Görlitz. Die Familie Ephraim war damit eine der ersten Familien, die sich nach der Aufhebung des Verbots jüdischer Besiedlung 1847 in der Stadt ansiedelte. Beide wurden zu wichtigen Akteuren der neu entstandenen jüdischen Gemeinde der Stadt. Während ihr Ehemann dem ersten Vorstand der jüdischen Gemeinde angehörte, war Ephraim Gründungsmitglied der jüdischen Frauenorganisation, die später den Namen Jüdischer Frauenhilfsverein erhielt. In Görlitz gründete Lesser Ephraim die Ephraim Eisenhandelsgesellschaft, ein Handelsunternehmen für verschiedene Eisenwaren. Da die Geschäfte gut liefen, erwarb das Ehepaar 1864 ein größeres Grundstück in der Jakobstraße 5 im Zentrum von Görlitz und zog aus ihren ursprünglichen Räumlichkeiten auf der Neißstraße 25 aus. An dieses Anwesen erinnert eine Bleiverglasung in der Jugendstilvilla, die Ephraims Sohn Martin Ephraim später im Görlitzer Stadtteil Süd in der Goethestraße 17 errichten ließ. Das Anwesen in der Jakobstraße mit dem markanten goldenen Tor, wo Ephraim den Rest ihres Lebens verbrachte, kann noch heute besichtigt werden. – Ephraim war ein engagiertes Mitglied des Jüdischen Frauenhilfsvereins, in dessen Vorstand sie 1864 bis zum Tod ihres Ehemanns 1900 war. Als Mitglied half Ephraim bei der Beschaffung von Geldern, die für den Bau der Synagoge in der Langenstraße 24 verwendet werden sollten. Nachdem der Zweck, den Bau der Synagoge zu unterstützen, mit der erfolgreichen Fertigstellung der Synagoge erfüllt war, nahmen sich Ephraim und andere Frauen im Verein einer neuen Aufgabe an: der Unterstützung armer jüdischer Frauen und Mädchen in Görlitz zur Verbesserung ihrer Erwerbsfähigkeit. Die Bemühungen des Vereins wurden vom Görlitzer Rabbiner Siegfried Freund nachdrücklich unterstützt. Angesichts der humanitären Neigungen, die sich bereits in ihrem Tagebuch zeigten, ist ihr Engagement für ein besseres Wohlergehen in der Gesellschaft (insbesondere für jüdische Frauen) kaum überraschend. Ephraim fungierte zudem als Bindeglied zwischen der neuen jüdischen Gemeinde in Görlitz und ihrem Cousin Ludwig Philippson, der die Gemeinde in ihren Anfangstagen mit seinem Rat maßgeblich unterstützte. – Durch die Ernennung Lesser Ephraims zum Kommerzienrat der Stadt Görlitz durch Kaiser Wilhelm I. wurde auch Henriette Ephraim als „Frau Kommerzienrat Henriette Ephraim“ bekannt. Gemeinsam trat das Ehepaar für wohltätige Zwecke ein: Sie spendeten der Naturforschenden Gesellschaft zu Görlitz (heute Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz) eine bedeutende Sammlung von Weichtieren, die sie 1873 aus dem Nachlass des Juristen Carl Edmund Lepsius erworben hatten. Diese ergänzten andere Gegenstände, die das Paar 1865 übergeben hatte, z.B. einen Albatros, einen Flamingo und eine seltene Elster. Zudem spendete das Ehepaar auch für eine Reihe von Unternehmungen der jüdischen Gemeinde sowie für Organisationen, die sich für das Gemeinwohl in der Stadt Görlitz einsetzten. 1896 gründete Martin Ephraim, der zu diesem Zeitpunkt die Leitung des Eisenhandelsunternehmens der Familie übernommen hatte, zu Ehren des 70. Geburtstags seiner Mutter die Henriette-Ephraim-Stiftung. Er übertrug der Stadtverwaltung von Görlitz ein Stiftungskapital von 10.000 Mark, dessen Zinsen zur Unterstützung bedürftiger Einwohner und verheirateter Frauen im Wochenbett, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, verwendet werden sollten. – Nach dem Tod ihres Ehemanns 1900 zog sich Ephraim weitgehend aus dem öffentlichen Leben zurück. Nach einer schweren Krankheit verstarb sie an ihrem 78. Geburtstag am 12.4.1904. In einem Nachruf wird Ephraim als eine der angesehensten und besten Frauen der Stadt Görlitz und der jüdischen Gemeinde beschrieben. Ephraim wurde zusammen mit ihrem Ehemann auf dem Jüdischen Friedhof in der Biesnitzer Straße in Görlitz beigesetzt. Sie hinterließ ihre beiden Kinder Ida und Martin, die beide ein äußerst erfolgreiches Leben führten und Ephraim mit vielen Enkelkindern beschenkten, von denen einige die Schrecken des Holocaust überlebten. Ihr Sohn Martin Ephraim wurde 1944 im KZ [Theresienstadt (tschech. Terezín) #ognd 4078255-4] ermordet.

Quellen Chronik und Personenstandsregister der Synagogen-Gemeinde Görlitz 1864-1932, hrsg. von der Gesellschaft für Christlich-jüdische Zusammenarbeit in Görlitz, 2008; Siegfried Freund, Zur silbernen Hochzeits-Feier des Herrn Kommerzienrat Lesser Ephraim und Frau Henriette geb. Philippson, Görlitz 1876; ders., Rede am Sarge des Königl. Kommerzienrats Herrn Lesser Ephraim in Görlitz, Görlitz 1900; Von Nah und Fern, in: Gemeindebote. Beilage zur Allgemeinen Zeitung des Judenthums 1.5.1896, S. 4; Tim Locke, The Ephraims and the Neumeyers.

Werke Tagebuch, 1838, Leo Baeck Institute New York, AR 2679: Ludwig Philippson Family Collection.

Porträt Frau Kommerzienrat Henriette Ephraim geb. Philippson & Kommerzienrat Lesser Ephraim, Görlitz, Fotografie, Privatsammlung Tim Locke, Großbritannien (Bildquelle).

Lauren Leiderman
5.9.2025


Empfohlene Zitierweise:
Lauren Leiderman, Artikel: Henriette Ephraim,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/29460 [Zugriff 7.10.2025].

Henriette Ephraim



Quellen Chronik und Personenstandsregister der Synagogen-Gemeinde Görlitz 1864-1932, hrsg. von der Gesellschaft für Christlich-jüdische Zusammenarbeit in Görlitz, 2008; Siegfried Freund, Zur silbernen Hochzeits-Feier des Herrn Kommerzienrat Lesser Ephraim und Frau Henriette geb. Philippson, Görlitz 1876; ders., Rede am Sarge des Königl. Kommerzienrats Herrn Lesser Ephraim in Görlitz, Görlitz 1900; Von Nah und Fern, in: Gemeindebote. Beilage zur Allgemeinen Zeitung des Judenthums 1.5.1896, S. 4; Tim Locke, The Ephraims and the Neumeyers.

Werke Tagebuch, 1838, Leo Baeck Institute New York, AR 2679: Ludwig Philippson Family Collection.

Porträt Frau Kommerzienrat Henriette Ephraim geb. Philippson & Kommerzienrat Lesser Ephraim, Görlitz, Fotografie, Privatsammlung Tim Locke, Großbritannien (Bildquelle).

Lauren Leiderman
5.9.2025


Empfohlene Zitierweise:
Lauren Leiderman, Artikel: Henriette Ephraim,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/29460 [Zugriff 7.10.2025].