Willy Gehler

G. war einer der bedeutendsten deutschen Bauingenieure in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er zählt neben Emil Mörsch zu den wissenschaftlichen Pionieren des Stahlbetonbaus. Seine Dissertation zum Thema „Beitrag zur Berechnung der Rahmen“ gilt als Grundlage für die Entwicklung praxistauglicher Bemessungsverfahren und lieferte das basistheoretische Fundament des Verschiebungsgrößenverfahrens. – G. wuchs in Leipzig auf und machte dort 1896 sein Abitur. Er begann zuerst ein Studium der Naturwissenschaften in seiner Heimatstadt, ging jedoch wenig später an die Technische Hochschule (TH) Dresden. 1898 wechselte G. sein Fach und studierte fortan Bauingenieurwesen. 1900/1901 erlangte er den Grad eines Diplom-Ingenieurs und wurde 1902 Regierungsbaumeister. In dieser Funktion arbeitete er im Brückenbaubüro der Sächsischen Staatseisenbahn und war gleichzeitig Assistent der Ingenieurabteilung der TH Dresden. 1905 wechselte er zu dem auf Beton und Stahlbeton spezialisierten Bauunternehmen Dyckerhoff & Widmann, in dem er zuerst als Oberingenieur und 1911 bis 1913 als Technischer Direktor arbeitete. Während dieser Zeit war er u.a. an der Planung und am Bau des Gasbehälters III in Reick bei Dresden (1909) beteiligt. Außerdem übernahm er die Leitung beim Bau von zwei der damals bedeutendsten Stahlbetonbauten: der Jahrhunderthalle in Breslau (poln. Wrocław) sowie der Querbahnsteighalle des Leipziger Hauptbahnhofs. Nach seiner Habilitation 1909 arbeitete G. bis 1913 als Privatdozent an der TH Dresden. 1913 übernahm er den Lehrstuhl seines ehemaligen Lehrers Christoph Mehrtens und war 1913 bis 1945 Ordentlicher Professor für Festigkeitslehre, Baustofflehre, Baustatik sowie Stahlbrückenbau. – Während des Ersten Weltkriegs war G. im Technischen Stab des Kriegsamts eingesetzt und leitete ab 1916 die Bautenprüfstelle. Neben dem Dresdner Ingenieur Kurt Beyer arbeiteten auch der Architekt Paul Baumgarten und Peter Behrens unter G. in Berlin. G. nahm nicht an Kampfhandlungen teil, erhielt jedoch für seinen Einsatz in der Bautenprüfstelle das Eiserne Kreuz am weißen Band. – 1918 kehrte G. an die TH Dresden zurück und übernahm bis 1945 die Leitung der bautechnischen Abteilung im Versuchs- und Materialprüfungsamt. Ab 1926 erwirkte er bei der Universitätsleitung, dass die Lehre in enger Kooperation mit dem Materialprüfungsamt durchgeführt wurde. Darüber hinaus engagierte sich G. hochschulpolitisch: Er arbeitete an dem Entwurf eines neuen Hochschulstatuts mit, war Mitbegründer des Dresdner Hochschulvereins (1919) und Leiter der studentischen Wirtschaftshilfe. Aufgrund seines Engagements wurde G. 1926 zum Ehrenmitglied der Studentenschaft der TH Dresden ernannt. Zudem war er seit 1925 Mitglied der Preußischen Akademie des Bauwesens. – 1919 bis 1920 war G. Mitglied der DVP. 1934 wurde er in die NSDAP aufgenommen, nachdem er den Mitgliedsantrag bereits ein Jahr zuvor gestellt hatte. Im November 1933 unterzeichnete er das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“. Im Studienjahr 1935/1936 wurde G. als Vorstand der Bauingenieur-Abteilung Teil der Hochschulleitung. Zudem besaß G. den Status eines „fördernden Mitglieds der SS“. Seine Arbeit im Dritten Reich umfasste u.a. Gutachtertätigkeiten für Junkers Flugzeug- und Motorenwerke und die Braunkohle-Benzin AG (Brabag). Unter seiner Leitung führte das Versuchs- und Materialprüfungsamt ab 1933 Schussversuche mit kleinkalibriger Munition durch. Zahlreiche Bezüge zur nationalsozialistischen Ideologie in seinen Vorträgen und seine Zugehörigkeit zum sogenannten Keppler-Kreis (später Freundeskreis Reichsführer SS) verdeutlichen, dass G. durchaus als Unterstützer und nicht nur als Mitläufer des Nationalsozialismus zu bewerten ist, was auch von der jüngeren Forschung hervorgehoben wird. – Im Zuge der Entnazifizierung wurde G. 1945 aus dem Hochschuldienst entlassen. Seine Rehabilitierung erfolgte auf Basis von Stellungnahmen zu seiner Person u.a. von Emil Högg, Wolfgang Neuffer, Wilhelm Külz und Kurt Beyer. Anschließend war er als Hilfsarbeiter unter Beyer im Versuchs- und Materialprüfungsamt tätig und erhielt in dieser Funktion Forschungsaufträge von der SMAD, besonders im Bereich des Stahlsaitenbetons. Ab 1947 war G. Leiter des Landesausschusses Sachsens für Normung und Typung im Bauwesen. Im Jahr darauf trat G. in die Liberal-Demokratische Partei (LDP), später LDPD, ein. 1950 wurde ihm für seine Leistungen vom Deutschen Beton-Verein die Emil-Mörsch-Denkmünze verliehen. G. starb 1953 an Herzversagen.

Quellen Technische Universität Dresden, Universitätsarchiv, Altbestand der TH Dresden bis 1945, A/270, Personalakte Prof. G., Altbestand der TH Dresden bis 1945, A/316, Handakte Prof. G., Nr. 3854, Willy G.; Stadtarchiv Dresden, Standesamt III Personenstandsbuch - Eheregister Nr. 125, Standesamt V Personenstandsbuch - Sterberegister Nr. 116/53.

Werke Beitrag zur Berechnung und Beobachtung von Nebenspannungen eiserner Fachwerkbrücken, Berlin 1909; mit Theodor Gesteschi/Otto Colberg (Bearb.), Handbuch für Eisenbetonbau, Bd. 6: Brückenbau. Balkenbrücken, Bogenbrücken. Anwendung des Eisenbetons im Eisenbrückenbau, hrsg. von Friedrich Ignaz von Emperger, Berlin 21911, ab 31931: Balkenbrücken; Der Rahmen. Einfaches Verfahren zur Berechnung von Rahmen aus Eisen und Eisenbeton mit ausgeführten Beispielen, Berlin 1913, ab 31925: Der Rahmen. Ein Hilfsbuch zur Berechnung von Rahmen aus Eisen und Eisenbeton mit ausgeführten Beispielen; Die Jahrhunderthalle in Breslau, Berlin 1914; Erläuterungen zu Eisenbetonbestimmungen mit Beispielen, Berlin 1916, ab 61952: mit Christian Palen, Erläuterungen zu Stahlbetonbestimmungen; Die Normung im Bauwesen, in: Bauingenieur 1/1920, H. 23, S. 17f., H. 24, S. 23f.; Die Erkenntnisse der Knickversuche mit Stahlbeton, Berlin 1952; Knickversuche mit Stahlbeton, Berlin 1954.

Literatur Albrecht Geuther, 75 Jahre DIN. 1917-1992. Ein Haus mit Geschichte und Zukunft, Berlin/Köln 1992; Thomas Hänseroth, Ein Fachmann für alle politischen Fälle? Die Karrieren des Dresdner Bauingenieurs Willy G., in: ders. (Hg.), Technik und Wissenschaft als produktive Kräfte der Geschichte. Rolf Sonnemann zum 70. Geburtstag, Dresden 1998, S. 207-219; Falk Hensel, Der Wiederbeginn an der Technischen Hochschule Dresden 1945. Die Karrieren von Kurt Beyer und Willy G., München 2010; Manfred Curbach u.a., Genius and Nazi? Willy G. (1876-1953). A German Civil Engineer and Professor between Technical Excellence and Political Entanglements in the 20th century, in: Brian Bowen u.a. (Hg.), Proceedings of ICCH5. 5th International Congress on Construction History, Chicago 2015, S. 549-556; Manfred Curbach u.a. (Hg.), Willy G. Versuch einer Einordnung. Tagungsband zum Workshop in Dresden am 11. April 2017, Dresden 2018. – DBA II, III; DBE 3, S. 599; NDB 6, S. 135.

Anna Mattern
10.5.2021


Empfohlene Zitierweise:
Anna Mattern, Artikel: Willy Gehler,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1627 [Zugriff 25.11.2024].

Willy Gehler



Quellen Technische Universität Dresden, Universitätsarchiv, Altbestand der TH Dresden bis 1945, A/270, Personalakte Prof. G., Altbestand der TH Dresden bis 1945, A/316, Handakte Prof. G., Nr. 3854, Willy G.; Stadtarchiv Dresden, Standesamt III Personenstandsbuch - Eheregister Nr. 125, Standesamt V Personenstandsbuch - Sterberegister Nr. 116/53.

Werke Beitrag zur Berechnung und Beobachtung von Nebenspannungen eiserner Fachwerkbrücken, Berlin 1909; mit Theodor Gesteschi/Otto Colberg (Bearb.), Handbuch für Eisenbetonbau, Bd. 6: Brückenbau. Balkenbrücken, Bogenbrücken. Anwendung des Eisenbetons im Eisenbrückenbau, hrsg. von Friedrich Ignaz von Emperger, Berlin 21911, ab 31931: Balkenbrücken; Der Rahmen. Einfaches Verfahren zur Berechnung von Rahmen aus Eisen und Eisenbeton mit ausgeführten Beispielen, Berlin 1913, ab 31925: Der Rahmen. Ein Hilfsbuch zur Berechnung von Rahmen aus Eisen und Eisenbeton mit ausgeführten Beispielen; Die Jahrhunderthalle in Breslau, Berlin 1914; Erläuterungen zu Eisenbetonbestimmungen mit Beispielen, Berlin 1916, ab 61952: mit Christian Palen, Erläuterungen zu Stahlbetonbestimmungen; Die Normung im Bauwesen, in: Bauingenieur 1/1920, H. 23, S. 17f., H. 24, S. 23f.; Die Erkenntnisse der Knickversuche mit Stahlbeton, Berlin 1952; Knickversuche mit Stahlbeton, Berlin 1954.

Literatur Albrecht Geuther, 75 Jahre DIN. 1917-1992. Ein Haus mit Geschichte und Zukunft, Berlin/Köln 1992; Thomas Hänseroth, Ein Fachmann für alle politischen Fälle? Die Karrieren des Dresdner Bauingenieurs Willy G., in: ders. (Hg.), Technik und Wissenschaft als produktive Kräfte der Geschichte. Rolf Sonnemann zum 70. Geburtstag, Dresden 1998, S. 207-219; Falk Hensel, Der Wiederbeginn an der Technischen Hochschule Dresden 1945. Die Karrieren von Kurt Beyer und Willy G., München 2010; Manfred Curbach u.a., Genius and Nazi? Willy G. (1876-1953). A German Civil Engineer and Professor between Technical Excellence and Political Entanglements in the 20th century, in: Brian Bowen u.a. (Hg.), Proceedings of ICCH5. 5th International Congress on Construction History, Chicago 2015, S. 549-556; Manfred Curbach u.a. (Hg.), Willy G. Versuch einer Einordnung. Tagungsband zum Workshop in Dresden am 11. April 2017, Dresden 2018. – DBA II, III; DBE 3, S. 599; NDB 6, S. 135.

Anna Mattern
10.5.2021


Empfohlene Zitierweise:
Anna Mattern, Artikel: Willy Gehler,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1627 [Zugriff 25.11.2024].