Max Clara

Als Entdecker von nichtflimmernden bronchialen Epithelzellen, sog. Clara-Zellen (1937), erlangte C. innerhalb der anatomischen Wissenschaft bleibende Berühmtheit. Seinen verbalen Bekenntnissen zum Nationalsozialismus wurde dagegen kaum Bedeutung beigemessen. Neuere Forschungen machen jedoch deutlich, dass C. offenbar tiefer in die NS-Wissenschaftspolitik verwickelt war und auch nicht davor zurückschreckte, die administrative Gewaltherrschaft für seine wissenschaftlichen Versuche zu nutzen. Vor diesem Hintergrund forderten namhafte medizinische Fachzeitschriften 2012 die Umbenennung der nach ihm benannten „Clara-Zellen“ und unterzogen den zweifelhaften Ruhm C.s erstmals einer kritischeren Würdigung. – Nachdem C. 1917 das Abitur am Humanistischen Gymnasium Bozen (ital. Bolzano) abgelegt hatte, erlebte er als Kriegsteilnehmer die letzten beiden Jahre des Ersten Weltkriegs. In die Fußstapfen seines Vaters tretend, studierte er nach Kriegsende bis 1922 Medizin in Innsbruck und Leipzig. Bereits ein Jahr später wurde er im Fach Medizin an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck promoviert. Es folgten eine akademische Tätigkeit als Assistent für Histologie und Entwicklungsgeschichte des Menschen und ab 1924 als Praktischer Arzt in Blumau (ital. Prato all'Isarco) bei Bozen. Ab 1928 lebte C. in Italien, wo er noch im selben Jahr in Rom in den Fachbereichen Histologie und Allgemeine Embryologie habilitierte. Anschließend folgte er einem Ruf an die Universität Padua (ital. Padova) und wirkte dort ein Jahr lang als Privatdozent für Medizin. Kurz darauf nahmen ihn 1929 das Museo di storia naturale della Venezia Tridentina in Trient (ital. Trento) und 1930 die Academia scientifica Veneto-Trentino-Istriana in Padua als Korrespondierendes Mitglied auf. 1930 wurde er zudem Ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Bereits 1929 berief ihn die Universität Rom, an der er habilitiert hatte, zurück, und er verblieb dort bis 1935 als Privatdozent. – Mit der Anerkennung der deutschen Staatsbürgerschaft 1935 begann C.s Wirken in Leipzig, wo er bis 1941 als ordentlicher Professor für Anatomie an der Medizinischen Fakultät der Universität und bis 1942 als Direktor der Anatomischen Anstalt arbeitete. Neben seiner akademischen Karriere erwies sich C. als engagierter Befürworter der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik. Als Mitglied der NSDAP und des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbunds wurde er 1938 zum politischen Führer der deutschen Abordnung auf der Internationalen Anatomentagung in Mailand (ital. Milano) berufen, wirkte anschließend als kommissarischer Dozentenführer der Universität Leipzig und stieg 1941 zum Gaudozentenführer in Sachsen auf. Überdies wurde er 1940 von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 1940 als Mitglied aufgenommen. – Seine akademische Karriere erreichte mit einem Ruf an die Ludwig-Maximilians-Universität München, an der er zwischen 1941 und 1945 als ordentlicher Professor für Anatomie wirkte, seinen Höhepunkt. Aus dieser Zeit stammen auch seine bedeutendsten wissenschaftlichen Arbeiten, die heute aufgrund der besonderen Verbindungen C.s. zum NS-Regime in der Kritik stehen. Mindestens neun von 25 Publikationen aus der Zeit von 1935 bis 1945 basieren auf Experimenten mit Leichen von politischen Häftlingen. Als Lehrstuhlinhaber profitierte der Anatom nicht nur von der Belieferung wissenschaftlicher Institute mit „lebensfrischem Material“. Bereits eine Woche nach seinem Ruf an die Leipziger Universität setzte sich C. für die Aufweichung der seit 1877 bestehenden gesetzlichen Regelung ein, die die wissenschaftliche Verwendung von Leichnamen nicht ohne Einwilligung der Verwandten gestattete. 1936 wurden die gesetzlichen Änderungen vorgenommen. Zudem ist ein Fall bekannt, bei dem C. einem Häftling fünf Tage vor dessen Hinrichtung eine Vitamin-C-Tablette verabreichen ließ, um deren Wirkung nach dem Tod zu erforschen. Ungeachtet seines Bekenntnisses zum Nationalsozialismus darf nicht unerwähnt bleiben, dass sich C. durchaus auch für seine Doktoranden verwendete, wenn diese als sog. Halbjuden ins Visier der NS-Behörden gerieten. – Trotz seiner nationalsozialistischen Vergangenheit wurde C. nach dem Krieg von den Alliierten als „Mitläufer“ (Gruppe V) eingestuft. Dabei konnte er einen in den Quellen nicht bis ins Detail nachvollziehbaren Konflikt mit dem sächsischen Gauleiter Martin Mutschmann aus dem Jahr 1942 zum Beweis seiner angeblich aktiven widerständischen Haltung nutzen. Nach 1945 arbeitete C. als Praktischer Arzt und bis 1948 als Privatgelehrter. Die ordentliche Professur in München erhielt er dennoch und trotz mehrerer Anträge aufgrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit nicht zurück. Gleichwohl erlangte C. in Westeuropa einigen Ruhm. 1947 wurden die von ihm 1937 entdeckten bronchialen Epithelzellen von britischen Anatomen gewürdigt, 1955 lässt sich der Begriff „Clara-Zelle“ erstmals in der französischen Fachliteratur finden. C. übernahm zwar 1949 noch die Leitung der Abteilung für Experimentelle Morphologie am Universitätsklinikum München, wurde jedoch ein Jahr später aufgrund seiner internationalen Reputation nach Istanbul (Türkei) berufen. Damit ging C. ausgerechnet in ein Land, das für viele deutsche Wissenschaftler während des Nationalsozialismus zu einem bedeutenden Exilland geworden war. Aus türkischer Sicht stellte die Aufnahme C.s, obwohl sich die Türkei noch wenige Monate vor Kriegsende auf die Seite der Alliierten geschlagen hatte, keinen Widerspruch dar. Sein Nutzen für die Modernisierung des Landes wog offenkundig mögliche Zweifel auf. In Istanbul wirkte C. als Direktor des Morphologischen Instituts und 1950 bis 1952 als ausländischer Kontraktprofessor an der Medizinischen Fakultät der dortigen Universität.

Quellen Universität Leipzig, Universitätsarchiv, PA-SG 1024, PA 1291.

Werke Entwicklungsgeschichte des Menschen, Leipzig 1938, Heidelberg 61967; Die arterio-venösen Anastomosen. Anatomie, Biologie, Pathologie, Leipzig 1939, Wien 21956 (ND Mailand 1956 [ital.]); Das Nervensystem des Menschen. Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Leipzig 1942, 31959; Die Bestimmung des Geschlechtes beim Menschen, Leipzig 1943; Goethe’s Begriff des Urbildes im Lichte der modernen Entwicklungsgeschichte, Leipzig 1943; mit H. Debuch, Handbuch der Histochemie, Bd. 5, Teil 1: Biochemie der Fette und Lipoide, Stuttgart 1965; mit K. Herschel/H. Ferner, Atlas der normalen mikroskopischen Anatomie des Menschen, München/Berlin/Wien 1974.

Literatur A. Winkelmann/T. Noack, The Clara cell. A „Third Reich eponym?“, in: European Respiratory Journal 36/2010, H. 4, S. 722-727; C. Redies/S. Hildebrandt, Anatomie im Nationalsozialismus. Ohne jeglichen Skrupel, in: Deutsches Ärzteblatt 109/2010, S. 2413-2415; J. Gea u.a., Enfermedad de Wegener y células Clara. La eponimia y la dignidad médicas en medicina des aparato respiratorio, in: Archivos de Bronconeumologia 49/2013, S. 126f. – DBA II; M. Grüttner, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004, S. 35; Professorenkatalog der Universität Leipzig.

Porträt Max C., Fotografie, Universitätsarchiv Leipzig, N02144 (Bildquelle).

Christian Rau
10.6.2015


Empfohlene Zitierweise:
Christian Rau, Artikel: Max Clara,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/16802 [Zugriff 24.11.2024].

Max Clara



Quellen Universität Leipzig, Universitätsarchiv, PA-SG 1024, PA 1291.

Werke Entwicklungsgeschichte des Menschen, Leipzig 1938, Heidelberg 61967; Die arterio-venösen Anastomosen. Anatomie, Biologie, Pathologie, Leipzig 1939, Wien 21956 (ND Mailand 1956 [ital.]); Das Nervensystem des Menschen. Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Leipzig 1942, 31959; Die Bestimmung des Geschlechtes beim Menschen, Leipzig 1943; Goethe’s Begriff des Urbildes im Lichte der modernen Entwicklungsgeschichte, Leipzig 1943; mit H. Debuch, Handbuch der Histochemie, Bd. 5, Teil 1: Biochemie der Fette und Lipoide, Stuttgart 1965; mit K. Herschel/H. Ferner, Atlas der normalen mikroskopischen Anatomie des Menschen, München/Berlin/Wien 1974.

Literatur A. Winkelmann/T. Noack, The Clara cell. A „Third Reich eponym?“, in: European Respiratory Journal 36/2010, H. 4, S. 722-727; C. Redies/S. Hildebrandt, Anatomie im Nationalsozialismus. Ohne jeglichen Skrupel, in: Deutsches Ärzteblatt 109/2010, S. 2413-2415; J. Gea u.a., Enfermedad de Wegener y células Clara. La eponimia y la dignidad médicas en medicina des aparato respiratorio, in: Archivos de Bronconeumologia 49/2013, S. 126f. – DBA II; M. Grüttner, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004, S. 35; Professorenkatalog der Universität Leipzig.

Porträt Max C., Fotografie, Universitätsarchiv Leipzig, N02144 (Bildquelle).

Christian Rau
10.6.2015


Empfohlene Zitierweise:
Christian Rau, Artikel: Max Clara,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/16802 [Zugriff 24.11.2024].