Paul Germann

G. gehörte zu den bedeutenden völkerkundlichen Museumswissenschaftlern des Deutschen Reichs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Neben seiner vielfältigen Mitwirkung am Aufbau des 1869 gegründeten Museums für Völkerkunde zu Leipzig als wissenschaftlicher Einrichtung erbrachte er für seine Zeit bahnbrechende Leistungen auf dem Gebiet der afrikanischen Kunst- und Kulturgeschichte und der Erforschung bis dahin wenig bekannter Völker Nordliberias. – G. studierte 1903 bis 1910 an der Universität Leipzig Völkerkunde, Geschichte, Kunstgeschichte, Geografie und Psychologie u.a. bei den bedeutenden Universitätsgelehrten Karl Lamprecht (Universalgeschichte), Friedrich Ratzel (Anthropogeografie), Wilhelm Wundt (Völkerpsychologie) und August Schmarsow (Kunstwissenschaft). Er konzentrierte sich bald auf die Völkerkunde und wurde Schüler von Karl Weule, dem späteren Direktor des Museums für Völkerkunde zu Leipzig, der seit 1901 eine außerordentliche Professur für Völkerkunde am Institut für Geografie innehatte. Bereits als Student arbeitete G. in den afrikanischen Sammlungen des Museums. Er promovierte 1911 zum Thema „Das plastisch-figürliche Kunstgewerbe im Grasland von Kamerun“. Seine Anwendung kunstwissenschaftlicher Methoden auf die afrikanische Materie und die Untersuchung von Zusammenhängen zwischen sozialem bzw. geistigem Leben und den Charakteristika des plastischen Formenschatzes in Afrika waren wegweisend für die spätere Erforschung afrikanischer Kunst. Mit Untersuchungen zur Verbreitung von Formelementen, Stil- und Ornamentanalysen und Forschungen zur religiösen Bedeutung von plastischen Kunstwerken blieb G. zeitlebens dieser Forschungsrichtung verhaftet. 1912 wurde G. als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am Museum für den Bereich Afrika angestellt. 1913/14 nahm G. an einer ethnografisch-archäologischen Forschungsreise der Deutschen Innerafrikanischen Expedition unter der Leitung von Leo Frobenius nach Nordwestalgerien und Ostmarokko teil, wo er Felsbildforschungen durchführte, Grabanlagen (Tumuli) untersuchte und für das Museum eine umfangreiche ethnografische Sammlung der Berber anlegte. – Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem G. bei mehreren Fronteinsätzen verwundet worden war, wurde er 1920 Kustos der afrikanischen Sammlungen und leitete damit eine der größten Regionalabteilungen des Museums. Nach dem Umzug der Einrichtung 1926 vom alten in das neue Grassimuseum am Johannisplatz gelang es G., bis Ende 1935 die Inventarisierung der Afrikasammlungen, die bis dahin nur in Teilen erfolgt war, fast vollständig abzuschließen. Zahlreiche wissenschaftliche Beiträge waren Resultate dieser Tätigkeit, u.a. die Arbeit zur Formengenese und Klassifizierung der afrikanischen Wurfmesser. G. erarbeitete ferner bis zum Ende seiner Tätigkeit 1945 alle Afrikaausstellungen des Museums - Leistungen, die durch die Bombenangriffe und Zerstörung des Museums im Zweiten Weltkrieg wieder zunichte gemacht wurden. – Angeregt durch die Forschungsergebnisse des Leipziger Zoodirektors Johannes Gebbing, der 1926 durch Liberia gereist war, unternahm G. 1928/29 eine ethnografische Forschungsexpedition in die Gebiete der Gbande, Kissi und Loma im Waldland von Nordliberia. Die Expedition erfolgte im Auftrag des 1914 gegründeten Staatlich-sächsischen Forschungsinstituts für Völkerkunde der Universität Leipzig, wo er seit 1920 regelmäßig Lehrveranstaltungen zur Völkerkunde Afrikas hielt. Die umfassenden Forschungsergebnisse publizierte er in „Die Völkerstämme im Norden von Liberia“, eine Veröffentlichung, die bis heute als ethnografisches Standardwerk über diese Region gilt und G. internationale Anerkennung brachte. Die nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten angelegte ethnografische Sammlung ist in ihrer Vollständigkeit von außerordentlichem Seltenheitswert. – Während der Zeit des Nationalsozialismus gelangte G., der seit 1924 Mitglied in der Ortsgruppe Sargstedt der nationalistischen Vereinigung „Der Stahlhelm“ war, durch die Überführung dieses Verbands in corpore in die SA-Reserve und damit 1937 automatisch in die NSDAP. Seit dem Judenpogrom 1938 betrieb G. seinen Austritt aus der SA-Reserve, was er 1939 mithilfe eines gesundheitlichen Attests erreichte. Er entwickelte in den folgenden Jahren einen gefestigten antifaschistischen Standpunkt, der durch schriftliche Leumundszeugnisse von in der NS-Zeit verfolgten Antifaschisten glaubwürdig belegt ist. Die Bewahrung von Leben, Familie und Beruf setzte er jedoch wie viele Intellektuelle vor seinen Austritt aus der NSDAP. – Unter den verschlechterten Verhältnissen während des Zweiten Weltkriegs leistete G. aufopferungsvolle Tätigkeit zur Aufrechterhaltung des Museumsbetriebs, v.a. nach der Freistellung des Direktors Fritz Krause 1944, als ihm die Leitung des Museums übertragen wurde, ferner zur Rettung und Sicherung der Sammlungen, deren weitere Auslagerung er nach der Zerstörung des Museumsgebäudes unter schwersten Bedingungen leitete.

Quellen Museum für Völkerkunde zu Leipzig, Briefwechsel; Stadtarchiv Leipzig, Personalakte G.

Werke Das plastisch-figürliche Kunstgewerbe im Grasland von Kamerun, in: Jahrbuch des Städtischen Museums für Völkerkunde zu Leipzig 4/1911, S. 1-36; Afrikanische Wurfeisen und Wurfhölzer im Völkermuseum zu Leipzig, in: ebd. 8/1922, S. 41-50; Die afrikanische Kunst, in: A. Springer (Hg.), Handbuch der Kunstgeschichte, Bd. 6: Die außereuropäische Kunst, Leipzig 1929, S. 551-589; Entstehung und Inhalt der Zeichnungen von Kindern und Jugendlichen aus dem Waldland von Nordliberia, in: F. Krause (Hg.), Ethnologische Studien, Bd. 1, Halle/Saale 1931, S. 75-89; Die Völkerstämme im Norden von Liberia, Leipzig 1933; Hand und Elefantenrüssel in Westafrika, in: M. Hesch/G. Spannaus (Hg.), Kultur und Rasse, Berlin 1939, S. 290-297; Zur Ornamentik im Kunsthandwerk des Mittelsudan, in: W. Lang (Hg.), Von fremden Völkern und Kulturen, Düsseldorf 1955, S. 153-159; Negerplastiken aus dem Museum für Völkerkunde zu Leipzig, in: Beiträge zur afrikanischen Kunst 9/1958, S. 30-60.

Literatur L. Frobenius, Der kleinafrikanische Grabbau, in: Praehistorische Zeitschrift 8/1916, S. 1-84; ders., Verlauf der vierten Reiseperiode der Deutschen Inner-Afrikanischen Forschungsexpedition, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 62/1916, S. 12-16, 58-61, 98-100; ders./H. Obermaier, Hádschra Máktouba. Urzeitliche Felsbilder Kleinafrikas, München 1925; F. Krause, Chronik des Museums 1926-1945, in: Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig 10/1952, S. 1-46; F. Herrmann, Die afrikanische Negerplastik als Forschungsgegenstand, in: Beiträge zur afrikanischen Kunst 9/1958, S. 1-29; G. Blesse, Daten zur Geschichte des Museums für Völkerkunde zu Leipzig (1869-1994), in: Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig 40/1994, S. 24-71; C. Seige, Paul G. (1884-1966), in: ebd. 41/1997, S. 47-79 (WV).

Porträt Fotografie, Staatliche Ethnographische Sammlungen, Museum für Völkerkunde zu Leipzig, Archiv, Neg. Int. 483, 604 (Bildquelle).

Christine Seige
19.11.2004


Empfohlene Zitierweise:
Christine Seige, Artikel: Paul Germann,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/19503 [Zugriff 14.5.2024].

Paul Germann



Quellen Museum für Völkerkunde zu Leipzig, Briefwechsel; Stadtarchiv Leipzig, Personalakte G.

Werke Das plastisch-figürliche Kunstgewerbe im Grasland von Kamerun, in: Jahrbuch des Städtischen Museums für Völkerkunde zu Leipzig 4/1911, S. 1-36; Afrikanische Wurfeisen und Wurfhölzer im Völkermuseum zu Leipzig, in: ebd. 8/1922, S. 41-50; Die afrikanische Kunst, in: A. Springer (Hg.), Handbuch der Kunstgeschichte, Bd. 6: Die außereuropäische Kunst, Leipzig 1929, S. 551-589; Entstehung und Inhalt der Zeichnungen von Kindern und Jugendlichen aus dem Waldland von Nordliberia, in: F. Krause (Hg.), Ethnologische Studien, Bd. 1, Halle/Saale 1931, S. 75-89; Die Völkerstämme im Norden von Liberia, Leipzig 1933; Hand und Elefantenrüssel in Westafrika, in: M. Hesch/G. Spannaus (Hg.), Kultur und Rasse, Berlin 1939, S. 290-297; Zur Ornamentik im Kunsthandwerk des Mittelsudan, in: W. Lang (Hg.), Von fremden Völkern und Kulturen, Düsseldorf 1955, S. 153-159; Negerplastiken aus dem Museum für Völkerkunde zu Leipzig, in: Beiträge zur afrikanischen Kunst 9/1958, S. 30-60.

Literatur L. Frobenius, Der kleinafrikanische Grabbau, in: Praehistorische Zeitschrift 8/1916, S. 1-84; ders., Verlauf der vierten Reiseperiode der Deutschen Inner-Afrikanischen Forschungsexpedition, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 62/1916, S. 12-16, 58-61, 98-100; ders./H. Obermaier, Hádschra Máktouba. Urzeitliche Felsbilder Kleinafrikas, München 1925; F. Krause, Chronik des Museums 1926-1945, in: Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig 10/1952, S. 1-46; F. Herrmann, Die afrikanische Negerplastik als Forschungsgegenstand, in: Beiträge zur afrikanischen Kunst 9/1958, S. 1-29; G. Blesse, Daten zur Geschichte des Museums für Völkerkunde zu Leipzig (1869-1994), in: Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig 40/1994, S. 24-71; C. Seige, Paul G. (1884-1966), in: ebd. 41/1997, S. 47-79 (WV).

Porträt Fotografie, Staatliche Ethnographische Sammlungen, Museum für Völkerkunde zu Leipzig, Archiv, Neg. Int. 483, 604 (Bildquelle).

Christine Seige
19.11.2004


Empfohlene Zitierweise:
Christine Seige, Artikel: Paul Germann,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/19503 [Zugriff 14.5.2024].