Hermann Kastner
Nachdem K. 1904 bis 1908 in Berlin Jura und Volkswirtschaft studiert und 1909 in Jena promoviert hatte, war er in den Berliner Stadtverwaltungen von Lichtenberg und Neukölln sowie beim Berliner Magistrat tätig. 1917 erhielt er unter Verleihung des Professorentitels einen Ruf an die Fürst-Leopold-Akademie für Verwaltungswissenschaften in Detmold, wo er über Staats-, Verwaltungs- und Kommunalrecht las. 1920 ließ sich K. als Rechtsanwalt in Dresden nieder, wo er u.a. als Geschäftsführer des Allgemeinen Dresdner Einzelhandelsverbands, als Syndikus des Arbeitgeberverbands für den Einzelhandel und als Vermögensverwalter des Hauses Wettin arbeitete. – Schon früh zeigte K. politische Ambitionen. Er war Gründungsmitglied der Demokratischen Partei Deutschlands (DDP), deren Vorsitzender in Ostsachsen und vertrat die Partei zwischen 1922 und 1933 als Abgeordneter im Sächsischen Landtag. Inwieweit er sich in den folgenden Jahren mit dem nationalsozialistischen Regime arrangierte, ist unklar. Während er selbst angab, von der Gestapo verfolgt und zeitweise inhaftiert gewesen zu sein, finden sich in den Quellen auch Vorwürfe, K. habe aus der Notlage von Mandanten finanzielle Vorteile gezogen. Im Juni 1945 zum Präsidenten der sächsischen Anwalts- und Notarkammer ernannt, zählte K. zu den Gründungsmitgliedern der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD), in deren Vorstand er gewählt wurde. Er war ferner Vorsitzender des sächsischen Landesverbands der LDPD, für die er 1945 bis 1949 im Sächsischen Landtag saß. Am 14.12.1946 übernahm K. im Kabinett des Ministerpräsidenten Rudolf Friedrichs das Justizministerium, das er auch unter dessen Nachfolger Max Seydewitz bis zum 10.4.1948 behielt, bevor er als Leiter des Fachsekretariats Finanzen, Post und Fernmeldewesen in die Deutsche Wirtschaftskommission nach Berlin wechselte. – Zusammen mit Persönlichkeiten wie Johannes Dieckmann,
Karl Hamann und Wilhelm Külz spielte K. eine zentrale Rolle in der Gründungsgeschichte des Liberalismus der sowjetischen Besatzungszone (SBZ), wo er als Wortführer einer engen deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit rasch Karriere machte. Seit September 1945 im Zentralvorstand der LDPD, war K. ab Juli 1947 zweiter stellvertretender Vorsitzender, nach dem Tod Külz’ im April 1948 rückte er zum ersten stellvertretenden Vorsitzenden auf. Im Februar 1949 wurde er schließlich zusammen mit Hamann zum gleichberechtigten Vorsitzenden der LDPD der SBZ gewählt. Für die LDPD übernahm K. ferner, gemeinsam mit
Wilhelm Pieck (SED) und
Otto Nuschke (CDUD), das Präsidentenamt des Deutschen Volksrats. 1949 berief ihn Ministerpräsident
Otto Grotewohl in der Provisorischen Regierung der DDR zu seinem Stellvertreter. – Seit 1949 geriet K. innerparteilich zunehmend in Kritik. Besonders sein Eintreten für die Blockpolitik, seine kompromissbereite Haltung gegenüber der SED und seine Zustimmung zu den Enteignungen im Zuge der Bodenreform wurden kritisiert. Zudem wurden K. seine sehr guten Kontakte zur sowjetischen Militärverwaltung, dort v.a. zum späteren sowjetischen Botschafter in Berlin,
Wladimir Semjonow, vorgeworfen. Daneben verübelte man ihm seinen extravaganten Lebensstil. Die Spannungen führten am 25.7.1950 zum Ausschluss K.s aus der LDPD, bereits ein Jahr später erfolgte jedoch, wohl auf sowjetischen Druck hin, die Rehabilitierung und Wiederaufnahme. Zugleich wurde K. die Leitung des „Förderausschusses für die Intelligenz“ beim Ministerpräsidenten der DDR übertragen. Es ist zu vermuten, dass die Sowjetunion am Vorabend des 17.6.1953 angesichts der wachsenden Unruhen plante, K. als neuen Regierungschef einzusetzen. In den folgenden Jahren geriet K. innerlich zunehmend in Distanz zur Politik der DDR-Regierung. Mitte September 1956 floh er schließlich mit seiner Frau in die Bundesrepublik und beantragte dort politisches Asyl. Das Ehepaar ließ sich in der Nähe von München nieder, wo bereits der im Frühjahr 1950 geflohene Sohn K.s wohnte. Ein wesentlicher Grund für K.s Flucht dürfte seine zunehmende Resignation angesichts der politischen Entwicklung in der DDR gewesen sein, die eine von ihm erwünschte Wiedervereinigung Deutschlands immer unwahrscheinlicher erscheinen ließ. Zudem fühlte er sich bedroht, seit 1952 wurde er vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) überwacht. Die Forschung geht davon aus, dass K. seit Beginn der 1950er-Jahre für die Organisation Gehlen bzw. den Bundesnachrichtendienst gearbeitet und über seine Frau brisante Informationen nach West-Berlin geschleust hat. Die Observation durch das MfS und die zunehmenden Repressionen gegen Politiker der Blockparteien ließen es K. 1956 geraten erscheinen, sich nach Westdeutschland abzusetzen. – K. war eine zentrale Figur des Nachkriegsliberalismus in der SBZ. Das ambivalente Bild des intelligenten, rhetorisch begabten und ehrgeizigen Juristen ist wahrscheinlich Ausdruck eines recht widersprüchlichen Charakters.
Quellen Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 12970 Nachlass K. (P); Archiv des Liberalismus Gummersbach, L4 Zentralvorstand LDPD, L5 Landesverbände LDPD, 32335 Kader LDPD.
Werke Der Impfzwang und das Reichs-Impfgesetz vom 8. April 1874, Berlin 1909; Das Geschichtsbild der LDPD, Weimar 1949.
Literatur R. Gehlen, Der Dienst, Mainz/Wiesbaden 1971; A. Kobuch, Hermann K. (1886-1957), in: Sächsische Justizgeschichte, hrsg. vom Sächsischen Staatsministerium der Justiz, Bd. 4, Dresden 1994, S. 164-189; A. Thüsing, Landesverwaltung und Landesregierung in Sachsen 1945-1952, Frankfurt/Main 2000; J. Frölich, Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD), in: G.-R. Stephan (Hg.), Die Parteien und Organisationen der DDR, Berlin 2002, S. 311-342. – DBA II (P), III; DBE 5, S. 461; H. Müller-Enbergs/J. Wielgohs/D. Hoffmann (Hg.), Wer war wer in der DDR?, 2Berlin 2001, S. 412; G. Baumgartner/D. Hebig (Hg.), Biographisches Handbuch der SBZ/DDR, München 1996-1997, S. 378.
Karsten Jedlitschka
21.9.2005
Empfohlene Zitierweise:
Karsten Jedlitschka, Artikel: Hermann Kastner,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/9121 [Zugriff 17.11.2024].
Hermann Kastner
Quellen Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, 12970 Nachlass K. (P); Archiv des Liberalismus Gummersbach, L4 Zentralvorstand LDPD, L5 Landesverbände LDPD, 32335 Kader LDPD.
Werke Der Impfzwang und das Reichs-Impfgesetz vom 8. April 1874, Berlin 1909; Das Geschichtsbild der LDPD, Weimar 1949.
Literatur R. Gehlen, Der Dienst, Mainz/Wiesbaden 1971; A. Kobuch, Hermann K. (1886-1957), in: Sächsische Justizgeschichte, hrsg. vom Sächsischen Staatsministerium der Justiz, Bd. 4, Dresden 1994, S. 164-189; A. Thüsing, Landesverwaltung und Landesregierung in Sachsen 1945-1952, Frankfurt/Main 2000; J. Frölich, Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD), in: G.-R. Stephan (Hg.), Die Parteien und Organisationen der DDR, Berlin 2002, S. 311-342. – DBA II (P), III; DBE 5, S. 461; H. Müller-Enbergs/J. Wielgohs/D. Hoffmann (Hg.), Wer war wer in der DDR?, 2Berlin 2001, S. 412; G. Baumgartner/D. Hebig (Hg.), Biographisches Handbuch der SBZ/DDR, München 1996-1997, S. 378.
Karsten Jedlitschka
21.9.2005
Empfohlene Zitierweise:
Karsten Jedlitschka, Artikel: Hermann Kastner,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/9121 [Zugriff 17.11.2024].