Nina Gorter
G. trug maßgeblich zur Etablierung der Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus (Dalcroze-Schule) in Hellerau bei. Als enge Mitarbeiterin von Émile Jaques-Dalcroze gehört sie zu den Begründerinnen der rhythmischen Gymnastik. Ihre Systematisierung des Unterrichts von Jaques-Dalcroze und die daraus hervorgegangenen Lehrmethoden stellen nicht nur ein Vermächtnis der ersten Rhythmiker dar, sondern bilden heute die Basis der Bewegungsforschung in Europa, Asien und den USA. – Geboren als drittes Kind des Schriftstellers
Simon Gorter und dessen Ehefrau
Johanna Catharina, entstammte G. einer bildungsnahen Familie. Sie besuchte wahrscheinlich eine Höhere Töchterschule, wo sie u.a. Klavier, Gesang und Cembalo erlernte. Nach weiteren musikalischen Studien in den Niederlanden zog sie 1886 mit ihrer Mutter nach Berlin. Als Pianistin, Klavierlehrerin und Leiterin eines Kinderchors tätig, arrangierte G. 1902 in Berlin ein Konzert des Komponisten Jaques-Dalcroze. Ein Jahr darauf folgte sie dessen Einladung nach Genf (Schweiz) und studierte bei ihm die Methode der Rhythmischen Gymnastik. 1903 bis 1909 stieg G. zu Jaques-Dalcrozes Mitarbeiterin auf, indem sie die „Methode Jaques-Dalcroze“ (MJD) systematisierte, seine Kinderlieder in verschiedene Sprachen übersetzte und mit ihm „Chansons de Gestes“ choreografierte. – 1910 gingen G. und Dalcroze nach Dresden, um an der von Wolf und Harald Dohrn gegründeten Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus in Hellerau zu unterrichten. In der Gartenstadt Hellerau „Auf dem Sand“ wohnend, war G. mit der Entwicklung der Schule eng verbunden. Sie dokumentierte kontinuierlich die Übungen von Dalcroze und entwarf die Lehrpläne der einzelnen Seminare. Dabei richtete sich ihr Bildungsexperiment darauf, einen zur Selbsterkennung fähigen Menschen zu formen, der über ein hohes Maß an Empathie und Struktur verfüge. G. war außerdem überzeugt davon, dass die MJD ein Rhythmusgefühl vermittele, das die sprachlichen und musikalischen Fertigkeiten erhöhe. Sie organisierte Bewegungskurse für Hellerauer Kinder und gründete eine Abteilung zur Förderung von begabten, aber anfälligen Schülern, zu denen u.a. auch der Sohn von
Else Lasker-Schüler gehörte. – G.s Konzept war sehr erfolgreich: Zwischen 1911 und 1913 verzehnfachte sich die Schülerzahl. Da sie auf eigene Tanzabende aufgrund ihrer Tuberkulosekrankheit verzichtete, ließ sie die Schulfeste 1912 und 1913 von Schülern und Schülerinnen ausrichten, deren Ballettdarbietungen (Performances aus Raum, Bewegung, Musik und Licht) im Festspielhaus der Öffentlichkeitsarbeit und Nachwuchsakquirierung dienten. Außerdem publizierte sie die Ergebnisse des Unterrichts in den von Jaques-Dalcroze im Selbstverlag herausgegebenen Schulberichten. – Nach Schließung der Bildungsanstalt im März 1915 ging G. nach Berlin (Jaques-Dalcroze nach Genf), unterstützte den „Verein für rhythmisch-musikalische Erziehung Hellerau“ und leitete im Juni und September 1915 die Elementarprüfungen. G. bewarb sich für eine Position an der „Neuen Schule für angewandten Rhythmus“, die sie jedoch aufgrund ihrer Affinität für die MJD nicht erhielt, da man dieser dort skeptisch gegenüberstand. Infolgedessen eröffnete G. in Berlin ein Dalcroze-Seminar und unternahm gemeinsam mit
Charlotte Pfeffer,
Marie Adama van Scheltema und
Otto Blensdorf Bemühungen zur Akkreditierung des Fachs Rhythmische Gymnastik in Preußen. In diesem Zusammenhang traf sie 1921/1922 mehrfach mit Jaques-Dalcroze in Genf (Schweiz) zusammen und sprach mit ihm Lehr- und Prüfungsinhalte ab. Neben den Kernfächern wie musikalischer Rhythmus, Solfège und Improvisation sollten die Studierenden in Klavier, Gesang, Violine, Musiktheorie, Musikgeschichte und Anatomie ausgebildet werden. – Nach der Anerkennung der Dalcroze-Methode durch die „Vereinigten Musikpädagogischen Verbände“ 1921/1922 erhielt die von Krankheit gezeichnete G. ein Ehrendiplom für Rhythmische Gymnastik. Kurz vor ihrem Tod am 18.10.1922 erhielt sie die Nachricht von der Akkreditierung eines staatlich anerkannten Examens der Dalcroze-Methode innerhalb der preußischen Privatmusiklehrerausbildung und der Einrichtung einer Schule für Rhythmische Gymnastik in Genf. – G. kommt in diesem Zusammenhang das Verdienst zu, Jaques-Dalcrozes Übungen notiert, analysiert und systematisiert zu haben - sie baute die theoretische Seite der musikalisch-rhythmischen Lehre aus. Wie ihre Hellerauer Schülerin Elfriede Feudel in einem Nachruf betonte, bildete G. theoretisierendes und ästhetisierendes Wesen das ideale Pendant zu Dalcrozes schöpferisch-originärem Geist. Ihre Intellektualität, Ordnung und Durchsetzungskraft ermöglichten nicht nur die wissenschaftliche Aufarbeitung der MJD, sondern sorgte auch für deren Implementierung in die Pädagogik. Dabei lag G.s Fokus auf der Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Rhythmus. Mit diesem anthropologischen Bildungskonzept ist sie eine frühe Vertreterin der Reformpädagogik. Sie folgte der Idee, dass das gesellschaftliche Chaos durch eine Besinnung auf Rhythmen (neben der Konzentration auf Formen und Regeln) überwunden werden könne. Damit unterstützte sie nicht nur die Modernisierung der Musiklehrerausbildung, sondern verhalf zu einem neuen Körperverständnis mit gesellschaftlicher Dimension. Mit diesen Ansätzen legten G. und ihre KollegInnen außerdem den Grundstein zur Entwicklung des Ausdruckstanzes. Im Zuge der Aufarbeitung „100 Jahre Bauhaus“ erhält die Arbeit von Jaques-Dalcroze und G. eine Neubewertung in der Geschichte der Anthropologie.
Quellen Universitätsbibliothek Leipzig, Nachlass Wustmann, Nachlass Kurt Petermann; Centre de documentation de l’Institut Jaques-Dalcroze Genf; Archiv der Universität der Künste Berlin.
Werke Erziehung zum und durch den Rhythmus, in: Neue Musikzeitung 28/1906/1907, S. 143-146; mit Émile Jaques-Dalcroze/Wolf Dohrn (Hg.), Berichte der Dalcroze-Schule, Leipzig 1913/1914; Die Gehörsbildung, die Improvisation und die Rhythmische Gymnastik, in: Berichte der Dalcroze-Schule Hellerau 1914, H. 1/2, S. 4-9; Die Methode Jacques-Dalcroze, in: Richard Wicke (Hg.), Sprechen, Singen, Musik. Grund- und Zeitfragen aus der Stimmkunde, der Musiktheorie und der musikalischen Jugend- und Volkserziehung, Leipzig 1914, S. 69-73; Rhythmus und Sprache, Berlin 1915 [Ms.]; Stellung der Methode Jaques-Dalocroze in der Volksmusikschule, Berlin 1918 [Ms.]; Rapport de Mlle. Nina G./Les démonstrations/Lettre de Berlin, in: Le Rythme 12/1921, S. 32-35; Wer ist musikalisch?, in: Elfriede Feudel (Hg.), Rhythmik. Theorie und Praxis der körperlich-musikalischen Erziehung, München 1926, ND Seelze-Velber 1996, S. 54-56.
Literatur Wolf Dohrn, Jahresbericht der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze für das Unterrichtsjahr 1910/11, in: Der Rhythmus 1/1911, S. 65-81; Paul Bekker, Die Dalcroze-Schule in Hellerau, Leipzig 1912; Gertrud Bäumer, Hellerauer Festspiele, in: Die Hilfe 19/1913, S. 409-411; Émile Jaques-Dalcroze/Nina G./Wolf Dohrn (Hg.), Berichte der Dalcroze-Schule, Leipzig 1913/1914; Huntly Carter, The New Spirit in Drama and Art, New York u.a. 1913; Émile Jaques-Dalcroze, Rhythmus, Musik und Erziehung, Basel 1921; Elfriede Feudel, Nachruf für Nina G., in: Hellerauer Blätter 9/1923, H. III/IV, S. 79; dies., Rhythmisch-musikalische Erziehung, Wolfenbüttel 1956; Marie-Laure Bachmann, Dalcroze Today. An Education through and into Music, Oxford 1991; Hettie van Maanen, Zu Unrecht vergessen. Nina G. (1866-1922), in: Rhythmik in der Erziehung 4/1993, S. 110-111; Songrid Hürtgen-Busch, Die Wegbereiterinnen der rhythmisch-musikalischen Erziehung in Deutschland, Frankfurt/Main 1996, S. 130-141; Bernd Wedemeyer-Kolwe, Der neue Mensch. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004; Eduard Visser, God, het woord en de tering. Leven en Werk van Simon Gorter (1838-1871), Hilversum 2017. – Reinhard Ring/Brigitte Steinmann (Hg.), Lexikon der Rhythmik, Kassel 1997, S. 103f.
Porträt Nina G., Fotografie, um 1909, Centre de documentation de l’Institut Jaques-Dalcroze (CID) Genf.
Uta Dorothea Sauer
30.7.2019
Empfohlene Zitierweise:
Uta Dorothea Sauer, Artikel: Nina Gorter,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/18853 [Zugriff 2.11.2024].
Nina Gorter
Quellen Universitätsbibliothek Leipzig, Nachlass Wustmann, Nachlass Kurt Petermann; Centre de documentation de l’Institut Jaques-Dalcroze Genf; Archiv der Universität der Künste Berlin.
Werke Erziehung zum und durch den Rhythmus, in: Neue Musikzeitung 28/1906/1907, S. 143-146; mit Émile Jaques-Dalcroze/Wolf Dohrn (Hg.), Berichte der Dalcroze-Schule, Leipzig 1913/1914; Die Gehörsbildung, die Improvisation und die Rhythmische Gymnastik, in: Berichte der Dalcroze-Schule Hellerau 1914, H. 1/2, S. 4-9; Die Methode Jacques-Dalcroze, in: Richard Wicke (Hg.), Sprechen, Singen, Musik. Grund- und Zeitfragen aus der Stimmkunde, der Musiktheorie und der musikalischen Jugend- und Volkserziehung, Leipzig 1914, S. 69-73; Rhythmus und Sprache, Berlin 1915 [Ms.]; Stellung der Methode Jaques-Dalocroze in der Volksmusikschule, Berlin 1918 [Ms.]; Rapport de Mlle. Nina G./Les démonstrations/Lettre de Berlin, in: Le Rythme 12/1921, S. 32-35; Wer ist musikalisch?, in: Elfriede Feudel (Hg.), Rhythmik. Theorie und Praxis der körperlich-musikalischen Erziehung, München 1926, ND Seelze-Velber 1996, S. 54-56.
Literatur Wolf Dohrn, Jahresbericht der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze für das Unterrichtsjahr 1910/11, in: Der Rhythmus 1/1911, S. 65-81; Paul Bekker, Die Dalcroze-Schule in Hellerau, Leipzig 1912; Gertrud Bäumer, Hellerauer Festspiele, in: Die Hilfe 19/1913, S. 409-411; Émile Jaques-Dalcroze/Nina G./Wolf Dohrn (Hg.), Berichte der Dalcroze-Schule, Leipzig 1913/1914; Huntly Carter, The New Spirit in Drama and Art, New York u.a. 1913; Émile Jaques-Dalcroze, Rhythmus, Musik und Erziehung, Basel 1921; Elfriede Feudel, Nachruf für Nina G., in: Hellerauer Blätter 9/1923, H. III/IV, S. 79; dies., Rhythmisch-musikalische Erziehung, Wolfenbüttel 1956; Marie-Laure Bachmann, Dalcroze Today. An Education through and into Music, Oxford 1991; Hettie van Maanen, Zu Unrecht vergessen. Nina G. (1866-1922), in: Rhythmik in der Erziehung 4/1993, S. 110-111; Songrid Hürtgen-Busch, Die Wegbereiterinnen der rhythmisch-musikalischen Erziehung in Deutschland, Frankfurt/Main 1996, S. 130-141; Bernd Wedemeyer-Kolwe, Der neue Mensch. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004; Eduard Visser, God, het woord en de tering. Leven en Werk van Simon Gorter (1838-1871), Hilversum 2017. – Reinhard Ring/Brigitte Steinmann (Hg.), Lexikon der Rhythmik, Kassel 1997, S. 103f.
Porträt Nina G., Fotografie, um 1909, Centre de documentation de l’Institut Jaques-Dalcroze (CID) Genf.
Uta Dorothea Sauer
30.7.2019
Empfohlene Zitierweise:
Uta Dorothea Sauer, Artikel: Nina Gorter,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/18853 [Zugriff 2.11.2024].