Heinrich Sproemberg

Durch den frühen Tod des Vaters im großbürgerlichen Haus Dernburg aufgewachsen, entschied sich S. für das Geschichtsstudium. Seine Lehrer in Berlin waren v.a. Dietrich Schäfer, Michael Tangl und Otto Hintze sowie - in seinem Nebenfach Nationalökonomie - Gustav Schmoller. Seit seiner Dissertation zur Geschichte der Bischöfe von Lüttich im 11. Jahrhundert (1914) stand S. auch der deutschen Kriegszielpolitik im Hinblick auf Belgien kritisch gegenüber und distanzierte sich von der annexionistischen Position seines Doktorvaters Schäfer. Anfang der 1920er-Jahre schloss er sich den Auffassungen Henri Pirennes (Gent), später auch dem Kreis der „Annales“ (Paris), an und nahm dadurch in der deutschen Mediävistik eine Ausnahmestellung ein. Zeitlebens vermochte er seine Haltung des gleichermaßen Weltoffenen wie Unangepassten zu behaupten, auch als er 1946 einem Ruf der Universität Rostock folgte und 1950 nach Leipzig auf den Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte des Mittelalters wechselte. Hier erlangte er eine beachtliche akademische Wirksamkeit. – Ab 1930 engagierte sich S. für einen Literaturaustausch zwischen deutschsprachigen Historikern und Fachvertretern Frankreichs, Belgiens und der Niederlande. Die Anregung hierzu kam aufgrund von Begegnungen am Berliner Institut Français. Ziel war es, Vorbehalte und nationale Verengungen auf beiden Seiten, die sich nach 1918 vertieft hatten, durch Dialog aufzulösen. Neben persönlichen Begegnungen dienten dazu u.a. ausführliche Forschungsberichte und eine verstärkte Rezensionstätigkeit. Unter Leitung des 1929 nach Berlin berufenen Mediävisten Robert Holtzmann war S. für die deutsche Geschäftsstelle prädestiniert, weil er als Privatgelehrter außerhalb jeder Institution stand und entsprechende Kontakte besaß. In locker organisierter Form wurden Publikationen über die Geschäftsstellen in Berlin, Paris sowie Partner in Gent ausgetauscht. S. verfasste Forschungsberichte in Serie, wobei pro Jahrgang über 350 bis 400 Titel berichtet wurde. Um 1935 verengten sich bis dahin behauptete Spielräume durch die „völkisch“ orientierten Kräfte deutscher „Grenzlandforschung“; sie ließen 1936 den Austausch scheitern. Aufgrund der jüdischen Wurzeln seiner Familie als „Nichtarier“ und „Mischling“ denunziert, verlor S. nahezu jede Wirksamkeit. Solidarität erfuhr er im Ausland, v.a. in Belgien, wo u.a. seine Studien über „Judith, Königin von England, Gräfin von Flandern“ (1936) sowie „Das Erwachen des Staatsgefühls in den Niederlanden. Galbert von Brügge“ (1939) gedruckt wurden. – S.s besonderes Interesse galt stets quellenkundlichen Untersuchungen, so zur fränkischen Reichskanzlei (1927), über Abt Alvisius von Anchin (1931) und zur Grafschaft Flandern im 9. Jahrhundert (1935). Bemerkenswert erscheint seine Arbeit über die lothringische Politik Ottos des Großen, die 1941 in den Rheinischen Vierteljahresblättern gedruckt wurde. Dagegen sind andere größere Manuskripte jener Jahre, wie das einer Geschichte der Niederlande, an politisch motivierten Gutachten gescheitert. Ein bereits seit Längerem verfasster Abschnitt für die Quellenkunde von Wilhelm Wattenbach und Robert Holtzmann wurde in der Ausgabe von 1948 veröffentlicht. – In Berlin ausgebombt, gelangte S. mit der Familie in die Nähe von Halle/Saale. Einer vorübergehenden Beschäftigung in der Stadt- und danach der Landesverwaltung folgte 1946 die Berufung nach Rostock. Damit begann S.s späte Universitätskarriere, die ab 1950 in Leipzig ihren Höhepunkt finden sollte. Hier hatte sich die Fakultät schon seit 1947 um seine Berufung bemüht, der er 1950 folgte. Zusammen mit dem Mittelalter-Lehrstuhl übernahm S. als Nachfolger Rudolf Kötzschkes das Landesgeschichtliche Institut. Zudem gelangte er an die Spitze sowohl der Historischen Kommission des Landes (1950) wie des Fachbereichs Geschichte der Universität (1951) und war 1951 an der Gründung des Sorbischen Instituts in Bautzen beteiligt. Was die Lehre und die Ausbildung des akademischen Nachwuchses anbelangt, ist seine Hauptvorlesung „Allgemeine Geschichte des Mittelalters“ zu nennen, in der die europäische Entwicklung im Zentrum stand. S.s Seminare galten v.a. zwei in die Forschung mündenden Themengruppen: die sozialreligiösen Bewegungen des Hochmittelalters und die Sozialgeschichte des Stadtbürgertums. Auf landesgeschichtlichem Gebiet dominierte die vergleichende Territorialgeschichte, v.a. bezogen auf Nordwesteuropa. S. schuf den Mittelalter-Arbeitskreis für Leipziger und Berliner Doktoranden und Habilitanden, mit dem es 1953 bis 1956 gelang, durch dichte Vortragsreihen einen gesamtdeutschen wie internationalen Wissenschaftsdialog zu pflegen. 1955 begründete S. innerhalb des Hansischen Geschichtsvereins (Lübeck) die Hansische Arbeitsgemeinschaft in der DDR. Jährlich wurden Tagungen zur Geschichte der Hanse veranstaltet. Im Rahmen der Historischen Kommission ließen sich lange unterbrochene Editionsvorhaben wieder aufgreifen und eine systematische Forschung zur Sprach- und Siedlungsgeschichte des Mittelalters für Sachsen, ausgreifend auch auf Thüringen, begründen. Ihren Niederschlag fanden diese Arbeiten in zahlreichen Monografien, insbesondere in Schriftenreihen wie die von S. herausgegebenen „Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte“, die „Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte“ sowie die „Abhandlungen für Namenkunde und Siedlungsgeschichte“. Es war S.s Verdienst, die sächsische Historische Kommission als einzige der DDR nach Auflösung der Länder 1952 bewahrt zu haben. Mit einer Strukturveränderung verlor er jedoch Anfang 1957 den Vorsitz. – Weil sich S. politisch in keiner Weise vereinnahmen ließ und auch keiner der DDR-Organisationen angehörte, war er ebenso wie andere Gelehrte, so z.B. Ernst Bloch, zunehmend Angriffen ausgesetzt, die ihn 1958 zur Emeritierung bewogen. Danach wieder in Berlin, setzte S. seine Arbeit an der Spitze der Hansischen Arbeitsgemeinschaft fort. Er stand in engem Kontakt zu seinen Berliner Schülern und war weiter auf internationaler Ebene tätig, so in der Societé Jean Bodin oder durch zahlreiche Vorträge zwischen Paris und Prag. Sein 1957 zunächst als „nicht-marxistisch“ abgelehnter Studienband „Beiträge zur belgisch-niederländischen Geschichte“ erhielt zwei Jahre darauf die Druckgenehmigung. Seine Abhandlungen über Pirenne gelten als S.s Vermächtnis. Im Jahr vor seinem Tod würdigte ihn die Rostocker Universität durch die Verleihung des Ehrendoktortitels.

Quellen Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiearchiv, Nachlass S.; Universitätsarchive Rostock und Leipzig, Instituts-, Fakultäts- und Personalunterlagen.

Werke Die Bischöfe von Lüttich im elften Jahrhundert, Diss. Berlin 1914; Beiträge zur französisch-flandrischen Geschichte, Bd. 1: Alvisus, Abt von Anchin (1111-1131), Berlin 1931 (ND Vaduz 1965); Die Entstehung der Grafschaft Flandern, Bd. 1: Die ursprüngliche Grafschaft Flandern (864-892), Berlin 1935; Judith, Königin von England, Gräfin von Flandern, Brüssel 1936; Das Erwachen des Staatsgefühls in den Niederlanden. Galbert von Brügge, Louvain 1939; Beiträge zur belgisch-niederländischen Geschichte, Berlin 1959; (Hg.), Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, Bd. 1-13, Berlin 1956-1966; Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft, in: Heinrich S., Mittelalter und demokratische Geschichtsschreibung. Ausgewählte Abhandlungen, hrsg. von M. Unger, Berlin 1971 (WV).

Literatur H. Kretzschmar (Hg.), Vom Mittelalter zur Neuzeit. Zum 65. Geburtstag von Heinrich S., Berlin 1956 (WV) (P); G. Heitz (Red.), Liber memorialis Heinrich S. Études présentées à la Commission internationale pour l’histoire des assemblées d’états et du parlamentarisme, Rostock 1968 (WV); V. Didczuneit/M. Unger/M. Middell, Geschichtswissenschaft in Leipzig. Heinrich S., Leipzig 1994 (P); M. Unger, Die Historische Kommission des Landes Sachsen, in: Geschichtsforschung in Sachsen, hrsg. von der Historischen Kommission bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Stuttgart 1996, S. 74-102; S. Kaudelka, Rezeption im Zeitalter der Konfrontation. Französische Geschichtswissenschaft und Geschichte in Deutschland 1920-1940, Göttingen 2003, S. 46-49, 416-461. – DBA II, III; DBE 9, S. 423.

Porträt Fotografie, Privatbesitz M. Unger (Bildquelle).

Manfred Unger
13.5.2008


Empfohlene Zitierweise:
Manfred Unger, Artikel: Heinrich Sproemberg,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/10019 [Zugriff 2.11.2024].

Heinrich Sproemberg



Quellen Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiearchiv, Nachlass S.; Universitätsarchive Rostock und Leipzig, Instituts-, Fakultäts- und Personalunterlagen.

Werke Die Bischöfe von Lüttich im elften Jahrhundert, Diss. Berlin 1914; Beiträge zur französisch-flandrischen Geschichte, Bd. 1: Alvisus, Abt von Anchin (1111-1131), Berlin 1931 (ND Vaduz 1965); Die Entstehung der Grafschaft Flandern, Bd. 1: Die ursprüngliche Grafschaft Flandern (864-892), Berlin 1935; Judith, Königin von England, Gräfin von Flandern, Brüssel 1936; Das Erwachen des Staatsgefühls in den Niederlanden. Galbert von Brügge, Louvain 1939; Beiträge zur belgisch-niederländischen Geschichte, Berlin 1959; (Hg.), Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, Bd. 1-13, Berlin 1956-1966; Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft, in: Heinrich S., Mittelalter und demokratische Geschichtsschreibung. Ausgewählte Abhandlungen, hrsg. von M. Unger, Berlin 1971 (WV).

Literatur H. Kretzschmar (Hg.), Vom Mittelalter zur Neuzeit. Zum 65. Geburtstag von Heinrich S., Berlin 1956 (WV) (P); G. Heitz (Red.), Liber memorialis Heinrich S. Études présentées à la Commission internationale pour l’histoire des assemblées d’états et du parlamentarisme, Rostock 1968 (WV); V. Didczuneit/M. Unger/M. Middell, Geschichtswissenschaft in Leipzig. Heinrich S., Leipzig 1994 (P); M. Unger, Die Historische Kommission des Landes Sachsen, in: Geschichtsforschung in Sachsen, hrsg. von der Historischen Kommission bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Stuttgart 1996, S. 74-102; S. Kaudelka, Rezeption im Zeitalter der Konfrontation. Französische Geschichtswissenschaft und Geschichte in Deutschland 1920-1940, Göttingen 2003, S. 46-49, 416-461. – DBA II, III; DBE 9, S. 423.

Porträt Fotografie, Privatbesitz M. Unger (Bildquelle).

Manfred Unger
13.5.2008


Empfohlene Zitierweise:
Manfred Unger, Artikel: Heinrich Sproemberg,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/10019 [Zugriff 2.11.2024].