Karl Weule
W. gilt als Wegbereiter der Universitätsethnologie in Deutschland. Aufgrund seiner Bemühungen um die Etablierung der Völkerkunde (Ethnologie) als Wissenschaftsdisziplin wurde 1904 erstmalig in Deutschland die Völkerkunde als Promotionsfach aufgenommen und 1914, im Rahmen der Gründung einer Reihe geisteswissenschaftlicher Institute, das Sächsische Forschungsinstitut für Völkerkunde der Universität Leipzig gegründet. Dieses und das Ethnografische Seminar der Universität Leipzig leitete W. bis zu seinem Tod. Seit 1907 Direktor des Museums für Völkerkunde zu Leipzig, baute er, v.a. mit Fritz Krause und Paul Germann, das Museum als wissenschaftliche Einrichtung auf und führte es durch vielseitige Beförderung des Sammlungszuwachses, der völkerkundlichen Forschung und der Öffentlichkeitswirksamkeit bis Mitte der 1920er-Jahre vom Vereinsmuseum zu einer international bedeutenden Einrichtung. – W. studierte an der Universität Göttingen Geografie, Geologie und Mineralogie. 1886 wechselte er an die Universität Leipzig, wo ihn die anthropogeografische Ausrichtung des Ordinarius für Geografie, Friedrich Ratzel, sehr beeinflusste, promovierte 1891 jedoch mit dem rein geografischen Thema „Beiträge zur Morphologie der Flachküsten“. Im gleichen Jahr ging W. nach Berlin, trat in das Seminar für Orientalische Sprachen ein und wurde, u.a. zur Vorbereitung auf geplante Forschungsreisen in die kurz zuvor gegründeten deutschen Kolonien, Mitglied des durch Ferdinand von Richthofen geleiteten Geografischen Seminars. Wenig später lernte er den Direktor des Berliner Museums für Völkerkunde,
Adolf Bastian, kennen und wurde dort als Volontär unter der Leitung von
Felix von Luschan in der afrikanisch-ozeanischen Abteilung tätig. Beide international bedeutenden Gelehrten übten einen prägenden Einfluss auf W. aus, der für immer in die Völkerkunde wechselte. W. erwarb umfassende völkerkundliche Kenntnisse, nahm an den Vorlesungen sowie den ethnografischen und anthropologischen Übungen von Luschans teil und lernte die „Berliner Methode“ der Inventarisierung und Katalogisierung kennen. – 1899 wurde W. als zweiter Direktor und wissenschaftlicher Direktorialassistent an das Museum für Völkerkunde zu Leipzig berufen. Dieses 1869 gegründete und von dem Theaterarzt Hermann Obst geleitete Museum war 1896 in den Besitz der Stadt Leipzig übergegangen, und es wurden für die Bearbeitung und Verwaltung des ständig wachsenden, umfangreichen Sammlungsbestands dringend wissenschaftliche Mitarbeiter benötigt. Ebenfalls 1899 habilitierte W. an der Universität Leipzig in den Fächern Erd- und Völkerkunde mit der Arbeit „Der afrikanische Pfeil“. Zwei Jahre später erhielt er eine außerordentliche Professur für Völkerkunde und Urgeschichte am Geografischen Seminar der Universität Leipzig, das von Ratzel geleitet wurde. In seiner Tätigkeit am Museum konzentrierte sich W. zunächst auf die Einführung eines Akten-, Katalogisierungs- und Inventarisierungssystems nach dem Berliner Vorbild sowie auf den Beginn wissenschaftlicher Sammlungsbearbeitung. 1906/07 unternahm er mit Unterstützung der von Hans Meyer geleiteten Landeskommission des Reichskolonialamts eine ethnografische Forschungsexpedition nach Südtansania (Deutsch-Ostafrika) in die Gebiete der Makonde, Makua und benachbarter Ethnien. Ergebnisse der Expedition waren eine reiche Sammlung materieller Kultur dieser Stämme mit heute teilweise weltberühmten Objekten und mehrere umfassende wissenschaftliche sowie populärwissenschaftliche Publikationen. – Nach dem Tod von Obst wurde W. zum alleinigen Direktor des Museums für Völkerkunde berufen. Dieses Amt übte er, ab 1914 in Personalunion mit dem Staatlichen Forschungsinstitut der Universität Leipzig, bis zu seinem Tod 1926 aus. Als bemerkenswert praktisch veranlagter Museumsdirektor und -fachmann organisierte W. den für die stetig wachsende Einrichtung notwendigen Innendienst und erreichte bis 1914 die Anstellung von Wissenschaftlern für alle Großregionen der Erde und für die Urgeschichte. Durch zahlreiche Kontakte zu Forschungsreisenden, Kolonialbeamten, Missionaren etc. und durch die Gewinnung von ehrenamtlichen Sammlern in aller Welt und Förderern, die v.a. Ankäufe und Forschungsreisen unterstützten, beförderte W. entscheidend den Sammlungszuwachs, sodass das Leipziger Museum Mitte der zwanziger Jahre neben dem Berliner und Hamburger zu den drei größten Völkerkundemuseen Deutschlands gehörte. Ein ebenso bedeutender Wirkungsbereich W.s war die Öffentlichkeitsarbeit mit dem Anliegen, das Museum für die Allgemeinheit nutzbar zu machen bzw. das Interesse am Museum und an der Wissenschaft Ethnologie in die Bevölkerung zu tragen. Diesem Ziel dienten der Aufbau eines umfangreichen Bildarchivs zur Illustration öffentlicher Vorträge, die Einrichtung einer öffentlichen Bibliothek mit Lesesaal, Unterrichtsveranstaltungen in den Ausstellungsräumen und öffentliche Vortragsprogramme. Letztere wurden gemeinsam mit dem Verein für Völkerkunde durchgeführt, dessen Vorsitzender W. seit 1907 bis zu seinem Ableben war. Im besonderen Maße engagierte sich W. für die Aufnahme völkerkundlicher Stoffe in den Schulunterricht, was 1921 zur vorübergehenden Etablierung der Völkerkunde an den sächsischen Schulen führte. Die Popularisierung völkerkundlichen Wissens erfolgte auch durch Vortragskurse an Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen, wie z.B. der Leipziger Volkshochschule, der Kunstgewerbefachschule und der Buchhändler-Lehranstalt. W. leistete eine umfangreiche populärwissenschaftliche Publikationstätigkeit, u.a. in der Kosmosreihe (z.B. „Vom Kerbstock zum Alphabet“, „Negerleben in Ostafrika“, „Ethnologie des Sports“). Die Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse über „fremde Völker“ und die Völkerkunde in der Öffentlichkeit waren bis dahin in Sachsen kaum üblich, sodass W. in dieser Hinsicht Bahnbrechendes geleistet hat. – Zur Berichterstattung über das Museum und zur Veröffentlichung völkerkundlicher Forschungsergebnisse begründete W. die wissenschaftlichen Publikationsreihen „Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig“ sowie „Veröffentlichungen des Museums für Völkerkunde zu Leipzig“ und gab die „Abhandlungen des Sächsischen Forschungsinstitutes für Völkerkunde“ heraus. Wissenschaftstheoretisch vertrat W. neben seiner regionalen Spezialisierung auf Ostafrika Aspekte der Anthropogeografie Ratzels und evolutionistische Ansätze Bastians, was sich sowohl in seinen Veröffentlichungen und Ausstellungskonzeptionen als auch in seiner wissenschaftlichen Lehrtätigkeit widerspiegelte. Im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Ethnologen hielt er beide theoretischen Richtungen für nicht widersprüchlich. Die Kulturkreislehre
Fritz Graebners lehnte er jedoch teilweise ab. In seinen letzten Lebensjahren setzte er sich zudem mit der Konvergenztheorie auseinander. Für weitergehende theoretische Forschungen ließ ihm seine Position als Museumsdirektor wenig Zeit. Seine Veröffentlichungen enthalten jedoch zahlreiche vergleichende Forschungsansätze. Für unabdingbar hielt W. das Kennenlernen von Lebensverhältnissen und Kulturen der untersuchten Völker vor Ort, weshalb er die Feldforschungsvorhaben der Wissenschaftler am Museum und am Institut unterstützte. W. vertrat die Notwendigkeit einer engen, interdisziplinären Zusammenarbeit von Völkerkunde, Urgeschichte und Anthropologie, die er v.a. ab 1914 als Leiter des Forschungsinstituts zu realisieren suchte. Er lehrte u.a. „Allgemeine Völkerkunde“ als Hauptvorlesung und hielt Spezialvorlesungen zur Ethnografie aller Erdteile. Durch die Einbeziehung der Museumskustoden wurde die Lehrtätigkeit am Institut von Beginn an auf eine breite Basis gestellt. Die Stadt Leipzig unterstützte das Forschungsinstitut mit beträchtlichen Zuschüssen, sodass Forschungsreisen und die Herausgabe von wissenschaftlichen Werken finanziert werden konnten. 1920 wurde W. an der Universität Leipzig zum ordentlichen Professor für Völkerkunde berufen, womit in Leipzig deutschlandweit der erste Lehrstuhl für Völkerkunde entstand. Das Institut entwickelte sich zum Anziehungspunkt für viele Forscher, Gelehrte und Studenten aus dem In- und Ausland und praktisch zum Mittelpunkt der völkerkundlichen Wissenschaft in Deutschland. Ab 1921 war W. Vorsitzender der Völkerkundlichen Abteilung der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte und wurde 1925 zum Vorsitzenden der Gesellschaft gewählt.
Werke Die Eidechse als Ornament in Afrika, in: Festschrift für Adolf Bastian zu seinem 70. Geburtstag, Berlin 1896, S. 167-194; Der afrikanische Pfeil. Eine anthropogeographische Studie, Habil. Leipzig 1899; Das Meer und die Naturvölker, in: Zu Friedrich Ratzels Gedächtnis, Leipzig 1904, S. 411-462; Wissenschaftliche Ergebnisse meiner ethnographischen Forschungsreise in den Südosten Deutsch-Ostafrikas, Berlin 1908; Leitfaden der Völkerkunde, Leipzig 1912; Zusammenhänge und Konvergenz, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 66/1920, S. 69-77, 153-157; Die Anfänge der Naturbeherrschung, Bd. 1: Frühformen der Mechanik, Stuttgart 1921, Bd. 2: Chemische Technologie der Naturvölker, Stuttgart 1922; Aufgaben, Grundlagen und Einteilung der Völkerkunde, in: Jahrbuch des Städtischen Museums für Völkerkunde zu Leipzig 9/1928, S. 46-55.
Literatur F. Krause, Dem Andenken Karl W.s, in: Jahrbuch des Städtischen Museums für Völkerkunde zu Leipzig 9/1928, S. 7-33; H. Plischke, Weule-Bibliographie 1891-1926, in: ebd., S. 33-45; ders., Sachlich geordnetes Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen Karl W.s, in: O. Reche (Hg.), In memoriam Karl W., Leipzig 1929, S. 13-18 (P); O. Reche, Karl W., in: ebd., S. 1-12. – DBA I, II, III; DBE 10, S. 464f.
Porträt R. Rohr, Zeichnung, Institut für Ethnologie der Universität Leipzig, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Abteilung Deutsche Fotothek (Bildquelle).
Christine Seige
19.11.2004
Empfohlene Zitierweise:
Christine Seige, Artikel: Karl Weule,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/4142 [Zugriff 22.11.2024].
Karl Weule
Werke Die Eidechse als Ornament in Afrika, in: Festschrift für Adolf Bastian zu seinem 70. Geburtstag, Berlin 1896, S. 167-194; Der afrikanische Pfeil. Eine anthropogeographische Studie, Habil. Leipzig 1899; Das Meer und die Naturvölker, in: Zu Friedrich Ratzels Gedächtnis, Leipzig 1904, S. 411-462; Wissenschaftliche Ergebnisse meiner ethnographischen Forschungsreise in den Südosten Deutsch-Ostafrikas, Berlin 1908; Leitfaden der Völkerkunde, Leipzig 1912; Zusammenhänge und Konvergenz, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 66/1920, S. 69-77, 153-157; Die Anfänge der Naturbeherrschung, Bd. 1: Frühformen der Mechanik, Stuttgart 1921, Bd. 2: Chemische Technologie der Naturvölker, Stuttgart 1922; Aufgaben, Grundlagen und Einteilung der Völkerkunde, in: Jahrbuch des Städtischen Museums für Völkerkunde zu Leipzig 9/1928, S. 46-55.
Literatur F. Krause, Dem Andenken Karl W.s, in: Jahrbuch des Städtischen Museums für Völkerkunde zu Leipzig 9/1928, S. 7-33; H. Plischke, Weule-Bibliographie 1891-1926, in: ebd., S. 33-45; ders., Sachlich geordnetes Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen Karl W.s, in: O. Reche (Hg.), In memoriam Karl W., Leipzig 1929, S. 13-18 (P); O. Reche, Karl W., in: ebd., S. 1-12. – DBA I, II, III; DBE 10, S. 464f.
Porträt R. Rohr, Zeichnung, Institut für Ethnologie der Universität Leipzig, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Abteilung Deutsche Fotothek (Bildquelle).
Christine Seige
19.11.2004
Empfohlene Zitierweise:
Christine Seige, Artikel: Karl Weule,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/4142 [Zugriff 22.11.2024].