Fritz Müller

Der Chemnitzer Versuchsschullehrer M. hat sich v.a. durch seine praxisrelevanten Reformbestrebungen zur Altersheterogenität im Unterrichtsbetrieb bleibende Verdienste erworben. – M. absolvierte 1907 das Lehrerseminar in Annaberg. Erste pädagogische Praxiserfahrungen sammelte er anschließend in Glauchau, bis er 1910 in den Chemnitzer Schuldienst trat. Seit Beginn seiner Lehrertätigkeit verfolgte er die reformpädagogischen Diskussionen mit großem Interesse und hatte z.B. zahlreiche Landerziehungsheime hospitierend kennen gelernt. Infolge schulbürokratischer Versetzungspraktiken gelangte M. 1923 an die Chemnitzer Humboldtversuchsschule. Diese Einrichtung entwickelte sich 1921 bis 1933 und wiederum 1948 bis 1951/52 zu einer Hochburg der sächsischen Reformpädagogik und erlangte auch international Aufmerksamkeit, so auf der Weltbundtagung der „New Education Fellowship“ 1927 in Locarno. M. prägte in diesen beiden Zeitabschnitten das spezifische reformpädagogische Profil dieser Versuchsschule ganz wesentlich. Seit 1924 erprobte er experimentell die Möglichkeiten des jahrgangsübergreifenden und koedukativen Unterrichts für die Realisierung des Gemeinschaftsgedankens der Versuchsschulpraxis. Dazu initiierte er einen zunächst acht Jahrgänge betreffenden Unterricht, der in den Folgejahren gar zehn Jahrgänge umfassen sollte und zusätzlich Chancen bot, sowohl Absolventen der Schule als auch interessierte Eltern punktuell in den Klassenverband, der sich „Gruppe Müller“ nannte, zu integrieren. Zu den zentralen Schülerpersönlichkeiten dieser einzigartigen Lerngruppe zählten u.a. die Brüder Otto, Walter und Hans Janka. Die von diesem Schulversuch erhalten gebliebenen Dokumente im Umfang von ca. 3.500 Seiten sind Zeugnisse eines couragierten Lehrens und Lernens - noch heute beschrieben und eingefordert als kultiviertes Lernumfeld. Darüber hinaus erstreckten sich M.s reformpädagogische Aktivitäten während der Weimarer Republik auf sozialpädagogische Handlungsfelder wie z.B. die Mitarbeit im Ausschuss für Jugendpflege und -fürsorge im Chemnitzer Lehrerverein, die Mitgliedschaft im Landesausschuss für Jugendwohlfahrt oder als Leiter von Jugendgruppen. 1933 wurde M. von den Nationalsozialisten aus dem Schuldienst entfernt. Im Sommer 1942 war er in Chemnitz als Bürogehilfe bei einem Steuerberater und Bücherrevisor, sodann als Aushilfskraft in der Buchhaltung einer Papiergroßhandlung und schließlich bis Kriegsende als Buchhalter der Gothaer Lebensversicherung tätig. Im Umfeld des Attentats auf Adolf Hitler vom 20.7.1944 beteiligte sich M., von der Gestapo unentdeckt, an der Unterbringung Carl Friedrich Goerdelers, der sich auf der Flucht befand. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde M. zum Schulleiter berufen. So leitete er in Chemnitz zunächst die Ludwig-Richter-Schule, ab April 1945 die Otto-Rötzscher-Schule. Gleichzeitig engagierte er sich in der Neulehrerausbildung und koordinierte ab September 1946 die Wiedereröffnung der Humboldtversuchsschule mit Tagesheim und Kindergarten. Aufgrund der nach 1948 staatlich verordneten Abkehr von der Reformpädagogik im Osten Deutschlands zugunsten stalinistisch eingefärbter didaktischer Prinzipien nach sowjetischem Vorbild war M. nicht in der Lage, seine wieder begonnene Versuchsschularbeit fortzusetzen. Weil er sich unter den diktatorischen Verhältnissen in der Sowjetischen Besatzungszone nicht vereinnahmen ließ, wurde er aus dem Schuldienst entfernt. Daraufhin engagierte er sich 1948/49 als Sozialpädagoge für elternlose Kinder und Jugendliche in sächsischen Kinderheimen, bevor er bis zum Eintritt in den Altersruhestand (1952) behinderte Jugendliche an den Chemnitzer Handwerkerschulen betreute.

Quellen Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, Landesregierung Sachsen, Ministerium für Volksbildung, Abt. Schulwesen, Personalakte Fritz M.; Stadtarchiv Chemnitz, Schulratsbestand, Bezirksschulrat I, Chemnitzer Versuchsschulen; Stadtarchiv Chemnitz, Rat der Stadt Chemnitz 1945-90, Volksbildungsamt; Stadtarchiv Chemnitz, Nachlass Fritz M.

Literatur A. Pehnke, „Ich gehöre in die Partei des Kindes!“. Der Chemnitzer Sozial- und Reformpädagoge Fritz M., Beucha 22002; ders. (Hg.), Reformpädagogik aus Schülersicht, Baltmannsweiler 2002; ders., Historische Erfahrungswerte zum erfolgreichen Umgang mit Heterogenität, in: Journal für Schulentwicklung 7/2003, H. 4, S. 19-27.

Porträt Gemälde, um 1930, Privatbesitz A. Pehnke (Bildquelle).

Andreas Pehnke
10.6.2008


Empfohlene Zitierweise:
Andreas Pehnke, Artikel: Fritz Müller,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/18069 [Zugriff 22.11.2024].

Fritz Müller



Quellen Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, Landesregierung Sachsen, Ministerium für Volksbildung, Abt. Schulwesen, Personalakte Fritz M.; Stadtarchiv Chemnitz, Schulratsbestand, Bezirksschulrat I, Chemnitzer Versuchsschulen; Stadtarchiv Chemnitz, Rat der Stadt Chemnitz 1945-90, Volksbildungsamt; Stadtarchiv Chemnitz, Nachlass Fritz M.

Literatur A. Pehnke, „Ich gehöre in die Partei des Kindes!“. Der Chemnitzer Sozial- und Reformpädagoge Fritz M., Beucha 22002; ders. (Hg.), Reformpädagogik aus Schülersicht, Baltmannsweiler 2002; ders., Historische Erfahrungswerte zum erfolgreichen Umgang mit Heterogenität, in: Journal für Schulentwicklung 7/2003, H. 4, S. 19-27.

Porträt Gemälde, um 1930, Privatbesitz A. Pehnke (Bildquelle).

Andreas Pehnke
10.6.2008


Empfohlene Zitierweise:
Andreas Pehnke, Artikel: Fritz Müller,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/18069 [Zugriff 22.11.2024].