Horst Schumann

Der Führungswechsel an der Spitze der DDR im Mai 1971 leitete nicht nur den sozialpolitischen Kurswechsel der SED, sondern zugleich das Ende der politischen Karriere S.s ein. War S. als „Ulbricht-Mann“ in den Apparaten der FDJ und SED aufgestiegen, so beendeten politische Differenzen zwischen S. und Erich Honecker sowie der wirtschaftliche Bedeutungsverlust des Bezirks Leipzig während der 1970er-Jahre jegliche Karriereambitionen schlagartig. – S. wuchs in einem marxistisch-leninistisch geprägten Haushalt Berlins auf. Als Sohn des KPD-Funktionärs und seit 1928 für die Kommunisten im Reichstag sitzenden Georg Schumann, trat S. schon mit sechs Jahren den „Roten Pionieren“ bei. Ab 1930 besuchte er die Volksschule. 1933 geriet sein Vater in Schutzhaft der Gestapo. Noch vor dessen Entlassung trat S. im Frühjahr 1939 in die Hitler-Jugend ein, was der DDR-Historiografie zufolge gegen den Willen S.s und auf Empfehlung des mit dem Vater befreundeten Kurt Kresse geschehen sei, der darin eine Chance zur Tarnung der Familie gesehen habe. In den darauffolgenden zwei Jahren habe S. darüber hinaus kleinere Kurierdienste für die Leipziger Widerstandsgruppe seines Vaters (Schumann-Engert-Kresse-Gruppe) übernommen. Ab 1938 absolvierte S. eine Klaviermacherlehre in Leipzig und arbeitete anschließend in einer Klavierhandlung im schlesischen Glatz (poln. Kłodzko). 1943 erfolgten die Einberufung zur Wehrmacht und der Einsatz als Infanterie- und Panzerjäger bzw. Grenadier. Noch in den letzten Kriegsmonaten wurde S.s Vater aufgrund seiner Tätigkeit im Widerstand hingerichtet. Nach Kriegsende geriet S. zunächst kurzzeitig in amerikanische und sowjetische Kriegsgefangenschaft und suchte nach seiner Entlassung im Juli 1945 beruflichen Anschluss in Leipzig. Seiner ideologischen Prägung folgend, schloss er sich der KPD-Unterbezirksleitung Leipzig an, die ihm zunächst eine Betätigung im Rat der Stadt verschaffte. Bald aber nutzte die SED das symbolische Kapital, mit dem der 22-Jährige als Sohn eines altgedienten KPD-Funktionärs und Widerstandskämpfers behaftet war und lenkte seine berufliche Zukunft in den sozialistischen Jugendapparat. 1947 wurde S. bereits Kreisleiter der FDJ in Leipzig und schon vier Jahre später agierte er, nach dem Besuch der Parteihochschule des ZK der SED „ Karl Marx“ in Kleinmachnow, der höchsten Bildungsstätte der SED, als 1. Sekretär der FDJ-Landesleitung Sachsen. So sehr Vorgesetzte immer wieder seine agitatorischen Fähigkeiten und seine Vorbildwirkung lobten, so wenig Durchsetzungskraft wurde ihm zugleich nachgesagt. Zu einer besonders kritischen Einschätzung kam Helmut Hartwig, 2. Sekretär des Zentralrats der FDJ, der ihm Oberflächlichkeit, fehlende Ausdauer, Ängstlichkeit und unzureichende Menschenkenntnis attestierte, was er auf die „Verwöhnung durch die Gen[ossen] in Leipzig“ zurückführte. Ob es an der Häufung entsprechender Kritiken lag (auch Paul Fröhlich äußerte sich 1953 in ähnlicher Weise), dass S. 1953 zunächst als Sektorenleiter ins ZK der SED wechselte und 1956 zu Schulungszwecken auf die Parteihochschule des ZK der KPdSU nach Moskau geschickt wurde, lässt sich nicht zweifelsfrei ermitteln. Eine weitere Wertschätzung durch die SED-Führung erlangte S. jedoch im Rahmen der Parteisäuberungen des Jahres 1958 mit der Ernennung zum Kandidaten und im Jahr darauf zum Mitglied des ZK der SED. – Am Ende der 1950er-Jahre hegte S. persönliche Ambitionen auf eine Karriere im Parteiapparat, die SED war hingegen vordergründig an dessen Vorbildwirkung im Jugendapparat interessiert und berief ihn 1959 zum Vorsitzenden des Zentralrats der FDJ. Hier löste er Karl Namokel ab, der wenig Geschick auf dem Gebiet der Jugendarbeit bewiesen hatte. Eigene Akzente setzte S. in der FDJ nicht, jedoch erwies er sich als loyaler Gefolgsmann Walter Ulbrichts. Einen Widersacher fand S. allerdings in Honecker, mit dem er bereits während dessen FDJ-Zeit (Vorsitzender des Zentralrates 1946-1955) aneinander geraten war. Honecker stieg in den 1960er-Jahren zum Sekretär für Sicherheitsfragen, und damit zum zweitstärksten Mann im Politbüro auf. Bald ging Honecker jedoch zunehmend auf Distanz zu Ulbricht, dem er, ebenso wie S., einst seinen Aufstieg zu verdanken hatte. So plädierte er nach dem sog. Kahlschlagplenum 1965 für eine aufmerksamere Jugendpolitik, und es ist wohl auch auf seine Initiative zurückzuführen, dass S. 1967 durch Günther Jahn ersetzt wurde. S. wurde zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Staatsrat der DDR versetzt, aber schon 1969, gemäß seinem früheren Wunsch, zum 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung Leipzig berufen. Nach dem plötzlichen Tod Paul Fröhlichs am 19.9.1970 wurde S. erwartungsgemäß 1. Sekretär und nahm damit eine Schlüsselstellung im Verhältnis zwischen Zentrale und Bezirk ein. Sein Wechsel in den Leipziger Parteiapparat wurde an der Basis allerdings mit gemischten Gefühlen betrachtet. S. galt zwar als ausgesprochener „Ulbricht-Mann“, die Durchsetzungsfähigkeit, mit der sein Vorgänger Fröhlich den Leipziger Bezirk im Politbüro vertreten hatte, traute man S. jedoch wegen seines zaghaften Charakters nicht ohne weiteres zu. Der Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker im Mai 1971 verschlechterte die Stellung S.s weiter. Zwar wurde er, wie der Großteil seiner Kollegen, nicht abgelöst, aber es gelang ihm kaum noch, sich in Berlin Gehör zu verschaffen. S. wurde nur noch selten ins ZK zitiert und auch bei den Messerundgängen der Staats- und Parteiführung war die Distanz zwischen Honecker und ihm sichtbar. Auch lassen sich Hinweise auf informelle Beratungen, die das Verhältnis von Fröhlich und Ulbricht gekennzeichnet hatten, für S. und Honecker nicht mehr nachweisen. Im Gegenteil brachte ihm Honecker geduldige Ignoranz entgegen, als S. etwa bei einer Konferenz des Generalsekretärs mit den 1. Sekretären der SED-Bezirksleitungen am 15.11.1972 über wirtschaftliche Probleme des Leipziger Bezirks sprach und erfolglos an das „Republikinteresse“ der Staats- und Parteiführung an der zweitgrößten Stadt der DDR appellierte. – In der Kommune wiederum hielt sich S. mit persönlichen Eingriffen in bestehende Strukturen zurück. Für entsprechende Aktionen fehlte es ihm an Rückhalt im zentralen Parteiapparat. Anders als Fröhlich, der als Mitglied des Politbüros über die Stimmungslagen im inneren Machtzirkel der SED zu jeder Zeit bestens informiert war, konnte S. auf derartige Informationsvorsprünge nicht mehr zurückgreifen. S. mahnte lokale Funktionäre höchstens in einzelnen Fällen persönlich ab und bemühte sich darum, Probleme im Bezirk schnell und möglichst ohne Aufsehen sowie unter strenger Einhaltung des Dienstwegs zu lösen, sofern die Konflikte über den Bezirk hinaus strahlten. Auch Parteistrafen setzte er weniger als Mittel der Bestrafung, sondern vielmehr als symbolische Maßnahme zur parteiinternen Disziplinierung ein, deren Wirksamkeit sicherlich angezweifelt werden dürfte. Das schlechte Verhältnis zu Honecker wurde durch den wirtschaftlichen Bedeutungsverlust des Leipziger Bezirks gegen Ende der 1970er-Jahre noch mehr getrübt. Insbesondere durch die ab 1977 forciert betriebene Entwicklung der Mikroelektronik, Chemie und Metallurgie geriet der Bezirk Leipzig zunehmend aus dem Fokus der staatlichen Wirtschaftsplanung. S.s Ablösung als 1. Sekretär erfolgte schließlich im Rahmen der allgemeinen personellen Veränderungen im SED-Apparat während der Friedlichen Revolution im Herbst 1989. Bereits am Tag nach dem Sturz Honeckers forderte Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann während der 9. Tagung des ZK am 18.10.1989 die Absetzung S.s. Zwei Tage später beschloss das Politbüro, nun unter Egon Krenz, S. durch Roland Wötzel zu ersetzen, der als reformorientiert galt und sich am Aufruf der „Leipziger Sechs“ zum Gewaltverzicht bei der Großdemonstration am 9.10.1989 in Leipzig beteiligt hatte. Damit wurde zugleich Helmut Hackenberg umgangen, der als 2. Sekretär S. regulär nachgefolgt wäre. S. sollte offiziell aus gesundheitlichen Gründen ausscheiden und von Krenz mit der Verleihung des Ordens „Held der Arbeit“ auf einer Tagung der SED-Bezirksleitung verabschiedet werden. Eine Woche später informierte Krenz beide betreffende Sekretäre in einem internen Gespräch über ihre politische Zukunft. Die offizielle Verabschiedung S.s, die dieser zur persönlichen Abrechnung mit der Parteiführung nutzte, erfolgte am 5.11.1989. Er wurde infolge der politischen Wende am 5.5.1990 noch von der Bezirksstaatsanwaltschaft Leipzig wegen Anstiftung zur Wahlfälschung bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 angeklagt, jedoch kam sein Tod einer möglichen Verurteilung zuvor. – Für sein Wirken im SED-Parteiapparat wurde S. vielfach ausgezeichnet, er erhielt u.a. den Vaterländischen Verdienstorden und 1984 den Karl-Marx-Orden.

Quellen Bundesarchiv Berlin, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO), DY 30/IV 2/11/v. 5475 (Kaderakte Horst S.), DY 30/J IV 2/2A/1470, Bl. 6, DY 30/IV 2/1.01/463, Bl. 117-127, DY 30/J IV 2/2A/3250, Bl. 21, 121f.; Bundesbehörde für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der Deutschen Demokratischen Republik, MfS, BV Lpz. AKG 00316, Bl. 111-117.

Literatur K. Kühn, Georg Schumann. Eine Biographie, Berlin 1965; Neues Deutschland 6.11.1989, S. 2; U. Mählert/G.-R. Stephan, Blaue Hemden, rote Fahnen. Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend, Opladen 1996; H.-H. Hertle/G.-R. Stephan (Hg.), Das Ende der SED. Die letzten Tage des Zentralkomitees, Berlin 1997, S. 126; A. McDougall, Youth politics in East Germany. The Free German Youth movement 1946-1968, Oxford 2004; M. Niemann, Die Sekretäre der SED-Bezirksleitungen 1952-1989, Paderborn/München/Wien 2007; U. Lehmann-Grube, Als ich von Deutschland nach Deutschland kam. Leipziger Tagebuch 1990/91, Leipzig 2009, S. 192. – DBA III; H. Müller-Enbergs u.a. (Hg.), Wer war wer in der DDR?, Bd. 2, Berlin 52010, S. 1198; M. Niemann/A. Herbst (Hg.), SED-Kader. Die mittlere Ebene. Biographisches Lexikon der Sekretäre der Landes- und Bezirksleitungen, der Ministerpräsidenten und der Vorsitzenden der Räte der Bezirke 1946 bis 1989, Paderborn u.a. 2010, S. 450f.

Porträt Horst S., Fotografie, Sächsisches Staatsarchiv - Staatsarchiv Leipzig, 21696 SED, Sammlung Fotos, Porträtarchiv, Horst S. (Sch 007, Bildquelle).

Christian Rau
5.6.2015


Empfohlene Zitierweise:
Christian Rau, Artikel: Horst Schumann,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/9974 [Zugriff 26.11.2024].

Horst Schumann



Quellen Bundesarchiv Berlin, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO), DY 30/IV 2/11/v. 5475 (Kaderakte Horst S.), DY 30/J IV 2/2A/1470, Bl. 6, DY 30/IV 2/1.01/463, Bl. 117-127, DY 30/J IV 2/2A/3250, Bl. 21, 121f.; Bundesbehörde für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der Deutschen Demokratischen Republik, MfS, BV Lpz. AKG 00316, Bl. 111-117.

Literatur K. Kühn, Georg Schumann. Eine Biographie, Berlin 1965; Neues Deutschland 6.11.1989, S. 2; U. Mählert/G.-R. Stephan, Blaue Hemden, rote Fahnen. Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend, Opladen 1996; H.-H. Hertle/G.-R. Stephan (Hg.), Das Ende der SED. Die letzten Tage des Zentralkomitees, Berlin 1997, S. 126; A. McDougall, Youth politics in East Germany. The Free German Youth movement 1946-1968, Oxford 2004; M. Niemann, Die Sekretäre der SED-Bezirksleitungen 1952-1989, Paderborn/München/Wien 2007; U. Lehmann-Grube, Als ich von Deutschland nach Deutschland kam. Leipziger Tagebuch 1990/91, Leipzig 2009, S. 192. – DBA III; H. Müller-Enbergs u.a. (Hg.), Wer war wer in der DDR?, Bd. 2, Berlin 52010, S. 1198; M. Niemann/A. Herbst (Hg.), SED-Kader. Die mittlere Ebene. Biographisches Lexikon der Sekretäre der Landes- und Bezirksleitungen, der Ministerpräsidenten und der Vorsitzenden der Räte der Bezirke 1946 bis 1989, Paderborn u.a. 2010, S. 450f.

Porträt Horst S., Fotografie, Sächsisches Staatsarchiv - Staatsarchiv Leipzig, 21696 SED, Sammlung Fotos, Porträtarchiv, Horst S. (Sch 007, Bildquelle).

Christian Rau
5.6.2015


Empfohlene Zitierweise:
Christian Rau, Artikel: Horst Schumann,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/9974 [Zugriff 26.11.2024].