Joseph Partsch

1905 folgte P. einem Ruf auf den Leipziger Lehrstuhl für Geografie als Nachfolger des im vorhergehenden Jahr unerwartet verstorbenen Friedrich Ratzel. Damit kam ein Wissenschaftler nach Sachsen, dessen Lebens- und Forschungsschwerpunkt zuvor in erster Linie in Schlesien gelegen hatte. – P. wuchs am Fuß des Riesengebirges auf und besuchte das katholische Matthias-Gymnasium in Breslau (poln. Wrocław), wo er 1869 als Primus das Reifezeugnis erhielt. Im selben Jahr begann er an der Breslauer Universität das Studium der Klassischen Philologie und Geografie. Besonders Carl Neumann, Professor für Alte Geschichte und Geografie, faszinierte den jungen P. und wurde entscheidend für seinen weiteren beruflichen Werdegang. 1874 wurde P. mit der Dissertation „Africae veteris itineraria explicantur et emendantur“ promoviert, und bereits im darauffolgenden Jahr habilitierte er sich mit der Arbeit „Die Darstellung Europa’s in dem geographischen Werke Agrippas“. 1876 erhielt er die Ernennung zum Extraordinarius für Alte Geschichte und Geografie in Breslau. Da P. sich allein der Geografie widmen wollte, musste er bis 1884 warten, ehe ihm das neu geschaffene Ordinariat übertragen wurde. Inzwischen hatte sich P. zu einem international anerkannten Geografen profiliert. Seine Forschungen konzentrierten sich v.a. auf vier, sich teilweise überlappende Bereiche: die Geografie der Antike, die regionale Geografie Griechenlands, die Geomorphologie und die schlesische Landeskunde. – Die beiden akademischen Qualifizierungsarbeiten hatten deutlich gemacht, dass sich P. in der Tradition seines Lehrers Neumann sah. Die Verbindung von Alter Geschichte und Geografie beschäftigte ihn zeitlebens und fand ihren Ausdruck in zahlreichen Veröffentlichungen zur „alten Geografie“. In engem Zusammenhang damit stand die regionale Geografie Griechenlands. Beruhte die Fertigstellung von Neumanns Kollegmanuskript „Physikalische Geographie Griechenlands“ (1885) noch auf reinem Literaturstudium, so lernte P. das Land auf mehreren Reisen seit 1886 persönlich kennen. Ergebnisse dieser Forschungsreisen waren Insel-Monografien über Korfu (1887), Leukas (1889) sowie Kephallenia und Ithaka (1890). Lagen diese Themen zur antiken Geografie und zur Landeskunde Griechenlands eher außerhalb der Hauptströmungen der Geografie am Ende des 19. Jahrhunderts, so trug P. auch Wesentliches zur damaligen Leitdisziplin der Geografie, der Geomorphologie, bei. Besonders beschäftigten ihn Themen des glazialen und periglazialen Formenschatzes in Mitteleuropa und die Frage nach den pleistozänen Vereisungen der Mittelgebirge. Durch intensives Literaturstudium sowie eigene Feldforschungen auf Reisen und Wanderungen durch die Alpen, das Riesengebirge und andere Mittelgebirge trug P. zur Klärung offener Forschungsfragen entscheidend bei. Bereits 1878 war ihm der Nachweis von Moränen im Riesengebirge gelungen, seine zusammenfassenden Arbeiten „Die Gletscher der Vorzeit in den Karpathen und in den Mittelgebirgen Deutschlands“ (1882) sowie „Die Vergletscherung des Riesengebirges in der Eiszeit“ (1894) bildeten die Krönung seiner Glazialforschungen und gelten bis heute als klassische Studien zur Quartärgeologie. Regional rückte neben Griechenland P.s Heimatprovinz Schlesien mehr und mehr in sein Forschungsinteresse. Zu zahlreichen Themen Schlesiens nahm er Stellung, neben der Glazialmorphologie beschäftigten ihn v.a. die Klimageografie, die Meteorologie und die Hydrografie, aber auch die Stadtgeografie Breslaus, die Verkehrsgeografie und die politische Geografie der preußischen Grenzprovinz. Wenn P. heute als „der“ Geograf Schlesiens gilt, dann liegt dies v.a an seiner groß angelegten Landeskunde Schlesiens, die in Lieferungen zwischen 1896 und 1911 erschien. Dieses Werk, dessen Untertitel „Eine Landeskunde für das deutsche Volk auf wissenschaftlicher Grundlage“ für P. Programm war, galt und gilt als Idealtypus einer komplexen Landeskunde. Sein zweites berühmtes Werk, das ihn auch international bekannt machte, entstand ebenfalls noch in seiner Breslauer Zeit: Im Auftrag des Briten Halford J. Mackinder schrieb er eine Länderkunde „Mitteleuropa“, die 1903 in englischer und 1904 in deutscher Sprache erschien. – Der Wechsel von Breslau nach Leipzig 1905, wo er bis 1922 lehrte, bedeutete keine Zäsur im Forschungsspektrum. Nach wie vor widmete sich P. der historischen Geografie des Altertums, der Geomorphologie und der Landeskunde Schlesiens. Mit seiner neuen Heimat Sachsen bzw. Mitteldeutschland beschäftigte er sich hingegen wissenschaftlich auffallend wenig. Auch führten die weitaus größeren Beanspruchungen durch die Doppelbelastung in der Lehre (Universität und Handelshochschule) und die öffentlichen Pflichten in Leipzig zu einem deutlichen Rückgang seiner Veröffentlichungstätigkeit. Die Ereignisse des Ersten Weltkriegs verarbeitete er in mehreren länderkundlichen Schriften über die Kriegsschauplätze; nach der Niederlage des Deutschen Reichs setzte er sich mit ganzer Kraft für den Erhalt der Einheit Oberschlesiens ein. Doch sowohl in seinen „kriegsgeografischen“ Arbeiten als auch in seinen politisch-geografischen Nachkriegspublikationen behielt P. ein abwägendes Urteil. Trotz seiner deutsch-nationalen Grundhaltung enthielt sich P. aller annexionistischen, nationalistischen oder gar rassistischen Töne und hob sich dadurch von vielen seiner Kollegen ab. – Zahlreiche Ehrungen wurden P. zu Lebzeiten zuteil. Bereits seit 1884 gehörte er der Sächsischen Akademie der Wissenschaften als korrespondierendes Mitglied an; der Verein für Erdkunde zu Dresden wählte ihn 1900 zum Ehrenmitglied. In Leipzig erwarb er sich große Verdienste in der akademischen Lehre und betreute allein 50 Dissertationen, ohne allerdings eine eigene „Schule“ zu begründen. P. förderte 1910 die Gründung eines „Vereins der Geographen an der Universität Leipzig“ und leitete mehrfach als Präsident die „Gesellschaft für Erdkunde zu Leipzig“, die ihn 1911 zu ihrem Ehrenmitglied wählte. Ein letztes Mal stand P. im Mittelpunkt der Fachöffentlichkeit, als er 1921 in Leipzig zum zweiten Mal (nach Breslau 1901) als Vorsitzender des Ortsausschusses einen Deutschen Geografentag organisierte. – Seine Mittlerfunktion zwischen Deutschen und Polen fand nach 1990 eine Würdigung durch die Anbringung einer Gedenktafel an seinem Geburtshaus und in zwei internationalen Tagungen 1994 in Szklarska Poręba (Schreiberhau) und 2002 in Leipzig.

Quellen G. Engelmann, Briefe Albrecht Pencks an Joseph P., in: Wissenschaftliche Veröffentlichungen des Deutschen Instituts für Länderkunde Leipzig N.F. 17/18/1960, S. 17-107; Abschrift des Findbuchs Joseph P. im Archiv für Geographie, in: H. P. Brogiato/A. Mayr (Hg.), Joseph P. - Wissenschaftliche Leistungen und Nachwirkungen in der deutschen und polnischen Geographie, Leipzig 2002, S. 201-229.

Werke Kleine Landeskunde der Provinz Schlesien, Breslau 1889, 81918; Philipp Clüver, der Begründer der historischen Länderkunde, Wien 1891; Die Schutzgebiete des Deutschen Reiches, Berlin 1893; Die Regenkarte Schlesiens und der Nachbargebiete, Stuttgart 1895; Ägyptens Bedeutung für die Erdkunde, Leipzig 1905; Des Aristoteles Buch „Über das Steigen des Nil“, Leipzig 1909; Der östliche Kriegsschauplatz, Leipzig 1916; Dünenbeobachtungen im Altertum, Leipzig 1917; Der Bildungswert der politischen Geographie, Berlin 1919; Die Stromgabelungen der Argonautensage, Leipzig 1919; Palmyra, eine historisch-klimatische Studie, Leipzig 1922; Die Hohe Tatra zur Eiszeit, Leipzig 1923; P., Joseph - Die Geographie des Welthandels, hrsg. von R. Reinhard, Leipzig 1927.

Literatur Mitteilungen des Vereins der Geographen an der Universität Leipzig 1/1911 (Festschrift zu P.s 60. Geburtstag); H. Waldbaur (Hg.), P., Joseph: Aus fünfzig Jahren, Breslau 1927 (WV); H. Overbeck, Joseph P.s Beitrag zur landeskundlichen Forschung, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 12/1953/55, H. 1, S. 34-56; A. Kostrzewski/H. Hagedorn (Hg.), Vergletscherungen in europäischen Mittelgebirgen, Berlin/Stuttgart 1999; H. P. Brogiato/A. Mayr (Hg.), Joseph P. - Wissenschaftliche Leistungen und Nachwirkungen in der deutschen und polnischen Geographie, Leipzig 2002 (WV, P); H. P. Brogiato, Joseph P. (1851-1925) - erster Ordinarius für Geographie an der Universität Breslau, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 42-44/2001-2003, S. 327-344. – DBA I, II, III; DBE 7, S. 566; NDB 20, S. 76f.; E. Banse, Banse’s Lexikon der Geographie, Bd. 2, Braunschweig 1923, S. 281f.; J. C. Poggendorff, Biographisch-Literarisches Handwörterbuch der exakten Naturwissenschaften, Bd. 6, T. 3, Berlin 1938, S. 1954f., Bd. 7a, T. 3, Berlin 1959, S. 506 (WV); W. Tietze (Hg.), Westermann-Lexikon der Geographie, Bd. 3, Braunschweig 1970, S. 770f.; W. Killy (Hg.), Literatur-Lexikon, Bd. 9, Mannheim 1991, S. 83f.; Encyclopedia Wrocławia, Wroclaw 2001, S. 621 (P); E. Brunotte u.a. (Hg.), Lexikon der Geographie in vier Bänden, Bd. 3, Heidelberg/Berlin 2002, S. 27.

Porträt Leibniz-Institut für Länderkunde Leipzig, Porträtsammlung sächsischer Geografen (Bildquelle).

Heinz Peter Brogiato
26.10.2005


Empfohlene Zitierweise:
Heinz Peter Brogiato, Artikel: Joseph Partsch,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/3102 [Zugriff 28.3.2024].

Joseph Partsch



Quellen G. Engelmann, Briefe Albrecht Pencks an Joseph P., in: Wissenschaftliche Veröffentlichungen des Deutschen Instituts für Länderkunde Leipzig N.F. 17/18/1960, S. 17-107; Abschrift des Findbuchs Joseph P. im Archiv für Geographie, in: H. P. Brogiato/A. Mayr (Hg.), Joseph P. - Wissenschaftliche Leistungen und Nachwirkungen in der deutschen und polnischen Geographie, Leipzig 2002, S. 201-229.

Werke Kleine Landeskunde der Provinz Schlesien, Breslau 1889, 81918; Philipp Clüver, der Begründer der historischen Länderkunde, Wien 1891; Die Schutzgebiete des Deutschen Reiches, Berlin 1893; Die Regenkarte Schlesiens und der Nachbargebiete, Stuttgart 1895; Ägyptens Bedeutung für die Erdkunde, Leipzig 1905; Des Aristoteles Buch „Über das Steigen des Nil“, Leipzig 1909; Der östliche Kriegsschauplatz, Leipzig 1916; Dünenbeobachtungen im Altertum, Leipzig 1917; Der Bildungswert der politischen Geographie, Berlin 1919; Die Stromgabelungen der Argonautensage, Leipzig 1919; Palmyra, eine historisch-klimatische Studie, Leipzig 1922; Die Hohe Tatra zur Eiszeit, Leipzig 1923; P., Joseph - Die Geographie des Welthandels, hrsg. von R. Reinhard, Leipzig 1927.

Literatur Mitteilungen des Vereins der Geographen an der Universität Leipzig 1/1911 (Festschrift zu P.s 60. Geburtstag); H. Waldbaur (Hg.), P., Joseph: Aus fünfzig Jahren, Breslau 1927 (WV); H. Overbeck, Joseph P.s Beitrag zur landeskundlichen Forschung, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 12/1953/55, H. 1, S. 34-56; A. Kostrzewski/H. Hagedorn (Hg.), Vergletscherungen in europäischen Mittelgebirgen, Berlin/Stuttgart 1999; H. P. Brogiato/A. Mayr (Hg.), Joseph P. - Wissenschaftliche Leistungen und Nachwirkungen in der deutschen und polnischen Geographie, Leipzig 2002 (WV, P); H. P. Brogiato, Joseph P. (1851-1925) - erster Ordinarius für Geographie an der Universität Breslau, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 42-44/2001-2003, S. 327-344. – DBA I, II, III; DBE 7, S. 566; NDB 20, S. 76f.; E. Banse, Banse’s Lexikon der Geographie, Bd. 2, Braunschweig 1923, S. 281f.; J. C. Poggendorff, Biographisch-Literarisches Handwörterbuch der exakten Naturwissenschaften, Bd. 6, T. 3, Berlin 1938, S. 1954f., Bd. 7a, T. 3, Berlin 1959, S. 506 (WV); W. Tietze (Hg.), Westermann-Lexikon der Geographie, Bd. 3, Braunschweig 1970, S. 770f.; W. Killy (Hg.), Literatur-Lexikon, Bd. 9, Mannheim 1991, S. 83f.; Encyclopedia Wrocławia, Wroclaw 2001, S. 621 (P); E. Brunotte u.a. (Hg.), Lexikon der Geographie in vier Bänden, Bd. 3, Heidelberg/Berlin 2002, S. 27.

Porträt Leibniz-Institut für Länderkunde Leipzig, Porträtsammlung sächsischer Geografen (Bildquelle).

Heinz Peter Brogiato
26.10.2005


Empfohlene Zitierweise:
Heinz Peter Brogiato, Artikel: Joseph Partsch,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/3102 [Zugriff 28.3.2024].