Moritz Wieruszowski

Als Vorsitzender des Gemeindevorstands führte Moritz Daniel Wieruszowski die Synagogen-Gemeinde zu Görlitz 35 Jahre lang von ihren bescheidenen Anfängen 1849 bis zu einer ersten Blütezeit. Ausgestattet mit einem breiten religiösen und säkularen Wissen war er dem Judentum eng verbunden, besaß aber auch den richtigen Blick für die Erfordernisse der Zeit. – Wieruszowski war der Sohn des Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde von Kempen (poln. Kępno) bei Posen (poln. Poznań), Daniel Wieruszowski. In Berichten aus seiner Kindheit heißt es, Wieruszowski habe dem bekannten Posener Rabbiner Akiba Eger „zu Füßen gesessen“ - nicht um selbst Rabbiner zu werden, sondern um sich gründliche Kenntnisse des Talmuds anzueignen. Während seines frühen Erwachsenenalters in Kempen wurde Wieruszowski ein eifriger Student der Reformbewegung des Judentums. Am 1.12.1835 heiratete Wieruszowski Helene Henschel, die Tochter des Kempener Rabbiners Abraham Löbel Henschel. – Kempen sollte sich für den ehrgeizigen Wieruszowski als zu klein erweisen. Es wird erzählt, dass er sich nach einem Ort sehnte, an dem er eine Führungsrolle bei der Gründung einer Gemeinde übernehmen könnte. Schließlich entschied er sich mit seiner bereits kinderreichen jungen Familie Kempen zu verlassen. Wieruszowski wie auch seine Schwester Rosalie mit ihrer Familie wählten Görlitz in der damaligen preußischen Provinz Niederschlesien zu ihrer neuen Heimat, wo sich seit 1847 erstmals seit dem 14. Jahrhundert wieder Juden niederlassen durften, nachdem die Wohnsitzbeschränkungen durch die preußische Gesetzgebung - trotz des Widerstands des Görlitzer Magistrats - aufgehoben worden waren. – Dem Nachruf auf Wieruszowski zufolge war dieser 35 Jahre lang der erste Vorsitzende der neu gegründeten jüdischen Gemeinde in Görlitz. Jubiläumsfeierlichkeiten zu seinen Ehren 1874 gingen von dem Beginn seiner Amtszeit am 5.12.1849 aus. In den Görlitzer Adressbüchern erscheint Wieruszowski zum ersten Mal 1852, als sein damaliger Wohnsitz wird Obermarkt 124 genannt. Bis 1862 hatte Wieruszowski seinen Wohnsitz in die Steinstraße 1 (Ecke Obermarkt) verlegt, wo sich auch sein Laden befand. Wieruszowski betrieb hier einen Stoffhandel, eine Tätigkeit, die er wahrscheinlich bereits in Kempen ausgeübt hatte. Seinen Sohn Ignatz nahm er später in die Leitung des Unternehmens auf, das nun unter dem Namen Wieruszowski & Sohn firmierte. – Dass es in Görlitz keine jüdische Religionsgemeinde gab, war für Wieruszowski nicht hinnehmbar, sodass er die Gründung einer solchen initiierte. Nach dem Vorbild von Kempen, aber unter Anpassung an die örtlichen Gegebenheiten und an die Entwicklungen der Zeit, überzeugte Wieruszowski die zwölf mittlerweile in der Region lebenden Familien in Übereinstimmung mit dem jüdischen Gesetz, einen Synagogenbezirk zu bilden, der die Bezirke Görlitz, Lauban (poln. Lubán), Rothenburg/Oberlausitz und Hoyerswerda umfasste, wodurch die Gemeinde eine feste Grundlage erhielt und sich unter Wieruszowskis Leitung sowohl nach innen als auch nach außen positiv entwickeln konnte. – Zu Beginn organisierte Wieruszowski die Gottesdienste in einem Raum in der Nikolaistraße 10. Er half der jungen Gemeinde auch dabei, das Grundstück in der Biesnitzer Straße zu erwerben, auf dem später der Jüdische Friedhof entstand. 1853 weihte die Gemeinde unter Wieruszowskis Führung ihre erste Synagoge zwischen Obermarkt und Langenstraße ein, die sich auf dem Gelände des Hinterhofs des Gasthofs „Zum weißen Roß“ befand. Drei Jahre später gelang es Wieruszowski, mit Rabbiner Siegfried Freund einen ebenso fähigen Redner wie geschätzten Religionslehrer für die Gemeinde zu gewinnen. 1864 wurde Wieruszowski in den Görlitzer Stadtrat gewählt, wo er entscheidenden Einfluss auf die Schulangelegenheiten nahm. Als Bürger von Görlitz war Wieruszowski in zahlreichen lokalen Vereinen aktiv, darunter bei den Freimaurern (denen er seit 1863 angehörte) und der Naturforschenden Gesellschaft zu Görlitz. – Aufgrund des schnellen Wachstums der jüdischen Gemeinde handelte Wieruszowski im April 1869 einen Vertrag mit dem Besitzer des Gasthofs „Zum weißen Roß“ aus und erlangte im Anschluss die Zustimmung der jüdischen Gemeinde zu einer starken Vergrößerung der bestehenden Synagoge. Bereits am 23.1.1870 konnte die Synagoge nach dem Umbau feierlich wiedereröffnet werden. Während der Bauzeit und zu den Eröffnungsfeierlichkeiten soll Wieruszowski außerordentliches Engagement und Enthusiasmus an den Tag gelegt haben. Im Anschluss an die Feierlichkeiten ehrte ihn die jüdische Gemeinde eine Woche später mit einem internen Festakt. Rabbiner Freund, der Vorstand der Synagoge und die Gemeindevertreter kamen zusammen, um ein Zeichen ihres großen Danks und der Anerkennung für Wieruszowskis Verdienste um die Gemeinde zu setzen. Bei der Zeremonie enthüllten sie ein Porträt Wieruszowskis, das von einem Dresdner Maler angefertigt worden war. Leider ist der Verbleib dieses Kunstwerks, das viele Jahre lang in der Synagoge hing, unbekannt. – Am 5.12.1874 wurde Wieruszowski anlässlich seines 25-jährigen Jubiläums als Vorsteher der Synagogen-Gemeinde zu Görlitz mit einer großen Veranstaltung zu Chanukka geehrt, an der die gesamte Gemeinde teilnahm. Im Anschluss an die Predigt in der Synagoge, bei der der Rabbiner Freund auf den Anlass der Feier einging, verlagerten sich die Feierlichkeiten in Wieruszowskis Haus Demianiplatz 21. Der Vorstand der Synagogen-Gemeinde überreichte ihm dort einen silbernen Pokal, bevor der Rabbiner Freund in einer Rede seine Verdienste um die Gründung der örtlichen jüdischen Gemeinde und seine Zielstrebigkeit und seinen Mut bei allem seinem Tun hervorhob. Wieruszowski zu Ehren kündigte die Gemeinde eine Spende von 100.000 Talern an, die zur Gründung der Wieruszowski-Stiftung verwendet wurde. Diese sollte auch über den Tod Wieruszwoskis hinaus junge jüdische Studenten unterstützen, die finanzielle Hilfe benötigten, um ihre Ausbildung fortzusetzen. – 1874 übergab Wieruszowski die Leitung seines Unternehmens an zwei seiner Söhne, Joseph und Ignatz. Als Vorsteher der jüdischen Gemeinde und als Mitglied des Görlitzer Stadtrats blieb er weiterhin tätig. Am 18.9.1884, im Alter von 68 Jahren, erlitt Wieruszowski einen Schlaganfall. Die Anerkennung und Wertschätzung für ihn drückte sich in der Anteilnahme der Gemeindemitglieder aus, die ihn während seines kurzen Krankenhausaufenthalts aufsuchten, bis er vier Tage nach dem Schlaganfall verstarb. An Wieruszowskis Beerdigung nahmen der gesamte Gemeindevorstand und die Vertreter der Synagoge sowie fast die gesamte jüdische Gemeinde teil. Darüber hinaus waren die städtischen Behörden und die Beamten des Amtsgerichts, eine große Anzahl der Stadträte sowie ein großer Kreis von Freunden aller Konfessionen anwesend, deren Respekt und Bewunderung Wieruszowskis durch seinen Charakter, seine Menschlichkeit und seine Güte erworben hatte. – Als ein lebenslanger Förderer der Bildung und Sammler von Literatur stiftete Wieruszowski seine bedeutende hebräische Bibliothek der Synagogen-Gemeinde zu Görlitz. Er wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Görlitz begraben.

Quellen Stadtarchiv Mainz, Best. 50 Zivilstands- und Personenstandwesen ab 1798, Zgg. 2009/1 Heiratsregister Mainz 1892, Bd. 2, Nr. 404; Landesarchiv Berlin, P Rep. 160 Standesamt Schöneberg I, Heiratsregister 1894, Nr. 176, P Rep. 161 Standesamt Schöneberg II, Sterberegister 1918, Nr. 514, P Rep. 830 Standesamt Wedding, Sterbebuch 1945, Bd. 1, Nr. 743, P Rep. 710 Standesamt Lankwitz, Sterberegister 1911, Nr. 135 (Ancestry.de); Siegfried Freund, Rede bei der Todten-Feier für Herrn M. Wieruszowski ersten Vorsteher der Synagogengemeinde gehalten in der Synagoge zu Görlitz den 25. September 1884 … Zur Erinnerung für Verwandte und Freunde, Görlitz 1884; Allgemeine Zeitung des Judenthums 46/1882, Nr. 8, S. 128; Adressbücher der Stadt Görlitz 1852, 1862.

Literatur Isidor Kasten, Alt-Kempen. Eine Kulturskizze aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, in: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 25/1923/1924, S. 81; Chronik und Personenstandsregister der Synagogen-Gemeinde Görlitz 1864-1932, hrsg. von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Görlitz e.V., 2008 [Bundesarchiv Berlin].

Lauren Leiderman
29.8.2025


Empfohlene Zitierweise:
Lauren Leiderman, Artikel: Moritz Wieruszowski,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27937 [Zugriff 6.9.2025].

Moritz Wieruszowski



Quellen Stadtarchiv Mainz, Best. 50 Zivilstands- und Personenstandwesen ab 1798, Zgg. 2009/1 Heiratsregister Mainz 1892, Bd. 2, Nr. 404; Landesarchiv Berlin, P Rep. 160 Standesamt Schöneberg I, Heiratsregister 1894, Nr. 176, P Rep. 161 Standesamt Schöneberg II, Sterberegister 1918, Nr. 514, P Rep. 830 Standesamt Wedding, Sterbebuch 1945, Bd. 1, Nr. 743, P Rep. 710 Standesamt Lankwitz, Sterberegister 1911, Nr. 135 (Ancestry.de); Siegfried Freund, Rede bei der Todten-Feier für Herrn M. Wieruszowski ersten Vorsteher der Synagogengemeinde gehalten in der Synagoge zu Görlitz den 25. September 1884 … Zur Erinnerung für Verwandte und Freunde, Görlitz 1884; Allgemeine Zeitung des Judenthums 46/1882, Nr. 8, S. 128; Adressbücher der Stadt Görlitz 1852, 1862.

Literatur Isidor Kasten, Alt-Kempen. Eine Kulturskizze aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, in: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 25/1923/1924, S. 81; Chronik und Personenstandsregister der Synagogen-Gemeinde Görlitz 1864-1932, hrsg. von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Görlitz e.V., 2008 [Bundesarchiv Berlin].

Lauren Leiderman
29.8.2025


Empfohlene Zitierweise:
Lauren Leiderman, Artikel: Moritz Wieruszowski,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27937 [Zugriff 6.9.2025].